Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 22.09.2004

LSG NRW: arbeitsentgelt, tarifvertrag, fälligkeit, stundung, auszahlung, gratifikation, gerichtsakte, gegenleistung, zustand, unternehmer

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Vorinstanz:
Sachgebiet:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Rechtskraft:
Landessozialgericht NRW, L 12 (9) AL 239/03
22.09.2004
Landessozialgericht NRW
12. Senat
Urteil
L 12 (9) AL 239/03
Sozialgericht Dortmund, S 27 AL 250/02
Arbeitslosenversicherung
nicht rechtskräftig
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund
vom 09.10.2003 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind
auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird
zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist im Hinblick auf die Höhe des der Klägerin zu gewährenden Insolvenzgeldes, ob
die Weihnachtsgratifikation für das Jahr 2001 zu berücksichtigen ist.
Die 1971 geborene Klägerin war als Metallhilfsarbeiterin bei der I X GmbH in C tätig, über
deren Vermögen am 28.03.2002 das Insolvenzverfahren eröffnet wurde.
Entsprechend der vom Insolvenzverwalter ausgestellten Insolvenzgeldbescheinigung
bewilligte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 15.04.2002 Insolvenzgeld für die
Zeit vom 01.01. bis 27.03.2002 in Höhe von 3.257,13 Euro. Hiergegen erhob die Klägerin
am 22.04.2002 Widerspruch und begehrte die zusätzliche Berücksichtigung der
Weihnachtsgratifikation 2001. Sie trug vor, die X GmbH sei seit drei Jahren nicht mehr
tarifgebunden gewesen, worauf eine Betriebsvereinbarung zum sogenannten
Weihnachtsgeld getroffen worden sei. Unter Vorlage einer Kopie verwies sie auf die
Betriebsvereinbarung vom 06.12.2001, wonach das Weihnachtsgeld in vier Raten gezahlt
werden sollte, und zwar die erste Rate im Dezember in Höhe von 800,00 DM brutto
abzüglich Lohnsteuer und Sozialversicherung als Nettoauszahlung per Scheck und weitere
Zahlungen mit der Januar-, Februar- und Märzlöhnung 2002. Die Beklagte wies den
Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 09.10.2002 gestützt auf das Urteil des
Bundessozialgerichts (BSG) vom 02.11.2000 - B 11 AL 87/99 R - zurück. Bei einer auf das
Kalenderjahr bezogenen "Stichtagsregelung" sei eine Verschiebung des
Auszahlungstages (durch Betriebsvereinbarung) in das nachfolgende Kalenderjahr
rechtlich nicht zulässig. An der betrieblichen Übung bis zum Abschluss der ersten
Betriebsvereinbarung sei die Jahressonderzahlung gemäß den Bestimmungen des
"Tarifvertrags über die Absicherung eines Teils eines 13. Monatseinkommens" jeweils am
30.11. des laufenden Kalenderjahres ausgezahlt worden. Trotz Wegfalls der Tarifbindung
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hätten durch die Betriebsvereinbarung nicht die Anspruchsvoraussetzungen neu geregelt
werden sollen, sondern nur die Fälligkeitsmodalitäten. Der bisherige Auszahlungstermin
habe grundsätzlich beibehalten und dem Arbeitgeber nur eine Stundung gewährt werden
sollen. Eine solche Stundung rechtfertige keine Einbeziehung des Anspruchs in den
Insolvenzgeldzeitraum.
Am 08.11.2002 hat die Klägerin vor dem Sozialgericht (SG) Dortmund Klage erhoben und
weiterhin die Auffassung vertreten, die Weihnachtsgratifikation für das Jahr 2001 sei zu
Unrecht nicht beim Insolvenzgeld berücksichtigt worden. Entgegen der von der Beklagten
zitierten Rechtsprechung des BSG sei vorliegend diese Jahressonderzahlung zu
berücksichtigen, weil jahrelang der Zeitpunkt der Auszahlung dieser Jahressonderzahlung
so festgelegt worden sei.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 15.04.2002 in der Fassung des
Widespruchsbescheides vom 09.10.2002 zu verurteilen, höheres Insolvenzgeld unter
Berücksichtigung der anteiligen Weihnachtsgratifikation in Höhe von dreimal 131,56 Euro
brutto zu gewähren.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat an ihrer in den angefochtenen Bescheiden zum Ausdruck gebrachten Auffassung
festgehalten. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 09.10.2003 abgewiesen und zur
Begründung ausgeführt: Die Klägerin habe keinen Anspruch auf höheres Insolvenzgeld
nach § 183 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (SGB III). Der
Insolvenzgeldzeitraum umfasse die Zeit vom 28.12.2001 bis 27.03.2002. Durch die
Betriebsvereinbarung vom 06.12.2001 sollte lediglich eine Stundung im Sinne eines
Hinausschiebens der Fälligkeit für die nach betrieblicher Übung eigentlich für Ende
November vorgesehene Zahlung der Weihnachtsgratifikation erfolgen. Dies werde schon
durch die Wortwahl "aufgrund der andauernd schlechten Wirtschaftslage" und "folgende
Zahlungsweise" deutlich gemacht. Ein derartiges Verschieben bei unverändertem
Rechtsgrund des Anspruchs rechtfertige jedoch nach der Rechtsprechung des BSG keine
Einbeziehung in den Insolvenzgeldzeitraum. Hätte nämlich eine Vereinbarung, die
Fälligkeit der für ein bestimmtes Kalenderjahr zu gewährenden Sonderleistung in das
nächste Kalenderjahr zu legen, Auswirkungen auf die Zuordnung zum
Insolvenzgeldzeitraum, würde dies dem Grundsatz widersprechen, dass das Arbeitsentgelt
regelmäßig dem Zeitraum zuzurechnen sei, in dem es "erarbeitet" worden ist.
Gegen das ihr am 27.10.2003 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 26.11.2003 Berufung
eingelegt. Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor, aufgrund betrieblicher Übung seit
1999 sei der maßgebliche Auszahlungstag von drei Raten des Weihnachtsgeldes in die
dem Insolvenzereignis vorausgehenden letzten drei Monate des Arbeitsverhältnisses
gefallen. Da der Arbeitgeber der Klägerin nicht mehr tarifgebunden gewesen sei, habe er
mit dem Betriebsrat eine andere vertragliche Regelung treffen können, wonach die
Bedingungen des Erwerbs des Anspruchs auf Jahressonderleistung gleichbleiben sollten,
der Auszahlungszeitpunkt jedoch in Abweichung von dem Tarifvertrag anders vereinbart
werden sollte.
Die Klägerin beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 09.10.2003 abzuändern und nach dem
erstinstanzlichen Klageantrag zu erkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Maßgeblich sei nicht, wann die Gratifikation
beansprucht werden könne, sondern wann der Anspruch auf sie arbeitsrechtlich
entstanden sei. Es gehe nicht darum, ob die Gratifikation im Insolvenzgeldzeitraum
beansprucht werden könne, sondern ob sie für diesen Zeitraum zustehe. Dies ergebe sich
daraus, dass beim Insolvenzgeld der Grundsatz gelte, dass Arbeitsentgelt regelmäßig dem
Zeitraum zuzuordnen sei, in dem es erarbeitet worden sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der die Klägerin betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten Bezug
genommen. Diese Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig. Das SG hat die Berufung im Urteil zugelassen. Hieran ist der
Senat gebunden (§ 144 Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das SG hat zutreffend entschieden, dass der
Klägerin kein höheres Insolvenzgeld zu gewähren ist.
Gemäß § 183 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III haben Anspruch auf Insolvenzgeld Arbeitnehmer,
wenn sie im Inland beschäftigt waren und bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das
Vermögen ihres Arbeitgebers (Insolvenzereignis) für die vorausgehenden drei Monate des
Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt haben. Nach § 183 Abs. 1 Satz 3
SGB III gehören zu den Ansprüchen auf Arbeitsentgelt alle Ansprüche auf Bezüge aus dem
Arbeitsverhältnis. Nicht zweifelhaft ist, dass es sich bei der Weihnachtsgratifikation um
Arbeitsentgelt im Sinne von § 183 Abs. 1 SGB III handelt. Die Klägerin hat aber keinen
Anspruch darauf, dass diese Jahressonderzahlung in die Insolvenzgeldberechnung
einbezogen wird, denn die Zahlung ist weder dem Insolvenzgeldzeitraum zeitanteilig
zuzurechnen noch ist sie als nicht einzelnen Monaten zuzurechnende Zahlung den letzten
drei Monaten des Arbeitsverhältnisses vor Eintritt des Insolvenzereignisses zuzuordnen.
Zu prüfen war zunächst, ob der Klägerin die Jahressonderzahlung (Weihnachtsgeld)
überhaupt zustand. Nach den Feststellungen der Beklagten war der Arbeitgeber ab
01.01.2000 als Unternehmer ohne Tarifbindung beim Arbeitgeberverband geführt. Dieser
Umstand hat jedoch keine Auswirkung auf den Anspruch der Klägerin, denn nach § 3 Abs.
3 Tarifvertragsgesetz bleibt die Tarifgebundenheit bis zum Ende des Tarifvertrags
bestehen. Die Klägerin, die seit 01.10.1999 einen schriftlichen Arbeitsvertrag hatte, hat
mitteilen lassen, auf den Abschluss dieses Vertrags habe sie nur deshalb bestanden, weil
sie vorher teilzeitbeschäftigt gewesen sei und ab 01.11.1999 in Vollzeit gearbeitet habe.
Der Senat hat daher keinen Anlass anzunehmen, dass die Höhe des Lohnes und der
Jahressonderzahlung der Klägerin, die nach ihren Angaben im Übrigen vom 01.11.1999
bis April 2000 Gewerkschaftsmitglied war, nicht immer an den jeweils gültigen Tarifvertrag
gekoppelt war. Fehlen außerdem jegliche Hinweise auf eine mündliche oder schriftliche
Änderung des Arbeitsvertrags, ist davon auszugehen, dass ein arbeitsvertragsrechtlicher
Anspruch der Klägerin auf Zahlung der Jahressonderzahlung in der Höhe bestand, wie sie
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sich aus dem "Tarifvertrag über die tarifliche Absicherung eines Teils des 13.
Monatseinkommens vom 11.12.1996 in der Eisen-, Metall-, Elektro- und
Zentralheizungsindustrie Nordrhein-Westfalen" ergibt. Damit ist festzustellen, dass die
Klägerin im Jahr 2001 Anspruch auf eine Jahressonderzahlung in Höhe von 55 % einer
Monatsvergütung hatte (§ 2 Ziffer 2.2 des oben genannten Tarifvertrags).
Die zeitliche Zuordnung der Jahressonderzahlung bestimmt sich nach § 3 des oben
genannten Tarifvertrags. Dieser hat folgenden Wortlaut: 1. Der Zeitpunkt der Auszahlung
wird durch Betriebsvereinbarung geregelt.
2. Falls dieser Zeitpunkt durch Betriebsvereinbarung nicht geregelt ist, gilt als
Auszahlungstag im Sinne des § 3 Nr. 1 der 01. Dezember.
In diesem Fall ist es dem Arbeitgeber unbenommen, die Erfüllung der Zahlung vorher
durchzuführen.
3. Über Abschlagszahlungen können Regelungen in die Betriebsvereinbarung
aufgenommen werden.
Durch die Betriebsvereinbarung vom 06.12.2001 sind die Auszahlungstage für die zweite
bis vierte Jahressonderzahlungsrate nicht vom 01.12.2001 auf die Tage der Januar-,
Februar- und Märzlöhnung und damit die Zuordnung dieser drei Raten nicht von 2001 in
das Jahr 2002 verändert worden, weil dies mit der tariflichen Regelung unvereinbar ist.
Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 02.11.2000 - B 11 AL 87/99 R - und Urteil
vom 18.03.2004 - B 11 AL 57/03 R -), der sich der Senat anschließt, verbieten Sinn und
Zweck der tariflichen Regelung, den Auszahlungstag auf einen Tag außerhalb des
Kalenderjahres, für den die Sonderzahlung gedacht ist, zu legen. Die tarifliche Regelung
begründet einen Anspruch auf Sonderzahlung je Kalenderjahr für alle Arbeitnehmer, die
am Auszahlungstag in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis stehen. Nach der tariflichen
Sonderregelung sollen die Sonderzahlungen neben der Betriebstreue auch die
Gegenleistung für die im jeweiligen Kalenderjahr geleistete Arbeit sein. Hätte eine
Vereinbarung, die Fälligkeit der für ein bestimmtes Kalenderjahr zu gewährenden
Sonderzahlung in das nächste Kalenderjahr zu legen, Auswirkung auf die Zuordnung zum
Insolvenzgeldzeitraum, würde dies dem Grundsatz widersprechen, dass das Arbeitsentgelt
regelmäßig dem Zeitraum zuzuordnen ist, in dem es "erarbeitet" worden ist. Ein Anspruch
auf höheres Insolvenzgeld steht der Klägerin aber auch nicht hinsichtlich der Zeit vom
28.12. bis 31.12.2001 zu, da sie am 07.12.2001 bereits einen Teil des Weihnachtsgeldes in
Höhe von 800,00 DM abzüglich Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen erhielt, womit
diese vier Tage im Jahr 2001 jedenfalls abgedeckt sind.
Führt mithin die Jahressonderzahlung für 2001 nicht zu einem höheren Anspruch der
Klägerin auf Insolvenzgeld, war auch eine für das Jahr 2002 in Betracht kommende
Sonderzahlung nicht zu drei Zwölfteln zu berücksichtigen. Die Jahressonderzahlung als
Leistung, die nicht für die Arbeit in einem einzelnen Entgeltabrechnungszeitraum gezahlt
wird, begründet zwar einen Insolvenzgeldanspruch in Höhe des auf den
Insolvenzgeldzeitraum entfallenen Anteils, wenn arbeitsrechtliche Vereinbarungen oder
tarifvertragliche Regelungen für die Arbeitnehmer auch bei vorherigem Ausscheiden einen
zeitanteiligen Anspruch vorsehen (vgl. BSG Urteil vom 18.03.2004 - B 11 AL 57/03 R -).
Eine aufgrund tariflicher Regelung oder betrieblicher Übung allen an einem Stichtag in
einem ungekündigten Arbeitsverhältnis stehenden Arbeitnehmern grundsätzlich ungekürzt
zustehende Jahressonderzahlung ist demgegenüber aber nicht einzelnen Monaten
zuzuordnen (vgl. BSG Urteil vom 02.11.2000 - B 11 AL 87/99 R - m.w.N.). Vorliegend
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handelt es sich um eine solche tarifvertragliche Regelung, die allen am Stichtag
ungekündigten Arbeitnehmern eine volle Jahressonderzahlung zubilligte, aber eben keinen
anteiligen Anspruch bei vorzeitigem Ausscheiden. Dann aber kommt eine
Dreizwölftelberücksichtigung für die Monate Januar bis März 2002 auch nicht in Betracht.
Klage und Berufung konnten somit keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 183, 193 SGG.
Der Senat hat die Revision zugelassen, weil er mit dem SG der Sache grundsätzliche
Bedeutung beimisst (§ 160 Abs. 2 Ziffer 2 SGG).