Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 21.09.2010

LSG NRW (diabetes mellitus, antragsteller, diabetes, ernährung, einleitung des verfahrens, ausdrücklich, beschwerde, antrag, sgg, lebensmittel)

Landessozialgericht NRW, L 20 AS 1317/10 B ER
Datum:
21.09.2010
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
20. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 20 AS 1317/10 B ER
Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 15 AS 2010/10 ER
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des
Sozialgerichts Köln vom 28.06.2010 wird zurückgewiesen. Kosten sind
nicht zu erstatten.
Gründe:
1
I. Die Antragsteller begehren noch, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen
Anordnung zu verpflichten, für den Antragsteller zu 1 im Rahmen der erbrachten
Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch
Sozialgesetzbuch (SGB II) weitere Leistungen von monatlich mindestens 51,13 EUR
wegen eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung zu gewähren.
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Der 1983 geborene Antragsteller zu 1 leidet ausweislich eines Attestes des praktischen
Arztes L (Conn) vom 07.06.2010 an einem insulinpflichtigen Diabetes Mellitus Typ I.
Nach einem weiteren Attest des Arztes vom 07.07.2010 befindet sich der Antragsteller
zu 1 dort seit Jahren in hausärztlicher Betreuung. Die intensivierte Insulintherapie
erfordere mehrmals täglich Zuckermessungen und Insulingaben sowie entsprechend
auch eine Berücksichtigung der Arbeitszeit und Belastbarkeit. Eine entsprechende
diabetesadaptierte Kost sei bis auf Weiteres, wie schon bisher, erforderlich.
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Am 18.05.2010 beantragten die Antragsteller, denen zuvor mit Bescheid vom
24.03.2010 Leistungen ab dem 01.04.2010 gänzlich versagt worden waren, bei dem
Sozialgericht, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu
verpflichten, ihnen beantragte Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes,
insbesondere die regelmäßigen Leistungen der §§ 20 bis 22 SGB II, zu gewähren.
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Mit Schriftsatz vom 19.05.2010 wies die Antragsgegnerin darauf hin, dass den
Antragstellern bereits mit Bescheid vom 11.05.2010 Leistungen nach dem SGB II für die
Zeit vom 01.04. bis 30.09.2010 bewilligt worden seien. Mit Schriftsatz vom 25.05.2010
erklärten die Antragsteller den Antrag "in Höhe des nunmehr gewährten Teiles der
beantragten Leistungen für erledigt". Hinsichtlich eines Mehrbedarfs aufgrund der
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Diabeteserkrankung des Antragstellers zu 1 sei jedoch keine Erledigung eingetreten.
Beim Sozialgericht wurde das Verfahren daraufhin nur mehr als Verfahren allein des
Antragstellers zu 1 weitergeführt.
Zu dem Mehrbedarf führten die Antragsteller u.a. aus, Empfehlungen des Deutschen
Vereins für öffentliche und private Fürsorge (Deutscher Verein) für die Gewährung von
Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe aus dem Jahre 1997 seien nach wie vor
anwendbar. Denn der medizinische Kenntnisstand habe sich seither nicht verändert.
Demgegenüber litten spätere Empfehlungen des Deutschen Vereins zu dieser Frage
vom 01.10.2008 an erheblichen Begründungsmängeln. Denn die Änderung der
Empfehlungen im Jahre 2008 basiere lediglich auf der Verwendung eines anderen
Rationalisierungsschemas; die Empfehlungen aus 1997 hätten ein
Rationalisierungsschema aus 1994 verwendet, wohingegen die aktuellen
Empfehlungen ein Schema aus 2004 benutzt hätten. Das Schema aus 1994 habe u.a.
bei Diabetes bestimmte Ernährungsformen als Diätkost berücksichtigt; demgegenüber
behaupte das Schema aus 2004 wider eine herrschende Auffassung und wider die
eigenen wissenschaftlichen Grundlagen, dass es solche Kostformen nicht mehr gebe,
sondern dass eine Vollkost ausreichend sei. Allerdings führe das Schema aus 2004
selbst aus, die wirksamen Diätkomponenten nach den bisherigen Kostformen müssten
in die nunmehr propagierte Vollkost integriert werden. Damit jedoch bestätige das
Schema aus 2004 genau das, was es eigentlich ablehne, dass nämlich die bisherigen
Diätkostformen wirksame Diätkomponenten enthielten und damit keineswegs veraltet
und medizinisch überholt sein könnten. Anderenfalls bedürfe es einer Übernahme der
wirksamen Komponenten der jeweiligen Krankheitskost nicht. Das Schema aus 2004
leide zudem daran, dass die ausdrücklich genannte Notwendigkeit der Integration der
wirksamen Komponenten der bisherigen Diätkostformen in die Vollkost gar nicht
stattfinde. Denn dies würde voraussetzen, dass innerhalb des Schemas aus 2004 eine
Anpassung der Vollkost an die jeweilige Erkrankungsart vorgenommen werde derart,
dass in Anlehnung an das Schema 1994 die seinerzeit jeweils wirksam erkannten
Komponenten übernommen würden. Dies sei jedoch nicht der Fall. Das Schema aus
2004 weise insoweit unzutreffend auf Leitlinien der Deutschen Diabetesgesellschaft hin.
Unzutreffend sei auch die Bezugnahme in den Empfehlungen des Deutschen Vereins
von Oktober 2008 auf diese Leitlinien. Denn die Leitlinien der Deutschen
Diabetesgesellschaft sähen bei Diabetes eine spezielle Diätkost gerade ausdrücklich
vor. Aus diesen Leitlinien gehe zudem implizit hervor, dass zwischen 1997 und 2004
kein medizinischer Erkenntniswandel stattgefunden habe in der im Schema aus 2004
suggerierten Weise, dass die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse der
Empfehlungen des Deutschen Vereins von 1997 als überholt erschienen. Eher sei das
Gegenteil der Fall. Die Empfehlungen des Deutschen Vereins von Oktober 2008 seien
deshalb nicht überzeugungskräftig; vielmehr seien weiterhin die Empfehlungen von
1997 anzuwenden. Nicht überzeugen könne ebenfalls die Bezugnahme der
Empfehlungen des Deutschen Vereins von Oktober 2008 auf eine Studie der Deutschen
Gesellschaft für Ernährung (DGE). Denn aus letzterer zögen die Empfehlungen den
unzulässigen Schluss, dass mit einem Ansatz von täglich 4,52 EUR für Nahrungsmittel
und Getränke (einschließlich Tabakwaren) die Regelleistung nach dem SGB II für
Haushaltsvorstände und Alleinlebende den Mindestaufwand für eine Vollkost decken
könne. Diese Schlussfolgerung stehe im Widerspruch zur Aussage der DGE-Studie
selbst, die notwendigen Ausgaben für eine vollwertige Ernährung beliefen sich auf
durchschnittlich 87,00 EUR pro Person und Woche. Die in der Studie nicht begründete,
aber unterstellte Möglichkeit der Bildung von Vorräten bei Vollkostprodukten bestehe
wegen geringer Haltbarkeit solcher Produkte in Wirklichkeit nicht. Die Empfehlungen
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des Deutschen Vereins von Oktober 2008 genügten deshalb nicht wissenschaftlichen
Mindeststandards. Überzeugungskraft könnten nur logisch zwingende
Schlussfolgerungen besitzen, die den herrschenden Denkgesetzen entsprächen. Eine
solche Schlüssigkeit fehle den Empfehlungen von Oktober 2008. Demgegenüber lägen
den Empfehlungen von 1997 wissenschaftlich ermittelte Berechnungen zugrunde, aus
denen sich der geltend gemachte Mehrbedarf von mindestens 51,13 EUR ergebe. Für
eine GewäLhrung effektiven Rechtsschutzes dürfe sich das Gericht auch nicht nur auf
eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache beschränken,
sondern müsse die Sach- und Rechtslage abschließend prüfen. Sei ihm das im
einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht möglich, müsse es eine Folgenabwägung
vornehmen, die im vorliegenden Fall nur zur Gewährung der beantragten
Mehrleistungen führen könne; denn die begehrten Mehrleistungen seien für ein
menschwürdiges Leben notwendig.
Mit Beschluss vom 28.06.2010 hat das Sozialgericht den Erlass einer einstweiligen
Anordnung abgelehnt; außergerichtliche Kosten seien nicht zu erstatten. Es hat sich
dabei auf die Empfehlungen des Deutschen Vereins von Oktober 2008 bezogen.
Hinsichtlich der Einzelheiten der Begründung wird auf den Beschluss Bezug
genommen. Der Beschluss führt im Rubrum auf Antragstellerseite lediglich den
Antragsteller zu 1 auf.
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Gegen den am 06.07.2010 zugestellten Beschluss haben die Antragsteller am
05.08.2010 Beschwerde eingelegt, mit der sie weiterhin die einstweilige Verpflichtung
der Antragsgegnerin beantragen, Mehrleistungen i.H.v. monatlich von mindestens 51,13
EUR für einen Ernährungsmehrbedarf des Antragstellers zu 1 wegen dessen
Diabeteserkrankung zu gewähren. Sie tragen u.a. vor, ihr Prozessbevollmächtigter sei
am 07.05.2010 mit ihrer Vertretung beauftragt worden. Sie selbst hätten am 11.05.2010
bei der Antragsgegnerin vorgesprochen, wobei die Antragsgegnerin zunächst die mit
Bescheid vom 24.03.2010 ausgesprochene Leistungsversagung (ab 01.04.2010)
mündlich wiederholt habe. Ihr Prozessbevollmächtigter habe sich unter dem 13.05.2010
gegenüber der Antragsgegnerin für sie bestellt und eine einstweilige Anordnung
angekündigt. Dem Prozessbevollmächtigten sei sodann der Bewilligungsbescheid vom
11.05.2010 mit einem Schreiben der Antragsgegnerin vom 20.05.2010 erst am
24.05.2010 zugegangen. Dies sei für die Kostenfrage relevant; die Kostenentscheidung
des Sozialgerichts sei fehlerhaft. Die Prüfung eines Mehrbedarfs habe nicht zu einer
abgrenzbaren Ausweitung des gesamten Verfahrens geführt; auch angesichts des
teilweisen Misserfolgs des Antragstellers habe die Antragsgegnerin deshalb die
gesamten Kosten zu tragen. Im Übrigen hätte die Antragsgegnerin den
Bevollmächtigten über die Zustellung des Bescheides vom 11.05.2010 an sie - die
Antragsteller - selbst in Kenntnis setzen müssen. Bei entsprechend zeitnaher
Information durch die Antragsgegnerin wäre der durch diesen Bescheid erledigte Teil
des Verfahrens auf Erlass einer einstweiligen Anordnung von vornherein nicht
Verfahrensgegenstand geworden. Hinsichtlich eines Mehrbedarfs des Antragstellers zu
1 tragen die Antragsteller ergänzend vor, die Erkenntnis des Rationalisierungsschemas
aus 2004, dass wirksame Diätkomponenten bei Kostformen für verschiedene
Erkrankungen in die Vollkost integriert werden könnten, sei keineswegs neu und erst
recht nicht das Ergebnis eines wissenschaftlichen Erkenntniswandels nach 1997. Es
handele sich vielmehr um Erkenntnisse, die bereits einem Gutachten zugrunde gelegen
hätten, welches wiederum den Empfehlungen des Deutschen Vereins von 1997
zugrundegelegen habe. Ziel der Diabeteskost sei es u.a., eine Liberalisierung der
Aufnahme von niedermolekularen Kohlenhydraten (insbesondere Saccharose) für
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Diabetiker zu vermeiden. Hierfür seien diätetische Lebensmittel für Diabetiker, denen
etwa Glukose, Invertzucker, Disaccharide, Maltodextrine und Glukosesirup nicht
zugesetzt sein dürften, wissenschaftlich anerkannt; sie erleichterten die Diät für
Diabetiker nachhaltig. Dies entspreche auch den aktuellen Leitlinien der Deutschen
Diabetesgesellschaft, welche unter Verweis auf internationale Studienerkenntnisse
nach wie vor spezielle Diätkostformen bei Diabetes mellitus mit unterschiedlichen
Zielrichtungen ausdrücklich vorsähen. Die Notwendigkeit einer solchen Diabetesdiät
bewirke einen den Regelbedarf überschreitenden Mehrbedarf. Der Gesetzgeber habe
im Übrigen gerade auf die Fassung der Empfehlungen des Deutschen Vereins von
1997 ausdrücklich Bezug genommen. Zu diesen Empfehlungen von 1997 bildeten die
Empfehlungen von 2008 angesichts ihres unwissenschaftlich begründeten Ergebnisses
allenfalls eine Gegenmeinung. Eine bloße Bezugnahme des Gerichts auf diese
Empfehlungen aus 2008 genüge deshalb dem Justizgewährungsanspruch nicht. Das
Verweigern einer Mehrbedarfsleistung durch die Antragsgegnerin belaste im Übrigen
die gesamte Bedarfsgemeinschaft der Antragsteller, weil diese den Mehrbedarf des
Antragstellers zu 1 abfangen müsse. Im Übrigen sei bereits gegen den
Versagungsbescheid vom 24.03.2010 Widerspruch erhoben worden u.a. mit der
Begründung, dass Leistungen für den Mehrbedarf nicht bewilligt worden seien. Es sei
im weiteren Schriftverkehr zudem darauf hingewiesen worden, dass sich mit dem
Bescheid vom 11.05.2010 der Widerspruch hinsichtlich dieses Teiles der
Leistungsversagung nicht erledigt habe.
Die Antragsgegnerin weist demgegenüber u.a. darauf hin, dass sich ausweislich einer
aktualisierten, evidenzbasierten Leitlinie der Deutschen Diabetesgesellschaft zur
Therapie des Diabetes mellitus Typ I die Grundlagen der Ernährungsempfehlungen für
Patienten mit dieser Erkrankung nicht wesentlich von denen für die
Allgemeinbevölkerung unterschieden. Im Übrigen sei der Bewilligungsbescheid vom
11.05.2010 ordnungsgemäß an die Antragsteller versandt worden, erst später allerdings
auch an den Bevollmächtigten. Vor Stellung des Antrags vor dem Sozialgericht am
18.05.2010 wäre es dem Prozessbevollmächtigten zumutbar gewesen, sich zu
erkundigen, ob mittlerweile ein Bewilligungsbescheid vorliege. Die Kostenentscheidung
durch das Sozialgericht sei deshalb richtig. Im Übrigen sei der Bescheid vom
11.05.2010 von den Antragstellern nicht einmal mit dem Widerspruch angefochten
worden.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt
der Gerichtsakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Antragsgegnerin
Bezug genommen.
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II. 1. Die Beschwerde der Antragsteller zu 2 bis 5 ist unzulässig.
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Denn insoweit liegt keine Entscheidung des Sozialgerichts vor, gegen die nach § 172
Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Beschwerde statthaft wäre. Das Rubrum des
sozialgerichtlichen Beschlusses, welches allein den Antragsteller zu 1 auf
Antragstellerseite als Verfahrensbeteiligten nennt, ist auch nicht etwa schlichtweg
unvollständig. Denn mit Schriftsatz der Antragsteller vom 25.05.2010 war der
ursprünglich weiter gefasste Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II an
sämtliche Antragsteller ausdrücklich für erledigt erklärt worden. Ausdrücklich ist dabei
zudem ausgeführt worden, nur hinsichtlich eines Mehrbedarfs für den Antragsteller zu 1
sei keine Erledigung eingetreten. Für die Antragsteller zu 2 bis 5 bedurfte es deshalb
bereits keiner sozialgerichtlichen Entscheidung mehr; das Sozialgericht hat das
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Verfahren im Anschluss an diese Erledigungserklärung vielmehr zutreffend nur mehr als
Verfahren des Antragstellers zu 1 weitergeführt. Im Übrigen hat der Bevollmächtigte der
Antragsteller ausweislich eines Vermerks des Kammervorsitzenden des Sozialgerichts
am 26.05.2010 beim Gericht angerufen und - ohne dass dies im Anschluss an den
Schriftsatz vom 25.05.2010 noch nötig gewesen wäre - klargestellt, dass der (nach
Ansicht des Senats insoweit ohnehin unmissverständliche) Schriftsatz vom 25.05.2010
dahin zu verstehen sei, dass der Antrag der Antragsteller zu 2 bis 5 für erledigt erklärt
worden sei und vom Antragsteller zu 1 lediglich noch ein Mehrbedarf geltend gemacht
werde.
Den Antragstellern zu 2 bis 5 ist allerdings zuzugeben, dass das Sozialgericht bislang
hinsichtlich ihrer keine Kostenentscheidung getroffen hat. Den Antragstellern zu 2 bis 5
steht es insoweit frei, beim Sozialgericht noch einen Antrag auf Entscheidung über die
Kostenerstattung entsprechend § 193 Abs. 1 SGG anzubringen.
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2. Die Beschwerde des Antragstellers zu 1 ist hingegen zulässig, aber unbegründet.
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a) Keineswegs kann etwa eingewandt werden, es bestehe kein Rechtsschutzinteresse,
weil gegen den Bescheid vom 11.05.2010 kein Widerspruch eingelegt worden sei.
Denn eines solchen Widerspruchs bedurfte es von vornherein nicht: Die Antragsteller
haben bereits den Bescheid vom 24.03.2010 mit dem Widerspruch angefochten, mit
dem Leistungen ab dem 01.04.2010 zunächst gänzlich versagt worden waren. Nach
Widerspruch der Antragsteller wurden sodann mit dem Bescheid vom 11.05.2010
Leistungen ab dem 01.04.2010 bewilligt, wenn auch nur in Höhe der regelmäßigen
Leistungen ohne Berücksichtigung eines Mehrbedarfs des Antragstellers zu 1. Bei dem
Bescheid vom 11.05.2010 handelt es sich deshalb um einen Teilabhilfebescheid zum
Versagungsbescheid vom 24.03.2010, der nach § 86 SGG Gegenstand des (nach wie
vor) anhängigen Widerspruchsverfahrens geworden ist. Der erneuten Einlegung eines
Widerspruchs gegen den Bescheid vom 11.05.2010 bedurfte es deshalb nicht. Ist aber
der Versagungsbescheid vom 24.03.2010 i.d.F. des Teilabhilfebescheides vom
11.05.2010 bislang nicht bestandskräftig geworden, so existiert einstweilen bisher keine
den geltend gemachten Mehrbedarf bereits bestandskräftig versagende Regelung durch
die Antragsgegnerin, die wegen dieser Bestandskraft den Antrag auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung unzulässig machen würde.
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b) Die Beschwerde hinsichtlich eines Anspruchs auf Mehrbedarfsleistungen des
Antragstellers zu 1 nach § 21 Abs. 5 SGB II ist jedoch unbegründet. Der geltend
gemachte Anspruch auf Mehrbedarfsleistungen wegen medizinisch notwendiger
kostenaufwändiger Ernährung ist nicht i.S.d. § 86b Abs. 2 Satz 2 bis 4 SGG glaubhaft
gemacht.
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Nach den aktualisierten Empfehlungen des Deutschen Vereins vom 01.10.2008 ist bei
einer Erkrankung an Diabetes mellitus Typ I in der Regel ein krankheitsbedingter
erhöhter Ernährungsaufwand zu verneinen. Es ist davon auszugehen, dass der auf der
Grundlage einer Einkommens- und Verbrauchstichprobe (EVS) bemessene Regelsatz
den notwendigen Aufwand für eine Vollkost deckt (vgl. etwa LSG NRW, Beschluss vom
21.09.2009 - L 20 B 17/09 AS). Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Ausführungen
der Antragsteller, die sich gegen die Validität der aktualisierten Empfehlungen des
Deutschen Vereins wenden. Vielmehr hat sich das Sozialgericht zu Recht auf diese
Empfehlungen bezogen. Entgegen der Ansicht der Antragsteller sind die aktuellen
Empfehlungen nicht zu Gunsten der Vorgängerempfehlungen von 1997 außer Betracht
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zu lassen:
Dass die Empfehlungen des Deutschen Vereins für Krankenkostzulagen in der
Sozialhilfe im Rahmen von § 21 Abs. 5 SGB II herangezogen werden können, sieht die
Gesetzesbegründung ausdrücklich vor (BT-Drucks. 15/1516, S. 57). Dabei konnte der
Gesetzgeber seinerzeit freilich allein die damals als jüngste vorliegenden
Empfehlungen von 1997 heranziehen. Das bedeutet allerdings nicht, dass damit
gleichsam für alle Zeiten die Empfehlungen allein in der Version von 1997
heranzuziehen sein sollten. Denn bei der Frage, ob eine bestimmte in der Bevölkerung
häufiger auftretende Erkrankungen - wie etwa ein Diabetes mellitus Typ I - bei
erkrankungsgerechter Ernährung einen Mehrbedarf verursacht, ist ein Wandel der
medizinischen und ernährungsphysiologischen Erkenntnisse und auch des für den
Einkauf außerhalb von Reformhäusern zur Verfügung stehenden Ernährungsangebots
zwangsläufig zu berücksichtigen, soll eine etwa erfolgende Mehrbedarfsempfehlung die
tatsächlichen wirtschaftlichen Notwendigkeiten widerspiegeln.
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Die 1997 noch begründet erschienenen Empfehlungen des Deutschen Vereins hatten
hinsichtlich des Diabetes mellitus Typ I (und etlicher anderer Erkrankungen) jedoch im
Laufe der Zeit aufgrund geänderter wissenschaftlicher Erkenntnisse ihre Stichhaltigkeit
verloren. Darauf haben die geänderten Empfehlungen von 2008 reagiert. Schon
deshalb können jedenfalls die Empfehlungen von 1997 nicht mehr als auf gültigen
wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhende Maßgaben berücksichtigt werden. An ihre
Stelle sind vielmehr die Empfehlungen mit dem Stand 01.10.2008 getreten. Eine
Anwendung dieser Neufassung wäre lediglich dann ausgeschlossen, wenn diese
Empfehlungen ersichtlich fehlerhaft wären. Dies ist nach Ansicht des Senats entgegen
der Ansicht der Antragsteller jedoch nicht erkennbar:
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Die Antragsteller beziehen sich im Wesentlichen auf einen Artikel, welcher über den
Internetauftritt der Deutschen Diabetesgesellschaft abrufbar ist (Toeller et al., Evidenz-
basierte Ernährungsempfehlungen zur Behandlung und Prävention des Diabetes
mellitus). Anders als die Antragsteller meinen, lassen sich diesem Artikel allerdings
keine Aussagen darüber entnehmen, dass nach heutiger Erkenntnis für Diabetiker eine
grundlegend andere Ernährungsempfehlung gelte als für die Allgemeinbevölkerung.
Der Artikel aus dem Jahre 2005 macht lediglich Ausführungen zur Frage, welche
Nahrungsmittel mit welchen Nahrungsinhaltsstoffen für eine diabetesgeeignete
Ernährung anhand derzeit überblickbarer wissenschaftlicher Studien empfehlenswert
erscheinen. Keineswegs liefert er eine ausdrückliche Abgrenzung zur für die
Gesunderhaltung der Allgemeinbevölkerung (ohne Diabeteserkrankung) zu
empfehlenden Ernährung. Vielmehr führt er gerade ausdrücklich aus (S. 88),
Empfehlungen für Supplemente und funktionelle Lebensmittel für Diabetiker seien nicht
angezeigt. Der Senat sieht deshalb auch - anders als die Antragsteller - nicht, dass der
Verweis auf eben diesen Artikel (Toeller et al.) in den Empfehlungen des Deutschen
Vereins vom 01.10.2008 (S. 16 bei Fußnote 12) allein eine fehlerhafte Lesart des von
der Deutschen Diabetesgesellschaft im Internet veröffentlichten Artikels durch den
Deutschen Verein zum Ausdruck bringe.
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Dementsprechend führt auch eine (von der Antragsgegnerin schriftsätzlich
angesprochene) Evidenz-basierte Leitlinie "Therapie des Diabetes mellitus Typ I" der
Deutschen Diabetesgesellschaft (ebenfalls in deren Auftritt im Internet abrufbar) aus
(Seite 16 zum Punkt 3.2 "Ernährung"), die Grundlagen der Ernährungsempfehlungen für
Patienten mit Diabetes Mellitus Typ I unterschieden sich nicht wesentlich von denen, die
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auch die Grundlage der Empfehlungen für die Allgemeinbevölkerung zur Erhaltung ihrer
Gesundheit seien. Patienten benötigten ausführliche Kenntnisse über die
Zusammensetzung und Wirkung der unterschiedlichen Nahrungsmittel auf das
Glukoseverhalten. Entsprechend ausgebildete Patienten mit Diabetes Mellitus Typ I
könnten nach Implementierung einer Basis-Bolus- (funktionellen) Insulintherapie
unterschiedliche Kohlenhydrate und Kohlenhydratemengen mit entsprechenden
präprandialen Insulindosen versehen.
Dass entgegen den Ausführungen der Antragsteller gerade auch die Deutsche
Diabetesgesellschaft für die heterogene Gruppe der Diabetiker aus dem aktuellen
medizinischen und ernährungsphysiologischen Forschungsstand keine von denjenigen
für die Allgemeinbevölkerung wesentlich abweichende Ernährungsempfehlungen
ableitet, geht im Übrigen auch aus einer aktuellen Veröffentlichung der Gesellschaft im
Internet hervor (Titel: Kennzeichnung von Diabetiker-Lebensmitteln muss sich ändern,
abrufbar unter www.deutsche-diabetes-gesellschaft.de/redaktion/news/kennzeichnung
von diabetiker-lebensmitteln 28 102007.pdf, dort S. 3). Auch dort ist zudem ausgeführt
(S. 2), dass spezielle Diabetikerprodukte oder Diätprodukte für Diabetiker nicht mehr
erforderlich seien.
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Die Antragsteller missverstehen insoweit die Evidenz-basierten
Ernährungsempfehlungen zur Behandlung und Prävention des Diabetes mellitus
(Toeller et al.): Eine Integration der für die gesundheitliche Versorgung für Diabetikern
wirksamen Komponenten der vormals für notwendig gehaltenen Diätkostformen in die
vom Deutschen Verein in den aktualisierten Empfehlungen nunmehr empfohlene
Vollkost wird bei fehlender Notwendigkeit von Supplementen und funktionellen
Lebensmitteln bereits aus den Inhaltsstoffen der Vollkost gewährleistet. Dass ein
Diabetiker bessere Kenntnisse ernährungsphysiologischer Zusammenhänge benötigt,
so dass eine Integration notwendiger Komponenten nicht wegen im Einzelnen
fehlgewichteter Vollkosternährung vereitelt wird, ändert daran nichts.
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Soweit die Antragsteller die vom Deutschen Verein für die Empfehlungen von 2008
herangezogene Studie der DGE über Lebensmittelkosten im Rahmen einer vollwertigen
Ernährung (Stand April 2008 = Karg/Wagner/Gedrich, Lebensmittelkosten im Rahmen
einer vollwertigen Ernährung, Stand: April 2008) als die Empfehlungen nicht stützend
ansehen, weil die DGE darin Kosten für eine vollwertige Ernährung mit durchschnittlich
87,00 EUR/Woche benenne, so beruht dies auf einer unzureichenden Auswertung der
Studie durch die Antragsteller. Denn die Studie berücksichtigt durchaus, dass eine
(auch für Diabetiker empfohlene) vollwertige Ernährung zu einem preisbewussten
Einkaufen zwingt, sollen die Kosten aus dem Anteil aufgebracht werden, der in den
Regelleistungen nach dem SGB II für Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren
enthalten ist. Die DGE-Studie führt (S. 9) ausdrücklich an, dass in einem solchen Fall
Lebensmittelgruppen zu einem Preis eingekauft werden müssen, der etwa bei der
fünfundzwanzigsten Perzentile liegt. Bei Angewiesenheit auf
Grundsicherungsleistungen ist ein preisbewusstes Einkaufsverhalten jedoch zumutbar.
Soweit die Antragsteller in diesem Zusammenhang einwenden, eine Kostenersparnis
durch Anlegen von Vorräten sei wegen des schnellen Verfalls entsprechender
Lebensmittel nicht möglich, so zeigt die Tabelle 4 der DGE-Studie
(Lebensmittelausgaben im Rahmen einer vollwertigen Ernährung unter
Berücksichtigung von Packungsgrößen), dass es insoweit keineswegs etwa um
großküchengeeignete Vorratsgrößen oder dergl. geht; vielmehr weichen die in der
Tabelle aufgeführten üblichen Verkaufsmengen nur hinsichtlich weniger Artikel von den
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ebenfalls aufgeführten Einkaufsmengen pro Person und Woche ab. Im Übrigen findet
sich in der Tabelle in den Einzelbereichen für leichter verderbliche Lebensmittelgruppen
(Gemüse und Salat, Obst, Milchprodukte, Fleisch/Wurstprodukte, Fisch und Eier) gerade
kaum ein Lebensmittel, bei dem die übliche Verkaufsmenge die wöchentliche
Einkaufsmenge pro Person überschreitet (einzige Ausnahme: Feta). Sind die für eine
vollwertige Ernährung aufgeführten Lebensmittel im Übrigen auch im üblichen
Speiseplan der nicht an Diabetes erkrankten Bevölkerung zu finden, so ist von
vornherein nicht zu erkennen, weshalb sich für die Haltbarkeit von Lebensmittel bei
Diabetikern und Nichtdiabetikern ein Unterschied ergeben soll.
3. Auch die Kostenentscheidung des Sozialgerichts für das erstinstanzliche Verfahren,
die sich (s.o. zu 1) allein auf den Antragsteller zu 1 bezieht, ist nicht zu beanstanden.
Zwar haben die Antragsteller zunächst die einstweilige Verpflichtung der
Antragsgegnerin zur Gewährung von Leistungen nach dem SGB II an alle Antragsteller
(und damit auch an den Antragsteller zu 1) beantragt, und diese Leistungen sind mit
dem Bescheid vom 11.05.2010 auch bewilligt worden. Diese Bewilligung ist allerdings
bereits vor Antragstellung beim Sozialgericht (18.05.2010) erfolgt. Dass der
Bewilligungsbescheid zunächst nur den Antragstellern selbst und nicht ihrem
Bevollmächtigten bekanntgegeben wurde, kann der Beklagten im Rahmen der
Kostenentscheidung (betreffend allein den Antragsteller zu 1; s.o.) nicht angelastet
werden. Denn bei Fertigung und Absendung des Bescheides vom 11.05.2010 konnte
die Antragsgegnerin noch keine Kenntnis von der Tätigkeit des jetzigen
Prozessbevollmächtigten haben: Der Bevollmächtigte weist selbst darauf hin, dass er
sich erst mit einem Schreiben vom 13.05.2010 gegenüber der Antragsgegnerin zum
Prozessbevollmächtigten der Antragsteller bestellt hat. Konnte die Antragsgegnerin am
11.05.2010 die Bevollmächtigung nicht kennen, hätten die Antragsteller den
Bevollmächtigten noch vor Beantragung einstweiligen Rechtsschutzes beim
Sozialgericht auf den Erlass des Bescheides vom 11.05.2010 hinweisen müssen. Denn
nach Erteilung des Mandats am 07.05.2010 mussten sie wissen, dass dieser
Bewilligungsbescheid Bedeutung für die weitere Verfolgung ihrer Ansprüche durch den
Bevollmächtigten hatte. Es entspräche bei dieser Sachlage nicht der Billigkeit, die
Antragsgegnerin mit außergerichtlichen Kosten (des Antragstellers zu 1) zu belasten,
auch wenn sie den Großteil der mit dem ursprünglichen Antrag der Antragsteller geltend
gemachten Leistungen tatsächlich bewilligt hat. Denn hierzu hätte es der Einleitung des
Verfahrens auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gar nicht mehr bedurft.
Hinsichtlich des später allein noch geltend gemachten Mehrbedarfs für den Antragsteller
zu 1 hatte der Antrag von vornherein keine Erfolgsaussicht. Insgesamt konnten deshalb
nach den im Rahmen von § 193 SGG anzuwendenden Kriterien der Antragsgegnerin
keine notwendigen außergerichtlichen Kosten (des Antragstellers zu 1) aufgegeben
werden.
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4. Die Kostenentscheidung im Beschwerdeverfahren folgt aus einer entsprechenden
Anwendung des § 193 SGG.
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5. Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
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