Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 06.12.2007
LSG NRW: eltern, anwendung des rechts, bestandteil, alter, verwaltungsakt, rechtswidrigkeit, rücknahme, unterhaltspflicht, sozialleistung, rückgriff
Landessozialgericht NRW, L 9 SO 4/06
Datum:
06.12.2007
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
9. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 9 SO 4/06
Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 27 SO 37/05
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 8 SO 6/08 R
Sachgebiet:
Sozialhilfe
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln
vom 17.01.2006 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die
außergerichtlichen Kosten des Klägers auch für das
Berufungsverfahren. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
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Der Kläger begehrt die Überprüfung bestandskräftiger Bewilligungsbescheide über
Leistungen der Grundsicherung für die Zeit vom 01.01.2003 bis 31.05.2004 wegen der
Anrechnung von Kindergeld als Einkommen. Der am 00.00.1965 geborene Kläger ist
mit einem Grad der Behinderung von 80 bei Zuerkennung der Nachteilsausgleiche "G"
und "B" schwerbehindert. Seit August 1988 arbeitet er in einer Werkstatt für
schwerbehinderte Menschen. Am 02.01.2003 stellte er einen Antrag auf
Grundsicherungsleistungen und gab dabei u.a. an, dass sein Vater Kindergeld in Höhe
von 154,00 EUR monatlich für ihn erhalte. Mit Bescheid vom 27.03.2003 bewilligte die
Beklagte Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz ab dem 01.01.2003 in Höhe von
506,55 EUR monatlich. Mit Änderungsbescheid vom 24.11.2003 bewilligte sie
Leistungen ab Dezember 2003 in Höhe von 523,84 EUR monatlich und mit Bescheid
vom 17.02.2004 für die Zeit ab Januar 2004 in Höhe von 546,09 EUR monatlich. Dabei
berücksichtigte sie jeweils das Kindergeld als Einkommen des Klägers.
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Mit Schreiben vom 11.06.2004 wies der Kläger darauf hin, dass nach der neueren
verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung davon auszugehen sei, dass die Anrechnung
des Kindergeldes als Einkommen rechtswidrig sei. Er beantrage die Rücknahme aller
Bewilligungsbescheide ab dem 01.01.2003 und die Neubewilligung der Leistungen
ohne Anrechnung des Kindergeldes.
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Mit Bescheid vom 21.04.2005 lehnte die Beklagte den Antrag ab. § 44
Sozialgesetzbuch Zehnter Teil - SGB X - finde nach ständiger Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts in der Sozialhilfe und damit analog auch bei den
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Grundsicherungsleistungen keine Anwendung. Darüber hinaus sei das gewährte
Kindergeld zu Recht als Einkommen des Klägers angerechnet worden. Den hiergegen
am 29.04.2005 eingelegten Widerspruch begründete der Kläger damit, dass die
Rechtswidrigkeit der Anrechnung des den Eltern zustehenden Kindergeldes
zwischenzeitlich auch durch das Bundesverwaltungsgericht bestätigt worden sei.
Gemäß § 48 Abs. 2 SGB X könne er eine Neubescheidung seines Antrags unter
Beachtung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verlangen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 20.06.2005 wies die Beklagte den Widerspruch als
unbegründet zurück. Das Kindergeld sei zu Recht als Einkommen im Sinne des § 76
BSHG angerechnet worden. Gemäß § 74 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes
könnten volljährige Kinder die Auszahlung des Kindergeldes an sich selbst erwirken,
wenn der Kindergeldberechtigte ihnen gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht
nicht nachkomme. Dies gelte auch, wenn der Kindergeldberechtigte mangels
Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig sei oder Unterhalt nur in geringer Höhe
leisten müsse. Der Bundesfinanzhof habe entschieden, dass ein Auszahlungsanspruch
des Kindes analog § 74 Abs. 1 Satz 1 und 3 Einkommensteuergesetz bestehe, obwohl
der Vater gegenüber seinem Kinde nicht mehr gesetzlich unterhaltspflichtig war. Auch
das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen habe mit Beschluss vom 02.04.2004
(12 B 1577/03) entschieden, dass die in jenem Fall erfolgte Anrechnung des an den
kindergeldberechtigten Vater gezahlten Kindergeldes bei der Bemessung der
Grundsicherungsleistungen des Kindes rechtmäßig sei. Die entgegenstehende
Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 10.12.2004 (5 B 47/04) überzeuge
nicht, da sich das Gericht nicht mit der Selbsthilfemöglichkeit des § 74
Einkommensteuergesetz bzw. der Bedarfsdeckung durch das dem Haushalt
zufließende Kindergeld auseinandergesetzt habe. Seit dem 01.01.2005 habe der
Gesetzgeber in § 82 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch Zwölfter Teil - SGB XII -
ausdrücklich geregelt, dass Kindergeld zum Einkommen des minderjährigen Kindes
gehöre. Es gebe keine nachvollziehbaren Gründe, die Zuordnung des Kindergeldes bei
Erreichen der Volljährigkeit generell anders zu regeln. Überdies finde eine Überprüfung
gemäß § 44 SGB X in der Sozialhilfe nicht statt.
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Am 21.07.2005 hat der Kläger vor dem Sozialgericht Köln Klage erhoben. Er hat
vorgetragen, das Kindergeld werde von seinen Eltern nicht gesondert behandelt bzw.
unmittelbar für ihn verwandt. Vielmehr fließe es wie das sonstige Einkommen der Eltern
in einen gemeinsamen Topf der Wirtschaftsgemeinschaft und werde für die Ausgaben
der häuslichen Gemeinschaft eingesetzt.
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Mit Schriftsatz vom 11.08.2005 hat die Beklagte den Kläger insoweit klaglos gestellt,
dass sie ihm für die Zeit ab dem 01.06.2004 Leistungen nach dem
Grundsicherungsgesetz (GSiG) und ab dem 01.01.2005 Leistungen nach dem 4. Kapitel
des SGB XII ohne Anrechnung des Kindergeldes gewährte. Der Kläger hat das
Teilanerkenntnis angenommen.
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Der Kläger hat beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 21.04.2005 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 20.06.2005 zu verurteilen, ihm unter Abänderung der
Bewilligungsbescheide vom 27.03.2003, 24.11. 2003 und 17.02.2004 für die Zeit vom
01.01.2003 bis 31.05.2004 Grundsicherungsleistungen in Höhe von weiteren 154,00
EUR monatlich zu bewilligen.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hat ihre Rechtsauffassung wiederholt.
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Mit Urteil vom 17.01.2006 hat das Sozialgericht Köln die Beklagte zur Zahlung von
weiteren Grundsicherungsleistungen in Höhe von 154,00 EUR monatlich für die Zeit
vom 01.01.2003 bis 31.05.2004 verurteilt. Zur Begründung hat es ausgeführt, § 44 SGB
X sei auf Leistungen nach dem GSiG grundsätzlich anwendbar. Das GSiG sei gemäß §
68 Nr. 18 Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil (SGB I) ein besonderer Teil des
Sozialgesetzbuchs. Das SGB X seinerseits gelte gemäß § 37 Satz 1 erster Halbsatz
SGB i für alle Sozialleistungsbereiche dieses Gesetzbuchs, soweit sich aus den übrigen
Büchern nichts Abweichendes ergebe. Die Sozialhilfe sei in § 9 SGB I ausdrücklich
genannt. Der Begriff der Sozialhilfe umfasse auch die Grundsicherung nach dem
Grundsicherungsgesetz. Es handele sich um einen besonderen Leistungstyp der
Sozialhilfe. Da die Anrechnung des Kindergeldes als Einkommen des Klägers zu
Unrecht erfolgt sei, seien die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X erfüllt.
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Das Urteil ist am 22.02.2006 zugestellt worden.
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Am 03.03.2006 hat die Beklagte Berufung eingelegt, zu deren Begründung sie ihr
bisheriges Vorbringen wiederholt und ergänzend vorträgt, dass die Anwendbarkeit des
SGB X für besondere Teile des Sozialgesetzbuches, die nach Inkrafttreten der Vorschrift
des 1. Kapitels des SGB X Bestandteil des Sozialgesetzbuches werden, gemäß § 1
Abs. 1 Satz 2 SGB X voraussetze, dass mit Zustimmung des Bundesrates die
Vorschriften des ersten Kapitels SGB X für anwendbar erklärt werden. Hieran fehle es
hinsichtlich des Grundsicherungsgesetzes. Da das SGB X keine Anwendung finde, sei
§ 48 Verwaitungsverfahrensgesetz NRW (VwVfG) anzuwenden. Gemäß § 48 VwVfG
könne ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist,
ganz oder mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen
werden. Die Beklagte habe insofern im Rahmen ihres pflichtgemäßen Ermessens
entschieden, dass entsprechend der ständigen Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts die Strukturprinzipien der Sozialhilfe einer
Leistungsgewährung entgegen stünden. Auch sei die Anrechnung des Kindergeldes für
die Vergangenheit im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
(Urteil vom 28.04.2005, 5 C 28/04) nicht automatisch rechtswidrig. Bei der Entscheidung
über die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes sei vielmehr auf den Kenntnisstand
und die Rechtsprechung im Zeitpunkt der jeweiligen Entscheidung abzustellen. Die
Rechtslage sei zum Entscheidungszeitpunkt kontrovers diskutiert worden. Es mangele
daher bereits an der Rechtswidrigkeit der in der Vergangenheit getroffenen
rechtskräftigen Entscheidung.
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Die Beklagte beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 17.01.2006 abzuändern und die Klage
abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die Vorbehaltsklausel des § 1 Abs. 1 Satz
2 SGB X stehe der Anwendbarkeit des § 44 SGB X nicht entgegen. Die Klausel habe
dann keine Bedeutung, soweit in den §§ 3 bis 10 SGB I bereits aufgezählte
Leistungsbereiche in das Sozialgesetzbuch aufgenommen würden, da diese
Sozialleistungsbereiche bereits am 01.01.1981 Bestandteil des Sozialgesetzbuches
gewesen seien. Die Grundsicherung sei eine Leistungsart der Sozialhilfe und in § 9
SGB I ausdrücklich aufgeführt. Hierfür spreche auch die Regelung des § 28 Abs. 1 SGB
I. Auch der Gesetzgeber habe in § 8 Nr. 2 SGB XII in der ab dem 01.01.2005 geltenden
Fassung nunmehr ausdrücklich klargestellt, dass die Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung als Teil der Sozialhilfe anzusehen sei. Dieses grundlegende
Verständnis der Grundsicherung als Unterfall der Sozialhilfe habe aber bereits vor der
Integration des GSiG in die §§ 41 ff. SGB XII bestanden. Auch die seitens des
Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Strukturprinzipien zur Sozialhilfe stünden der
Anwendung des § 44 SGB X nicht entgegen. Trotz ihrer Eingliederung in die Sozialhilfe
folge die Grundsicherung gewissen eigenständigen Regelungen. Es handele sich um
eine auf Dauer angelegte Sozialleistung, die in der Regel in Jahresabschnitten bewilligt
werde. Der Bewiiligungsbescheid stelle daher einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung
dar. Im Gegensatz hierzu erfolge die Bewilligung der Hilfe zum Lebensunterhalt in der
Regel monatsweise. Anders als die Sozialhilfe, die nur den nach den Besonderheiten
des Einzelfalles "notwendigen" Lebensunterhalt nach dem Bedarfsdeckungsprinzip
sicherstelle, sei die Grundsicherungsleistung bedarfsorientiert, da sie nur dann
eingreife, wenn das eigene Einkommen und Vermögen des Anspruchsberechtigten
sowie seiner Angehörigen nicht ausreiche, um den teilweise pauschalierten
Grundbedarf abzudecken. Auch sei das Kindergeld zu Unrecht als Einkommen des
Klägers angerechnet worden. Kindergeld sei sozialhilferechtlich Einkommen dessen, an
den es gezahlt werde.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt des
beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Beklagten sowie der Prozessakten Bezug
genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet. Das Sozialgericht hat sie zu
Recht verurteilt, dem Kläger unter Abänderung der Bewilligungsbescheide vom
27.03.2003, 24.11.2003 und 17. 02.2004 für die Zeit vom 01.01.2003 bis zum
31.05.2004 Grundsicherungsleistungen in Höhe von weiteren 154,00 EUR monatlich zu
bewilligen.
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Die Bestandskraft der Bewilligungsbescheide für den streitbefangenen Zeitraum steht
dem nicht entgegen, da sie gemäß § 44 SGB X durchbrochen ist.
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Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsakts das Recht
unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als
unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder
Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er
unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Dies
gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in
wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (§ 44 Abs. 1 SGB X).
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Leistungen werden längstens für einen Zeitraum bis zu 4 Jahren vor der Rücknahme
erbracht. Dabei ist auf den Beginn des Jahres abzustellen, in dem der Antrag auf
Überprüfung gestellt ist (§ 44 Abs. 4 SGB X).
§ 44 SGB X findet auch auf Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz Anwendung.
Dem steht § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB X nicht entgegen. Danach gelten die Vorschriften des
ersten Kapitels des SGB X für die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der
Gemeinden und Gemeindeverbände zur Ausführung von besonderen Teilen dieses
Gesetzbuches, die nach In-kraft-treten der Vorschriften dieses Kapitels Bestandteil des
Sozialgesetzbuches werden, nur, soweit diese besonderen Teile mit Zustimmung des
Bundesrates die Vorschriften dieses Kapitels für anwendbar erklären. Zwar ist eine
entsprechende Anwendbarkeitserklärung mit Zustimmung des Bundesrates hinsichtlich
des GSiG nicht erfolgt. Eine solche Erklärung war aber entbehrlich, denn die
Grundsicherung im Alter bei Erwerbsminderung ist eine besondere Form der Hilfe zum
Lebensunterhalt und gehört zu den Leistungen der Sozialhilfe gemäß § 9 Abs. 1 SGB I,
welche wie die übrigen in den §§ 3 bis 10 SGB I aufgeführten Sozialleistungen mit
Inkrafttreten des SGB I am 01.01.1976 und damit bereits bei Inkrafttreten des SGB X am
01.01.1981 Bestandteil des Sozialgesetzbuches waren.
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Als Sozialhilfeleistung gemäß § 9 Satz 1 SGB I ist die persönliche und wirtschaftliche
Hilfe, auf die ein Rechtsanspruch hat, wer nicht in der Lage ist, aus eigenen Kräften
seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, anzusehen. In ihrem Kern handelt es sich um
Leistungen, die bei Bedürftigkeit zur Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums
zu gewähren sind. Die gesetzliche Regelung verdeutlicht, dass nicht auf die formal
rechtliche Behandlung der Leistung abzustellen ist, sondern Leistungen einbezogen
sind, die materiell-rechtlich als Sozialhilfe ausgestaltet sind, auch wenn sie in einem
gesonderten formellen Gesetz normiert sind. Die Leistungen nach dem GSiG stellten
ungeachtet ihrer Modifikationen bei der Bedarfsdeckung und des Nachrangs gegenüber
dem Verwandtenunterhalt materiell-rechtlich Sozialhilfeleistungen dar. Sie modifizieren
lediglich die sozial hilferechtlichen Regelungen im Hinblick auf den Umfang der
Bedarfsdeckung und den Rückgriff auf Unterhaltsansprüche, um einerseits die
Inanspruchnahme der Leistungen zu erleichtern, in dem der Familienverband vom
Rückgriff auf Unterhaltsansprüche verschont bleibt, und andererseits durch eine
antragsabhängige pauschalierte Bedarfsdeckung, welche sogar
verschuldensunabhängig ausgestaltet gewesen ist, ein vereinfachtes
Verwaltungsverfahren zu ermöglichen (vgl. SG Darmstadt, Urteil vom 20.06.2006, Az.: S
16 SO 127/06, m.w.N.). Entsprechend sollten die Grundsicherungsleistungen zunächst
als besondere Sozialhilfeleistungen in das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) integriert
werden (vgl. Artikel 8 des Entwurfs eines Altersvermögensgesetzes, BT-Drucksache
14/4595, Seite 30). Da es hiergegen jedoch politische Widerstände gab, wurde die
Leistung in einem besonderen Gesetz, dem GSiG normiert (vgl. hierzu den Bericht des
Ausschusses für Arbeit- und Sozialordnung, BT-Drucksache 14/5150, Seiten 48 bis 51).
Seit dem 01.01.2005 ist die Grundsicherungsleistung Bestandteil des SGB XII in dessen
viertem Kapitel (§§ 41 bis 46 SGB XII). § 8 Nr. 2 SGB XII bestimmt nunmehr
ausdrücklich, dass die Sozialhilfe die Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung umfasst (vgl. Sozialgericht Aachen, Urteil vom 14.08.2007, Az.: S 20
SO 34/07). Das GSiG ist mit dem BSHG nicht deshalb als Teil des "Sozialhilferechts" im
SGB XII vereint worden, weil sich die Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung nach grundlegender Sachreform von einer eigenständigen,
sozialhilfefremden Leistung in eine sozialhilfeartige gewandelt hätte. Geändert hatte
sich vor allem das Urteil des Gesetzgebers über die sachgerechte gesetzliche
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"Verortung" der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Sie ist nach wie
vor - ohne Rücksicht auf ihren Standort im GSiG oder im SGB XII -ein "besonderer
Leistungstypus der Sozialhilfe" geblieben. Daran knüpft die zeitgleich bereits 2003 mit
Artikel 38 Einordnungsgesetz beschlossene und zum 01. Januar 2005 eingeführte
Zuweisung der so verstandenen "Sozialhilfe" an die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit
an (vgl. BSG, Beschluss vom 13.10.2005, Az.: B 9 b SF 4/05 R, m.w.N.). Entsprechend
hat auch das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 10.12.2004 (Az.: 5 B 47/04)
ausgeführt, dass die Grundsicherung nach dem GSiG unter dem für die
Gerichtskostenfreiheit maßgebenden Gesichtspunkt der Fürsorge zum Sachgebiet der
Sozialhilfe im weiten Sinne des § 188 VwGO gehört. Sind Leistungen nach dem GSiG
aber Bestandteil der Sozialhilfe, so galt und gilt das 1. Kapitel des SGB X - und mithin §
44 - für diese Leistungen auch ohne besondere Anwendungsbestimmung (vgl. SG
Aachen, a.a.O.; SG Darmstadt, a.a.O.; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss
vom 13.04.2005, Az.: 12 ZB 05.262; VG Aachen, Urteil vom 19.07.2005, Az.: 2 K 469/04;
SG Köln, Urteil vom 06.02.2006, Az.: S 10 SO 15/05; SG Münster, Urteil vom
15.01.2007, Az.: S 8 (12) SO 133/05; anderer Auffassung: LSG Baden-Württemberg,
Urteil vom 28.06.2007, Az.: L 7 SO 5884/06; Mergeler/Zink, BSHG, 4. Auflage, GSiG,
Einführung, Seite 2; vermittelnd im Sinne einer analogen Anwendung des § 44 SGB X
auf Grundsicherungsleistungen: OVG NRW, Beschluss vom 21.03.2007, Az.: 12 A
3301/05).
Der Anwendbarkeit des § 44 SGB X steht auch nicht die vom Bundesverwaltungsgericht
in ständiger Rechtsprechung (BVerwGE 90,160 ff.; 96,152 ff.; 99,149 ff.) vertretene
Auffassung zur Nichtanwendbarkeit des § 44 SGB X im Sozialhilferecht entgegen. Dem
Gesetzgeber kam es mit der Schaffung der Grundsicherungsleistungen ersichtlich
darauf an, eine Sozialleistung für ältere und erwerbsgeminderte Menschen zu
schaffen.die zwar an die Hilfe zum Lebensunterhalt angelehnt ist, jedoch den
besonderen Bedürfnissen dieser Personengruppe, für die Hilfe zum Lebensunterhalt
faktisch als Dauerleistung zu gewähren war, durch eine Reihe von gegenüber der Hilfe
zum Lebensunterhalt abweichenden Regelungen Rechnung zu tragen. So besteht
hinsichtlich der Grundsicherungsleistungeri keine Nachrangigkeit gegenüber anderen
Sozialleistungen ...Die Leistung ist antragsabhängig und der Höhe nach
bedarfsorientiert, nicht aber bedarfsdeckend. Es handelt sich um eine befristete
Dauerleistung, welche rückwirkend ab Beginn des Antragsmonats gezahlt wird. Anders
als der Regelfall in der Sozialhilfe kann also bei der Grundsicherung zur Zeit der
Rücknahme nach § 44 Abs. 1 SGB X und der Leistungserbringung nach § 44 Abs. 4
SGB X durchaus ein Anspruch auf die Grundsicherung noch bestehen, weil die
Grundsicherung eben nicht am sozialhilferechtlichen Bedarf ausgerichtet ist (vgl.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, a.a.O.; SG Aachen, Urteil vom 13.09.2006, Az.: S
19 SO 14/06; SG Münster, a.a.O., SG Köln, a.a.O.; im Ergebnis auch: OVG NRW,
Beschluss vom 21.03.2007, a.a.O.).
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Die Voraussetzungen gemäß § 44 Abs. 1 SGB X liegen vor, denn die Bescheide vom
27.03.2003, 24.11.2003 und 17.02.2004 sind rechtswidrig, weil der Kläger für den
streitigen Zeitraum einen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen ohne Anrechnung
des an seinen Vater gezahlten Kindergeldes in Höhe von 154,00 EUR monatlich gehabt
hat. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist bei der Berechnung der
Grundsicherungsleistungen das den Eltern des Betroffenen gewährte Kindergeld nicht
leistungsmindernd als zuzurechnendes Einkommen zu berücksichtigen (Urteile vom
08.02.2007, Az.: B 9 b SO 6/05 R und B 9 b SO 6/06 R; auch:
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 28.04.2005, Az.: 5 C 28/04 und Beschluss vom
29
10.12.2004, Az.: 5 B 47/04). Dieser Rechtsprechung schließt sich der Senat nach
eigener Überprüfung an. Denn Kindergeld ist grundsätzlich demjenigen als Einkommen
zuzurechnen, an den es ausgezahlt wird, hier dem Vater des Klägers. Weder hat dieser
das Kindergeld dem Kläger zugewendet, noch ist es ihm kraft Gesetzes zuzurechnen.
Dies wäre nur bei einer Weiterleitung, wenn es also dem Kind tatsächlich als
Geldbetrag zufließt, der Fall (BSG, a.a.O.). Dies ist hier aber nicht geschehen. Auch aus
§ 74 Einkommensteuergesetz (EStG) lässt sich keine Anrechnung des Kindergeldes
beim Kläger herleiten. Gemäß § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG kann das nach § 66 Abs. 1 EStG
für ein Kind festgesetzte Kindergeld an dieses ausgezahlt werden, wenn der
Kindergeldberechtigte ihm gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht
nachkommt. Nach § 74 Abs. 1 Satz 3 EStG kann eine Abzweigung an das Kind auch
erfolgen, wenn der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht
unterhaltspflichtig ist oder nur Unterhalt in Höhe eines Betrages zu leisten braucht, der
geringer ist als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld. Ein in § 74
Abs. 1 EStG vorausgesetztes Unterhaltsdefizit des Kindes liegt im Falle des Klägers
nicht vor. Zwar hat dieser grundsätzlich Unterhaltsansprüche im Sinne des § 1602 BGB
gegen seine Eltern. Diese reduzieren sich jedoch durch die von der Beklagten
gezahlten Grundsicherungsleistungen. Einen darüber hinausgehenden rechtlich
bedeutsamen Unterhaltsbedarf des Klägers, der nicht durch Naturalleistungen seiner
Eltern gedeckt wird, hat die Beklagte nicht aufgezeigt.
Eine Anrechnung des Betrages von 154,00 EUR monatlich ist auch nicht deshalb
gerechtfertigt, weil der Kläger Naturalleistungen durch seine Eltern erhält. Der
Unterhaltsbedarf eines voll erwerbsgeminderten volljährigen Kindes wird vorrangig
durch die Grundsicherung gedeckt, die als Einkommen im Sinne des Unterhaltsrechts
gilt und daher in diesem Umfang die Unterhaltspflicht der Eltern zum Erlöschen bringt.
Hieraus folgt, dass der Bedarf des Klägers grundsätzlich aus seinem eigenen
Einkommen gedeckt wird. Soweit die Eltern des Klägers Leistungen zu seinem
Lebensunterhalt erbringen, handelt es sich im eigentlichen Sinne nicht um
Unterhaltsleistungen der Eltern an den Kläger. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass
der Kläger - bei Zweckidentität von Naturalleistungen der Eltern und
Gaindsicherungsleistungen sowie bei "Wirtschaften aus einem Topf (wie es auch hier
vorliegt) - mit den von ihm in den "Topf eingebrachten Grundsicherungsleistungen die
Naturalleistungen der Eltern "einkauft". Den Grundsicherungsbedarf des Klägers
übersteigende Naturalleistungen der Eltern haben grundsätzlich keinen Einfluss auf
Bestand und Höhe der Grundsicherungsleistung; sie sind mangels Zweckidentität nicht
als Ein-kommen im sozialhilferechtlichen Sinne einzusetzen. Als Einkommen wären
insoweit allenfalls solche Unterhaltsleistungen zu berücksichtigen, die darüber hinaus
eindeutig abgrenzbar in Geld- oder Geldeswert erfolgen (vgl. BSG, a.a.O., m.w.N.).
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Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf § 48 Abs. 2 SGB X ausführt, hinsichtlich der
Beurteilung der Rechtswidrigkeit der bestandskräftigen Bewilligungsbescheide im
Rahmen des § 44 SGB X sei auf ihren Kenntnisstand zum Entscheidungszeitpunkt
abzustellen, ist dieser Rechtsauffassung nicht zu folgen. Nach dem Wortlaut des § 48
Abs. 2 SGB X bleibt § 44 unberührt. § 44 SGB X stellt aber gerade auf die - vorliegend
gegebene - unrichtige Anwendung des Rechts ab.
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Darüber hinaus begegnen der durch die Beklagte vorgenommenen
Leistungsberechnung keine Bedenken. Dies ist auch nicht beanstandet worden.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
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Der Senat hat im Hinblick auf die Rechtsfrage der Anwendbarkeit des § 44 SGB X auf
Leistungen nach dem GSiG gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG die Revision zugelassen.
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