Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 11.07.2008

LSG NRW: versorgung, rollstuhl, wohnung, luft, spaziergang, ausstattung, verfügung, freibetrag, aneignung, handelsschule

Landessozialgericht NRW, L 5 B 47/08 KR
Datum:
11.07.2008
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
5. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 5 B 47/08 KR
Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 9 KR 122/08
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts
Köln vom 28.04.2008 geändert. Dem Kläger wird für das Verfahren vor
dem Sozialgericht Köln für die Zeit ab 02.04.2008 (Eingang der
Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nebst
Anlagen) Prozesskostenhilfe ohne Kostenbeteiligung bewilligt und
Rechtsanwalt N, Bad N, beigeordnet. Kosten sind im
Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe:
1
I.
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Der unter einer Tetraspastik infolge eines frühkindlichen Hirnschadens leidende und mit
einem Aktivrollstuhl ausgestattete Kläger begehrt die Versorgung mit einem
Elektrozuggerät ("Speedy-Elektra 2"). Das Sozialgericht hat den Antrag auf Bewilligung
von Prozesskostenhilfe mit der Begründung abgelehnt, das beantragte
Rollstuhlzuggerät für Erwachsene sei kein Hilfsmittel i.S.d. § 33 SGB V, weil das
Fahrradfahren nicht zu den durch die Hilfsmittelversorgung zu befriedigenden
Grundbedürfnissen zähle. Es fehle deshalb an den Erfolgsaussichten der Klage
(Beschluss vom 28.04.2008, zugestellt am 30.04.2008).
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Hiergegen richtet sich die am 30.05.2008 erhobene Beschwerde.
4
II.
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Die Beschwerde ist begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Gewährung von
Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwalts.
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Nach § 73a Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit § 114 Satz 1
Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder
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nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte
Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Für die Annahme einer hinreichenden Erfolgsaussicht genügt eine gewisse
Erfolgswahrscheinlichkeit (Keller/Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
Kommentar zum SGG, 8. Auflage 2005, § 73a, Rdn. 7, m.w.N.). Danach ist eine
hinreichende Erfolgsaussicht gegeben, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des
Antragstellers aufgrund der Sachverhaltsschilderung und der vorliegenden Unterlagen
für zutreffend oder zumindest für vertretbar hält und/oder in tatsächlicher Hinsicht von
der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist (Keller/Leitherer in: Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., Rdn. 7a). Diese Voraussetzungen sind hier zu bejahen:
Die hinreichenden Erfolgsaussichten einer Klage sind nämlich insbesondere dann
gegeben, wenn es weiterer - z.B. medizinischer - Ermittlungen be-darf, um das Bestehen
oder Nichtbestehen des Anspruchs beurteilen zu können (vgl. dazu Düring in: Jansen,
Sozialgerichtsgesetz, 2. Aufl., § 73a Rdn. 7 m.w.N.).
Mit der Klage hat der Kläger vorgetragen, dass ihm die Fortbewegung mit dem zur
Verfügung gestellten Aktivrollstuhl äußerst schwer falle und er bereits nach
Wegstrecken von etwa 50 m so erschöpft sei, dass es zu Spastiken komme, die den
gesamten Körper erfassten. Bei dieser Sachlage erscheint es nicht als von vornherein
ausgeschlossen, dass der Kläger das Elektrozuggerät - ggf. einen Elektrorollstuhl - für
den von der Beklagten zu gewährenden Basisausgleich im Bereich des Gehens
benötigt. Dieser Basisausgleich umfasst auch die Fähigkeit, die Wohnung verlassen zu
können, um bei einem kurzen Spaziergang an die frische Luft zu kommen oder um die
üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden Stellen zu erreichen, an denen
Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (vgl. dazu Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom
16.09.1999 - Az.: B 3 KR 8/98 R; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 27 und Beschluss vom
11.01.2006 - Az.: B 3 KR 44/05 B, Juris; Senat, Urteil vom 17.10.2000 - Az.: L 5 KR
84/00).
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Angesichts dessen bedarf es weiterer Ermittlungen zur Klärung der Frage, welche
Wegstrecken der Kläger mit seinem Rollstuhl tatsächlich zurückzulegen vermag. In
diesem Zusammenhang wird außerdem zu klären sein, ob mit der aktuell
durchgeführten Versorgung der Basisausgleich im Bereich des Gehens gewährleistet
ist, oder ob hierfür die Ausstattung mit einem Elektrozuggerät geeignet und erforderlich
ist. Ist der Basisausgleich im Bereich der Mobilität durch den Rollstuhl allein nicht
gewährleistet, kann auch die Versorgung mit einem Elektrozuggerät in Betracht kommen
(vgl. Senatsurteil a.a.O.), sofern dieses ebenso gut wie ein Elektrorollstuhl zum
Behinderungsausgleich geeignet ist (vgl. Senatsbeschluss vom 12.06.2008 - Az.: L 5 B
40/08 KR, unveröffentlicht). Zu berücksichtigen ist schließlich, dass sich das beantragte
Hilfsmittel als erforderlich darstellen kann, um dem Kläger, der den Berufskolleg für
Körperbehinderte - Bildungsgang: Handelsschule - besucht, die Aneignung
lebensnotwendigen Schulwissens (weiter) zu ermöglichen (vgl. Senatsurteil, a.a.O.).
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Anhaltspunkte dafür, dass die Rechtsverfolgung mutwillig erscheinen könnte, sind nicht
gegeben.
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Der Kläger ist bedürftig i.S.d. § 115 ZPO, da er wesentliches Einkommen nicht erzielt.
Sowohl das ihm gezahlte Pflegegeld als auch die Förderung nach dem BAföG werden
unmittelbar an den Berufskolleg überwiesen. Die Unterhaltsleistungen des Vaters und
das Kindergeld erreichen den Freibetrag von 382,00 Euro nicht. Ebenso wenig besteht
ein Anspruch des Klägers gegen seine Mutter auf Zahlung eines
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Prozesskostenvorschusses. Die Vertretung durch einen Rechtsanwalt ist geboten (§
121 Abs. 2 ZPO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 73a Abs.1 Satz 1 SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO.
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Der Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
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