Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 11.07.2006

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Landessozialgericht NRW, L 16 B 43/06 KR ER
Datum:
11.07.2006
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
16. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 16 B 43/06 KR ER
Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 5 KR 118/06 ER
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des
Sozialgerichts Köln vom 19. Mai 2006 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu
erstatten.
Gründe:
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I.
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Streitig ist ein Anspruch der Antragstellerin (ASt in) auf operative Magenverkleinerung
(Magen-Bypass-Operation) als Sachleistung.
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Die am 00.00.1977 geborene ASt in, die verheiratet ist und ein dreijähriges Kind hat, ist
bei der Antragsgegnerin (AG in) gegen Krankheit versichert. Sie beantragte am
21.09.2005 unter Vorlage ärztlicher Bescheinigungen von Prof. Dr. X, Chirurgische
Abteilung des Krankenhauses T in G, vom 12.09.2005, des Arztes für Frauenheilkunde
Dr. G aus O vom 01.09.2005 und des praktischen Arztes L aus O vom 16.09.2005 sowie
des Reha-Entlassungsberichtes der Klinik O vom 12.07.2005 eine laparoskopische
Magen-Bypass-Operation zur Gewichtsreduktion bei morbider Adipositas Grad III (Body-
Mass-Index -BMI- von 50,7 kg/m2 bei 146 kg Körpergewicht und einer Größe von 1,69
m). Trotz des noch jungen Alters von 28 Jahren leide die ASt in bereits an diversen
Folgeerkrankungen der Adipositas, wie Borderline-Bluthochdruck, Schlafapnoe,
Veränderungen an Knien, Füßen und an der Wirbelsäule sowie an starken
Depressionen. Mit dem Magenbypass sei eine Gewichtsabnahme von 70 bis 75 % des
bestehenden Übergewichts von ca. 80 kg erreichbar. Die empfohlene Operation sei der
Einsetzung eines Magenbandes bei Weitem überlegen, da es zu einer deutlicheren
Gewichtsabnahme komme, kein Fremdmaterial im Körper verbleibe und keine erhöhte
Kalorienzufuhr, z. B. durch Flüssignahrung, möglich sei. Die ASt in habe über einen
Zeitraum von 20 Jahren erfolglos versucht, ihr Gewicht zu verringern. Zahlreiche Diäten
und bislang fünf mehrwöchige Kuraufenthalte hätten lediglich im Sinne eines "Jo-Jo-
Effektes" zu einer weiteren Gewichtszunahme geführt.
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Nach Einschaltung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK)
Nordrhein lehnte die AG in die Gewährung der begehrten Sachleistung mit Bescheid
vom 15.11.2005 ab, da noch nicht alle konservativen Behandlungsmöglichkeiten zur
Gewichtsreduzierung ausgeschöpft seien. Im Rahmen des Vorverfahrens stellte der
MDK nach Untersuchung der ASt in am 02.01.2006 folgende Diagnosen: Adipositas,
Selbstwertproblematik, Lumbago, Knie- und Fußbeschwerden, Hormonstörungen,
Cholezystolithiasis. Es müsse vor Gewährung der Magen-Bypass-Operation noch die
Möglichkeit der Gewichtsabnahme in einer Klinik für Essstörungen wahrgenommen
werden. Nach Auswertung eines weiteren Arztberichtes des Arztes für Innere Medizin
PD Dr. G1 aus C vom 23.02.2006 wies die AG in den Widerspruch der ASt in mit
Widerspruchsbescheid vom 09.03.2006 als unbegründet zurück.
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Mit der am 22.03.2006 zum Sozialgericht Köln erhobenen Klage hat die Klägerin unter
Vorlage zahlreicher Unterlagen geltend gemacht, es liege inzwischen eine
lebensbedrohliche morbide Adipositas (BMI von 52, 4 kg/m2, Stand: 23.02.2006) vor,
die zahlreiche, zum Teil hochgefährliche Begleiterkrankungen nach sich gezogen habe.
Es habe die akute Gefahr eines Hirninfarktes bestanden. Auch drohe ihr der Verlust
ihrer Arbeitskraft - sie sei auf 400-Euro-Basis als Altenpflegehelferin tätig - und damit
gesellschaftliche Isolation. Problematisch sei bei ihr die übermäßige Zufuhr von deftigen
Nahrungsmitteln wegen fehlenden bzw. zu spät einsetzenden Sättigungsgefühls. Da
alle bisherigen - zahlreichen - Versuche einer Gewichtsreduzierung gescheitert seien,
stelle die beantragte Leistung die ultima ratio dar. Jeden Monat steige ihr Gewicht um
circa 500 g.
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Zugleich hat die ASt in im Rahmen eines am 11.05.2006 eingeleiteten einstweiligen
Rechtsschutzverfahrens die Sachleistung mit der Begründung geltend gemacht, es
bestehe Lebensgefahr. Der dramatische Gewichtsanstieg müsse dringend gestoppt
werden. Das Hauptsacheverfahren abzuwarten, komme nicht in Betracht.
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Die ASt in hat beantragt,
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den Bescheid der AG in vom 15.11.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 09.03.3006 aufzuheben und die AG in zu verurteilen, antragsgemäß im Wege des
Erlasses einer einstweiligen Anordnung die Kosten für eine minimalinvasive operative
Magenverkleinerung zur Behandlung der Adipositas zu übernehmen.
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Die AG in hat beantragt,
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den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zurückzuweisen.
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Zur Begründung hat sie auf den ihrer Auffassung nach rechtmäßigen angefochten
Bescheid Bezug genommen und im Hauptsacheverfahren die Einholung eines
Sachverständigengutachtens angeregt.
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Mit Beschluss vom 19.05.2006 hat das Sozialgericht den Erlass einer einstweiligen
Anordnung unter Aufhebung der Bescheide vom 15.11.2005 und 09.03.2006 abgelehnt.
Zur Begründung hat es im Wesentlichen darauf abgestellt, es bestehe kein
Anordnungsgrund. Die ASt in habe weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht, dass
sie außer Stande sei, die Operationskosten aus eigenem Einkommen oder Vermögen
bzw. aus Unterhaltsansprüchen vorzustrecken. Es fehle aber auch an einem
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Anordnungsanspruch, zumal die Hauptsache vorweggenommen werden solle.
Eigenbemühungen der ASt in seien in der Vergangenheit zumindest kurzzeitig
erfolgreich gewesen. Sollte eine lebensbedrohliche Situation bestehen, so müsse diese
erst recht Motivation und Anlass zur Gewichtsreduktion aus Eigeninitiative geben. Damit
könne die ASt in zudem verdeutlichen, dass - gegebenenfalls in Verbindung mit der
begehrten Operation - eine längerfristige Gewichtsabnahme erreichbar sei. Auch würde
sich eine solche positiv auf das Operationsgeschehen und -risiko auswirken.
Wesentliche Impulse seien auch von einer psychotherapeutischen Aufarbeitung der
bestehenden Probleme zu erwarten.
Gegen den ihrem Prozessbevollmächtigten am 29.05.2006 zugestellten Beschluss hat
dieser am 26.06.2006 Beschwerde erhoben, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat.
Zur Begründung trägt der Prozessbevollmächtigte der ASt in mit Schriftsatz vom
06.07.2006 ergänzend vor, diese müsse sich nicht auf die Vorfinanzierung einer
Sachleistung, auf die ein Rechtsanspruch bestehe, verweisen lassen. Falls der Senat
dies anders sehe, würden die Einkommens- und Vermögensverhältnisse im Einzelnen
dargelegt. Die Eilbedürftigkeit ergebe sich insbesondere im Hinblick darauf, dass wegen
des dauerhaften und massiven Übergewichts die akute Gefahr der Karzinombildung
bestehe. Trotz entsprechender Prophylaxe, u. a. durch Einsetzen eines Mirena
Intrauterinpessars, werde sich ohne eine radikale Gewichtsabnahme aller
Wahrscheinlichkeit nach ein Gebärmutterkrebs ausbilden. Zur Glaubhaftmachung legt
die ASt in eine ärztliche Bescheinigung von Dr. N, Frauenklinik des
Kreiskrankenhauses X1, ohne Datum vor. Dieser sieht es aus medizinischer Sicht als
"absolut indiziert" an, dass die ASt in eine radikale Gewichtsreduktion anstrebe, weil
ansonsten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Vorstufen zum
Gebärmutterschleimhautkrebs entstehen würden. Er unterstütze auch operative
Maßnahmen, wie z. B. eine Magen-Teilresektion, falls diese in einer geeigneten
Einrichtung als indiziert betrachtet werden sollte. Der Prozessbevollmächtigte der ASt in
weist weiter darauf hin, dass eine Nachbetreuung durch das Krankenhaus T/G, in dem
die Operation durchgeführt werden solle, in ausreichendem Maße gewährleistet sei. Die
konservativen Therapiemöglichkeiten seien erfolglos ausgeschöpft. Die begehrte
Operation stelle die ultima ratio dar. Die ASt in beantragt schriftsätzlich,
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den Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 19.05.2006 zu ändern sowie den Bescheid
der AG in vom 15.11.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.03.3006
aufzuheben und diese zu verurteilen, antragsgemäß im Wege des Erlasses einer
einstweiligen Anordnung die Kosten für eine minimalinvasive operative
Magenverkleinerung zur Behandlung der Adipositas zu übernehmen.
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Die AG in beantragt schriftsätzlich,
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die Beschwerde zurückzuweisen.
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Sie erachtet den angefochtenen Beschluss als zutreffend.
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Wegen der weiteren Einzelheiten der Sach- und Rechtslage wird auf den Inhalt der
Prozessakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten und der beigezogenen Akte des
Sozialgerichts Köln, Az.: S 5 KR 79/06 (Hauptsacheverfahren), Bezug genommen, die
ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der Beratung und Entscheidung gewesen
sind.
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II.
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Die Beschwerde der ASt in gegen den Beschluss des Sozialgerichts Köln vom
19.05.2006 hat keinen Erfolg. Sie ist gemäß § 172 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig,
aber nicht begründet. Das Sozialgericht hat zu Recht den Erlass einer einstweiligen
Anordnung abgelehnt.
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Nach § 86b Abs. 2 SGG können einstweilige Anordnungen zur Regelung eines
vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erfolgen, wenn eine
solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind insoweit glaubhaft zu machen, vgl. §
86b Abs. 2 S. 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO). Das einstweilige
Rechtsschutzverfahren dient vorläufigen Regelungen. Nur wenn diese zur Gewährung
einstweiligen Rechtsschutzes schlechterdings notwendig sind, d. h. wenn die sonst zu
erwartenden Nachteile für den Antragsteller unzumutbar wären und ein hoher Grad an
Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache spricht, weil dem
Rechtschutzsuchenden ein bestimmter Anspruch zusteht (vgl. BVerwG, Beschl. vom
13.08.1999, Az.: 2 VR 1/99, jurisweb, Juris-Kennnummer WBRE410005955, RdNr. 24 f.;
Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl. 2005, § 86b RdNr. 31 m. w. N.), ist
ausnahmsweise die Vorwegnahme der Hauptsache, wie sie hier von der ASt in begehrt
wird, im vorläufigen Rechtsschutzverfahren zulässig (vgl. BVerwG, Beschl. vom
13.08.1999, a. a. O.; Meyer-Ladewig, a. a. O.; ständige Rechtsprechung des Senats, vgl.
Beschlüsse des Senats vom 16.10.2002 - L 16 KR 219/02 ER -, vom 13.05.2004 - L 16
B 20/04 KR ER -, vom 29.11.2005 - L 16 B 90/05 - sowie vom 06.04.2006 - L 16 B 3/06
KR ER -). Den bei einer Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Grad an
Wahrscheinlichkeit für ein Obsiegen der ASt in im Hauptsacheverfahren und damit
einen Anordnungsanspruch vermag der Senat bei summarischer Prüfung der Sach- und
Rechtslage, wie sie in einstweiligen Rechtsschutzverfahren geboten ist, nicht zu
erkennen. Vielmehr ist der Ausgang des Klageverfahrens zum gegenwärtigen Zeitpunkt
als offen mit einer gewissen Tendenz zu Gunsten der ASt in zu beurteilen. Dies reicht
als Grundlage für eine für die ASt in positive Entscheidung im einstweiligen
Rechtsschutzverfahren nicht aus. Vielmehr bedarf es aus Sicht des Senates einer
zeitlich sicherlich drängenden Beweiserhebung, um im Einzelnen klären zu können, ob
die Voraussetzungen des geltend gemachten Sachleistungsanspruchs vorliegen, wobei
der Senat nicht verkennt, dass die ASt in offensichtlich in der Vergangenheit bereits
zahlreiche Versuche, auch mit fachkundiger Hilfe, ihr Gewicht dauerhaft zu vermindern,
unternommen hat, die allesamt nicht zu dem erhofften Erfolg verhalfen. Auch mag im
Hinblick auf das noch jugendliche Alter der ASt in sowie die Schwere der Erkrankung
und die bereits aufgetretenen Folgeleiden, auch auf gynäkologischem Fachgebiet, im
Fall der ASt in die Operationsindikation eher bestehen als in vergleichbaren
Parallelfällen, die dem Senat bereits zur Entscheidung vorlagen. Allerdings lassen sich
zum gegenwärtigen Zeitpunkt - ohne Einholung von Sachverständigengutachten - die
vom Bundessozialgericht (BSG) in dem Urteil vom 19.02.2003 (Az.: B 1 KR 1/02 R,
Sozialrecht -SozR- 4-2500 § 137c Nr. 1) genannten Voraussetzungen für eine
Leistungsbewilligung, wie tolerables Operationsrisiko, Fehlen einer manifesten
psychiatrischen Erkrankung, Möglichkeit einer lebenslangen medizinischen
Nachbetreuung, nicht ohne Weiteres bejahen. Allein ein BMI von mehr als 40 reicht
insoweit nicht aus.
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Die ASt in hat aber auch weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht, dass ein
Anordnungsgrund gegeben ist. Abgesehen von Möglichkeiten einer Vorfinanzierung
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durch die verheiratete ASt in, die in einem eigenen Haus lebt, sprechen auch der
Umstand der Einlegung des Rechtsmittels erst knapp einen Monat nach Zustellung der
Entscheidung des Sozialgerichts und weitere zwei Wochen später vorgelegte
Begründung gegen eine Eilbedürftigkeit. Dass ohne sofortige Operation akute
Lebensgefahr für die ASt in bestehe, hat diese nicht glaubhaft gemacht. Bezüglich der
Gefahr einer Karzinombildung im Bereich der Gebärmutterschleimhaut steht die ASt in
unter ständiger medizinischer Kontrolle. Auch sind bereits prophylaktische Maßnahmen
getroffen worden. An einer Glaubhaftmachung fehlt es auch bezüglich sonstiger
drohender schwerer Gesundheitsschäden.
Sollte sich der Gesundheitszustand der ASt in in Zukunft dramatisch verschlechtern und
sie eine lebensbedrohliche Situation glaubhaft machen können, steht ihr jederzeit frei,
einen neuen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zu stellen, wobei die Anordnung
gemäß § 86b Abs. 2 S. 4 SGG i. V. m. § 921 ZPO von einer Sicherheitsleistung
abhängig gemacht werden kann, selbst wenn der Anordnungsanspruch und der -grund
glaubhaft gemacht sind. Der Senat geht jedoch auch davon aus, dass sich das
Sozialgericht um eine zügige Erledigung der Hauptsache bemühen wird.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Der Beschluss kann nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten
werden (§ 177 SGG).
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