Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 12.01.2000

LSG NRW: behandlung, ermächtigung, versorgung, beschränkung, niedergelassener, kinderheilkunde, kompetenz, vorrang, krankheit, zusammenarbeit

Landessozialgericht NRW, L 11 KA 106/99
Datum:
12.01.2000
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
11. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 11 KA 106/99
Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 19 KA 40/98
Sachgebiet:
Vertragsarztrecht
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Köln
vom 21.04.1999 abgeändert. Unter Aufhebung des Beschlusses des
Beklagten vom 21.10.1998 wird der Widerspruch des Beigeladenen zu
5) zurückgewiesen. Der Beigeladene zu 5) trägt die außergerichtlichen
Kosten der Klägerin und des Beklagten für beide Rechtszüge. Die
Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten über den Umfang der Ermächtigung des Sozialpädiatrischen
Zentrums des Beigeladenen zu 5), konkret über den Kreis der
überweisungsberechtigten Vertragsärzte.
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Das Sozialpädiatrische Zentrum ist seit 1990 zur Teilnahme an der vertragsärztlichen
Versorgung nach § 119 SGB V ermächtigt. Zum Umfang der früheren Ermächtigungen
waren die Berufungsverfahren L 11 KA 90/95 und L 11 KA 60/98 vor dem Senat
anhängig. Für den Zeitraum bis zum 30.09.2000 sprach der Zulassungsausschuß eine
Ermächtigung aus auf Überweisung von Fachärzten für Kinderheilkunde, von
Fachärzten für Nervenheilkunde und von Fachärzten für Kinder- und Jugendpsychiatrie
für die Durchführung besonderer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden auf dem
kurativen Sektor bei cerebral- und/oder neuralgestörten Kindern für
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1. sozialpädiatrische Diagnostik, 2. neuropädiatrische Therapie, 3. Psychotherapie, 4.
Entwicklungs- und funktionstherapeutische Maßnahmen (zum Beispiel
Krankengymnastik, Ergotherapie, Logopädie).
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Auf den Widerspruch der Klägerin erweiterte der Beklagte mit Beschluss vom
21.10.1998 den Überweiserkreis der Ermächtigung auf alle Vertragsärzte. Eine
Beschränkung des Überweiserkreises komme nur in Betracht, wenn das
Leistungsangebot der zugelassenen Vertragsärzte weder unter quantitativen noch unter
qualitativen Gesichtspunkten Defizite aufweise und die Ermächtigung lediglich der
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Behandlung besonderer Problemfälle diene. Das sei hier nicht der Fall. Im
Planungsbereich erbringe kein niedergelassener Arzt in eigener Praxis das volle
Leistungsspektrum eines Sozialpädiatrischen Zentrums.
Dagegen hat die Klägerin Klage erhoben und vorgetragen, es bestehe bei der
Versorgung von Kindern kein quantitativ und qualitativ unzureichendes
Leistungsangebot. Aus § 119 Abs. 2 SGB V ergebe sich ein Stufenverhältnis, nach dem
zunächst geeignete Ärzte oder geeignete Frühförderstellen die Behandlung
übernehmen sollten und erst am Ende ein Sozialpädiatrisches Zentrum in die
Behandlung einbezogen werden solle.
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Die Klägerin hat beantragt,
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den Beschluss des Berufungsausschusses für Kassenarztzulassungen Nordrhein vom
21.10.1998 aufzuheben.
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Der Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Der Beigeladene zu 5) hat ebenfalls beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Mit Urteil vom 21.04.1999 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung
hat es auf die Gründe im angefochtenen Bescheid Bezug genommen. Ergänzend hat
das Gericht darauf hingewiesen, daß dem Hausarzt eine höhere sozialpädiatrische
Kompetenz zugebilligt werden müsse, weil er das soziale Umfeld des betroffenen
Kindes besser kenne als der mit einem Fall erstmals befaßte Kinderarzt.
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Mit ihrer Berufung rügt die Klägerin, dass das in § 119 SGB V zum Ausdruck kommende
Stufenverhältnis nicht hinreichend berücksichtigt worden sei. Dem gesetzlich normierten
Vorrang der Versorgung durch geeignete Vertragsärzte und Frühförderstellen könne nur
durch eine Einschränkung des Überweiserkreises Rechnung getragen werden.
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Die Klägerin beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 21.04.1999 abzuändern und den Bescheid des
Beklagten vom 21.10.1998 aufzuheben, soweit er den Kreis der
überweisungsberechtigten Ärzte erweitert hat, hilfsweise, den Beklagten zu verurteilen,
erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senates bezüglich des Kreises der
zur Überweisung berechtigten Ärzte zu entscheiden.
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Der Beklagte sowie die Beigeladenen zu 3/, 5), 6) und 7) beantragen,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes, auch des Vorbringens
der Beteiligten, wird auf die Gerichtsakte, die beigezogene Akte des Beklagten sowie
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die Akten des Sozialgerichts Köln S 19 KA 15/97 und S 19 KA 78/94 verwiesen. Deren
Inhalt war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu
Unrecht abgewiesen. Der Beschluss des Beklagten ist rechtswidrig, soweit der
Überweiserkreis für die Ermächtigung des Sozialpädiatrischen Zentrums des
Beigeladenen zu 5) auf alle Vertragsärzte ausgedehnt worden ist.
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Gemäß § 119 Abs. 1 Satz 1 SGB V können Sozialpädiatrische Zentren, die fachlich-
medizinisch unter ständiger ärztlicher Leitung stehen und die Gewähr für eine
leistungsfähige und wirtschaftliche sozialpädiatrische Behandlung bieten, zur
ambulanten sozialpädiatrischen Behandlung von Kindern ermächtigt werden. Die
Ermächtigung ist gemäß § 119 Abs. 1 Satz 2 SGB V zu erteilen, soweit und solange sie
notwendig ist, um eine ausreichende sozialpädiatrische Behandlung sicherzustellen.
Nach § 119 Abs. 2 Satz 1 SGB V ist die Behandlung durch Sozialpädiatrische Zentren
auf diejenigen Kinder auszurichten, die wegen der Art, Schwere oder Dauer ihrer
Krankheit oder einer drohenden Krankheit nicht von geeigneten Ärzten oder in
geeigneten Frühförderstellen behandelt werden können. Hieraus ergibt sich, dass eine
Einschränkung des Kreises der Vertragsärzte, die Überweisungen an ein
Sozialpädiatrisches Zentrum vornehmen können, geboten ist. Zwar ist grundsätzlich
nach der Rechtsprechung des BSG (SozR 3-2500 § 116 Nrn. 11 und 12) für eine
Beschränkung des Überweiserkreises kein Raum, wenn ein quantitatives oder
qualitatives Versorgungsdefizit besteht. Es ist auch unstreitig, dass im
Versorgungsbereich die sozialpädiatrische Behandlung von Kindern nicht durch Praxen
niedergelassener Vertragsärzte sichergestellt ist, die über die organisatorischen,
personellen und apparativen Voraussetzungen wie ein Sozialpädiatrisches Zentrum
verfügen (vgl. hierzu BSG SozR 3-2500 § 119 Nr. 1). Hieraus kann aber lediglich auf
einen grundsätzlichen Bedarf für eine Ermächtigung des Sozialpädiatrischen Zentrums
geschlossen werden. Hinsichtlich des Überweiserkreises ergeben sich aus der
gesetzlichen Vorschrift des § 119 Abs. 2 Satz 1 SGB V Besonderheiten. Es ist darin
nicht nur ein wiederholter Hinweis auf den auch ansonsten geltenden Vorrang
niedergelassener Vertragsärzte zu sehen, wie bereits in § 119 Abs. 1 Satz 2 SGB V
formuliert ist. Mit dem Hinweis auf "geeignete Ärzte" und der Beschränkung auf
bestimmte Krankheitsbilder ist vielmehr noch einmal besonders hervorgehoben, dass
die Behandlung primär durch Vertragsärzte erfolgen soll, die für die Beurteilung von Art,
Schwere und Dauer der Erkrankung eines Kindes kompetent sind. Gleichzeitig folgt
daraus, dass nur bei bestimmten besonderen pädiatrischen Erkrankungen die
Diagnostik und Therapie in einem Sozialpädiatrischen Zentrum erfolgen soll, dass die
Entscheidung über die Erforderlichkeit einer solchen Behandlung nur von denjenigen
Ärzten getroffen werden kann, die ansonsten selbst die sozialpädiatrische Versorgung
sicherstellen. Betont wird dies auch dadurch, dass in § 119 Abs. 2 Satz 2 SGB V eine
enge Zusammenarbeit der Zentren mit den Ärzten und Frühförderstellen vorgesehen ist.
Das ist nur dann sinnvoll, wenn die niedergelassenen Ärzte, die Kinder an ein
Sozialpädiatrisches Zentrum überweisen, über die für eine sozialpädiatrische
Behandlung erforderlichen Kenntnisse verfügen. Für die Beurteilung pädiatrischer
Krankheitsbilder und des damit verbundenen Behandlungsbedarfs, insbesondere der
Frage, ob die Inanspruchnahme der besonderen diagnostischen und therapeutischen
Möglichkeiten eines Sozialpädiatrischen Zentrums erforderlich ist, sind aber nicht alle
Vertragsärzte qualifiziert. Nur der fachkundige Gebietsarzt kann beurteilen, ob Art und
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Schwere einer Störung eine Behandlung in einem Sozialpädiatrischen Zentrum
erforderlich machen (vgl. Hencke, in: Peters, Handbuch der Krankenversicherung,
Stand: 15. Juni 1999, § 119 SGB V Randnr. 3). Nach der Weiterbildungsordnung ist
insofern von einer besonderen Kompetenz vor allem der Ärzte für Kinderheilkunde, bei
psychiatrischen Krankheitsbildern auch der Ärzte für Neurologie und Psychiatrie bzw.
Nervenärzte sowie der Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie auszugehen.
Dementsprechend sehen auch die gemeinsamen Empfehlungen der Kassenärztlichen
Bundesvereinigung und der Bundesverbände der Krankenkassen vom 16.10.1989 zur
Ermächtigung von Sozialpädiatrischen Zentren im Rahmen der ambulanten
sozialpädiatrischen Betreuung von Kindern nach § 119 SGB V (abgedruckt bei
Heinemann/Liebold, Leitziffer O 17) vor, dass die Überweisung möglichst durch einen
Kinderarzt erfolgen soll. Damit in Übereinstimmung steht denn auch der Umstand, dass
nach der im Verfahren L 11 KA 60/98 vorgelegten Aufstellung für die Quartale IV/1997
bis II/1998 78,9 % der Überweisungen an das Sozialpädiatrische Zentrum des
Beigeladenen zu 5) durch Kinderärzte erfolgten.
Die Einschränkung des Überweiserkreises führt nicht zu unnötigen Umwegen für die
Versicherten. Sie stellt vielmehr sicher, dass zunächst die fachkompetente Beurteilung
einer Störung im Kindesalter durch die dafür zuständigen Fachärzte erfolgt, die
gegebenenfalls sodann eine Behandlung in Zusammenarbeit mit einem
Sozialpädiatrischen Zentrum durchführen.
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Da der Bescheid des Beklagten allein aus Rechtsgründen keinen Bestand haben kann,
konnte der Senat in der Sache abschließend entsprechend dem Hauptantrag
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183 und 193 SGG.
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Der Senat hat im Hinblick auf die grundsätzliche Bedeutung der Frage der Eingrenzung
des Überweiserkreises gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG die Revision zugelassen.
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