Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 15.06.2007
LSG NRW: gewöhnlicher aufenthalt, befreiung, anerkennung, aufenthalt im ausland, eingliederung, auswanderung, familie, ausreise, tschechoslowakei, zugehörigkeit
Landessozialgericht NRW, L 14 R 363/06
Datum:
15.06.2007
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
14. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 14 R 363/06
Vorinstanz:
Sozialgericht Düsseldorf, S 12 R 14/05
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts
Düsseldorf vom 14.07.2005 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt
auch die notwendigen Kosten des Klägers im zweiten Rechtzug. Die
Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
1
Der Kläger begehrt im Rahmen seiner Regelaltersrente die Berücksichtigung einer
Ersatzzeit wegen verfolgungsbedingten Auslandsaufenhalts für August 1945 bis
Dezember 1949.
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Der im Oktober 1928 in Lodz, Polen, geborene Kläger ist Jude und anerkannt Verfolgter
im Sinne des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (Bescheid des
Regierungsbezirksamtes Koblenz vom 31.08.1956). Von Mai 1940 bis August 1944
musste sich der Kläger im Ghetto Lodz aufhalten, anschließend wurde er in das
Konzentrationslager Auschwitz und sodann in die Lager Kaltwasser, Tannhausen und
zuletzt Schotterwerk in Schlesien verbracht, wo er am 08.05.1945 befreit wurde. Nach
seiner Befreiung hielt sich der Kläger zunächst bis Januar 1946 in Tschenstochau und
anschließend bis April 1947 in Lodz auf, jeweils, um dort Familienangehörige zu
suchen. Über die Tschechoslowakei, Österreich und Italien wanderte er sodann nach
Israel aus. Dort lebt er seit September 1947.
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Der Kläger erhält von der Beklagten unter Berücksichtigung des Gesetzes zur
Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG)
Regelaltersrente ab dem 01.07.1997 (Bescheid der Beklagten vom 11.06.2003). Dabei
erkannte die Beklagte die Zeit vom 01.07.1942 bis zum 31.08.1944 als Ghetto-
Beitragszeit und die Zeit vom 01.09.1944 - 08.05.1945 als Ersatzzeit (NS-
Verfolgungszeit als Beitragszeit) an.
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Aufgrund des Widerspruchs des Klägers mit dem Ziel der Berücksichtigung weiterer
Zeiten, nämlich Ersatzzeiten wegen einer an die Befreiung anschließenden
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Krankheitszeit ab dem 09.05.1945 und eines anschließenden verfolgungsbedingten
Auslandsaufenthalts, zog die Beklagte vom Amt für Wiedergutmachung in Saarburg die
Entschädigungsakte des Klägers bei. Nach Auswertung der Entschädigungsakte stellte
die Beklagte mit weiterem Bescheid vom 15.03.2004 die Regelaltersrente des Klägers
neu fest unter Berücksichtigung der Zeit vom 09.05.1945 bis zum 08.08.1945 als
Ersatzzeit (verfolgungsbedingte Arbeitsunfähigkeit als Beitragszeit). Die
Berücksichtigung der Zeit vom 09.08.1945 bis Dezember 1949 lehnte die Beklagte
hingegen ab. Zur Begründung führte sie aus, die beigezogene Entschädigungsakte
enthalte zwar keine Hinweise über eine nach der Befreiung (08.05.1945) vorliegende
Arbeitsunfähigkeit. Aufgrund des Verfolgungsschicksals des Klägers erkläre sie sich
aber bereit, eine verfolgungsbedingte Arbeitsunfähigkeit im Umfang von drei Monaten
(vom 09.05.1945 bis 08.08.1945) anzuerkennen. Die Anerkennung einer Ersatzzeit
wegen eines verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes könne jedoch nicht erfolgen.
Ein nach dem 08.05.1945 begründeter Auslandsaufenthalt könne nur dann als
Ersatzzeit berücksichtigt werden, wenn er in einem ursächlichen Zusammenhang mit
früheren Verfolgungszeiten stehe. Aus der Entschädigungsakte ergebe sich, dass der
Kläger nach der Befreiung bis April 1947 nach Polen zurückgekehrt sei, um seine
Familie zu suchen (Tschenstochau bzw. Lodz). Erst ab April 1947 sei er über die
Tschechoslowakei, Österreich und Italien im September 1947 in Israel eingewandert.
Bei diesem Sachverhalt sei der ursächliche Zusammenhang zwischen
Verfolgungsmaßnahme und Auslandsaufenthalt nicht mehr gegeben.
Den daraufhin hinsichtlich der Berücksichtigung einer Ersatzzeit wegen
verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts weiter aufrechterhaltenen Widerspruch
begründete der Klägerbevollmächtigte damit, dass der Kläger in Schotterwerk/Schlesien
befreit worden sei, sich also bei Kriegsende in einem Gebiet befunden habe, welches
durch das Kriegsende zum Ausland geworden sei, so dass damit ein
verfolgungsbedingter Auslandsaufenthalt vorliege. Dem Widerspruch fügte der
Klägerbevollmächtigte eine eigene Erklärung des Klägers vom 20.06.2004 bei. Darin
gab der Kläger an, er habe nach der Befreiung als erstes seine Familie suchen wollen,
habe sich daher nach Tschenstochau begeben, wo er gute Freunde gehabt und sich
erhofft habe, über diese etwas über seine Familie zu erfahren. Dies sei ihm aber nicht
gelungen, so dass er nach Lodz gefahren sei, wo immer wieder Namen von
Verstorbenen und Überlebenden aufgetaucht seien. In Lodz habe sich endgültig
ergeben, dass seine gesamte Familie der Verfolgung zum Opfer gefallen war. Da habe
er seinen Auswanderungswunsch in die Tat umgesetzt; es sei ihm unmöglich gewesen,
länger in der Nähe der Stätten zu bleiben, wo seine gesamte Familie auf grausame
Weise umgekommen sei. Sobald sich die Gelegenheit ergeben habe, habe er Lodz
verlassen und sei über die Tschechoslowakei, Österreich und Italien nach Palästina
ausgewandert.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 14.12.2004 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Zur Begründung der Ablehnung der Anerkennung einer Ersatzzeit vom 09.05.1945 bis
zum 31.12.1949 nahm sie auf die Ausführungen im Bescheid vom 15.03.2004 Bezug.
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Mit seiner Klage vom 12.01.2005 hat der Klägerbevollmächtigte vorgetragen, laut Urteil
des Bundessozialgerichts (BSG) vom 13.09.1978 (5 RJ 86/77, SozR 2200 § 1251 Nr.
51) reiche für die Anerkennung einer Ersatzzeit nach § 250 Absatz 1 Nr. 4 SGB VI aus,
dass sich ein Versicherter bei Kriegsende in einem Gebiet befunden habe, dessen
faktische Zugehörigkeit zum Deutschen Reich mit der Befreiung geendet habe; dann
habe der Auslandsaufenthalt nicht nach dem Krieg, sondern mit Kriegsende begonnen.
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Der Kläger sei in Schotterwerk/Schlesien befreit worden. Unabhängig davon hätten im
übrigen die Hauptmotive des Klägers für die illegale Auswanderung nach Palästina im
Frühling 1947 darin gelegen, dass er als einziger der Familie den Holocaust überlebt
habe und durch den Verlust des persönlichen und materiellen Umfelds keine
Möglichkeit gesehen habe, in Polen neu anzufangen.
Das Sozialgericht hat die Entschädigungsakte des Klägers vom Amt für
Wiedergutmachung in Saarburg beigezogen.
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Mit Urteil vom 14.07.2005 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, die Zeit vom
09.08.1945 bis zum 31.12.1949 als weitere Ersatzzeit anzuerkennen und die Rente neu
zu berechnen. In den Entscheidungsgründen wird ausgeführt, die betreffende Zeit sei
als Ersatzzeit nach § 250 Absatz 1 Nr. 4 b Sozialgesetzbuch 6. Buch (SGB VI)
anzuerkennen. Der Kläger sei in Schotterwerk/Schlesien am 08.05.1945 befreit worden.
Schlesien habe bis zum Kriegsende zum Deutschen Reich gehört. Der Kläger habe das
Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Kriege nicht verlassen, sondern habe sich
aufgrund der Verfolgungsmaßnahmen bei Kriegsende in einem Gebiet befunden,
dessen faktische Zugehörigkeit zum Deutschen Reich mit seiner Befreiung beendet
worden sei. Der Auslandsaufenthalt des Klägers habe also nicht nach dem Kriege,
sondern mit dem Kriegsende begonnen. Der Kläger habe sich nach seiner Befreiung
ohne sein eigenes Zutun im Ausland befunden, so dass die Verfolgungsmaßnahme als
wesentliche Ursache angesehen werden müsse (vgl. BSG, Urteil vom 13.09.1978, 5 RJ
86/77). Es komme also nur darauf an, dass der Auslandsaufenthalt zu seinem Beginn
durch Verfolgungsmaßnahmen hervorgerufen worden sei, nicht aber darauf, ob die
Verfolgungsmaßnahmen für das Fortdauern des Auslandsaufenthalts ursächlich
gewesen seien. Die übrigen Voraussetzungen des § 250 Absatz 1 Nr. 4 b SGB VI seien
ebenfalls erfüllt.
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Gegen das ihr am 12.08.2005 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 24.08.2005
Berufung eingelegt. Sie trägt vor, der Ersatzzeittatbestand des verfolgungsbedingten
Auslandsaufenthaltes im Sinne des § 250 Absatz 1 Nr. 4 b SGB VI setze nach ihrer
Auffassung neben der Verfolgteneigenschaft voraus, dass der Verfolgte gebietlich
zunächst im Inland gewesen sei, dieses verlassen habe und ins Ausland gegangen sei,
wobei Inland dabei grundsätzlich nur das Gebiet des Deutschen Reiches in seinen
jeweiligen Grenzen sein könne. Es sei unstreitig, dass sich der Kläger auch nach dem
Ende seiner Verfolgung nicht in Deutschland aufgehalten habe, so dass die
Tatbestandsvorausetzungen des § 250 Absatz 1 Nr. 4 b SGB VI bereits mangels
Auswanderung aus dem Inland nicht erfüllt seien. Bei diesem Sachverhalt sei aber auch
der ursächliche Zusammenhang zwischen Verfolgungsmaßnahme und
Auslandsaufenthalt nicht mehr gegeben. Mit der Frage, ob ein ausschließlich nach
Kriegsende liegender Auslandsaufenthalt eine Ersatzzeit im Sinne von § 250 Absatz 1
Nr. 4 b SGB VI bzw. § 1251 Absatz 1 Nr. 4 Reichsversicherungsordnung (RVO)
darstellen könne, habe sich das Bundessozialgericht bereits mehrfach befasst (Urteile
des BSG vom 01.07.1970, 4 RJ 353/69, SozR Nr. 46 zu § 1251 RVO, und vom
22.09.1983, 4 RJ 81/82, SozR 2200 § 1251 Nr. 106). Ein Kausalzusammenhang
zwischen Verfolgung und Auslandaufenthalt könne hier nicht einfach unterstellt werden,
sondern müsse dargetan sein. Auch hätten den zusprechenden Entscheidungen
Verfolgungsschicksale von Verfolgten zugrundegelegen, die ihren Wohnsitz zu Beginn
der Verfolgung in Deutschland gehabt hätten, bei deren Lebensplanung demzufolge -
die Verfolgung hinweggedacht - von einem Aufenthalt im Inland habe ausgegangen
werden können (Urteile des BSG vom 22.09.1983, 4 RJ 81/82 und 17.12.1986, 11 a RA
11
44/85, VdK Mitt 1987, Nr. 7 S. 15 f.). Über die Frage, ob ein verfolgungsbedingter
Auslandsaufenthalt auch für solche Verfolgte als Ersatzzeit in der deutschen
Rentenversicherung anzurechnen sei, die im Ausland geboren worden seien, zu Beginn
der Verfolgung im Ausland gewohnt hätten, dort befreit worden seien und nach der
Befreiung eine neue Existenz im Ausland aufgebaut hätten, sei bisher höchstrichterlich
nicht entschieden worden. In seinem Urteil vom 14.08.2003 (B 13 RJ 27/02 R, SozR 4
2200 § 1251 Nr. 1) habe das BSG jedoch nochmals klargestellt, dass sich die
Kompensation unterbliebener Beitragszahlungen nur auf solche Zeiten beziehe, in
denen ansonsten - also ohne die Verfolgung - aufgrund einer versicherungspflichtigen
Beschäftigung Beiträge zur deutschen Rentenversicherung (weiter) geleistet worden
wären. Eine verfolgungsbedingt unterbliebene Beitragszahlung zur deutschen
Rentenversicherung sei vorliegend aber weder vorgetragen noch überwiegend
wahrscheinlich. Schließlich folge aus dem Urteil des BSG vom 29.03.2006 (B 13 RJ
7/05 R, SozR 4 2600 § 250 Nr. 2), dass bei einer "direkten" Auswanderung, d.h. ohne
die "Zwischenstation" Deutschland oder nur mit einer "Durchgangsstation" Deutschland
(im Gegensatz zum gewöhnlichen Aufenthalt) aus den (ehemaligen) eingegliederten
und besetzten Gebieten nach dem 30.06.1945 kein Raum für die Anerkennung einer
Ersatzzeit im Sinne des § 250 Absatz 1 Nr. 4 b SGB VI sei. Der Kläger sei aber "direkt"
ausgewandert.
Die Beklagte beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 14.07.2005 zu ändern und die Klage
abzuweisen.
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Sie regt an, die Revision zuzulassen.
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Der Klägerbevollmächtigte beantragt nach seinem Schriftsatz vom 30.09.2005,
15
die Berufung zurückzuweisen.
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Er hält das angefochtene Urteil des Sozialgerichts für zutreffend. Auch aus der
Entscheidung des BSG vom 29.03.2006 ergebe sich nichts anderes. Danach sei mit der
Regelung des § 250 Absatz 1 Nr. 4 b SGB VI Versicherten während eines
verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes (nicht etwa also während eines
Aufenthaltes in Deutschland, vgl. Urteil des BSG vom 21.08.1986, 11a RA 29/85, SozR
2200 § 1251 Nr. 120) längstens bis zum 31.12.1949 eine Überlegensfrist gewährt, ob
sie dem, von dem die Verfolgungsmaßnahmen ausgegangen seien, dauerhaft den
Rücken kehren wollten, ohne dabei Schaden in der Rentenversicherung zu nehmen
(vgl. Urteile des BSG vom 01.07.1970, 4 RJ 353/69 und 21.08.1986, 11a RA 29/85).
Weiter seien nach der Entscheidung des BSG vom 29.03.2006 grundsätzlich auch
diejenigen Versicherten vom Anwendungs- und Schutzbereich der genannten Norm
erfasst, die erst durch Eingliederung ihrer Heimatgebiete in das Deutsche Reich in den
Geltungsbereich der RVO gelangt und nach Rückgängigmachung dieser Eingliederung
wieder ausgeschieden seien; durch die Rückgängigmachung der Eingliederung liege
hier bereits ein Auslandsaufenthalt vor dem 30.06.1945 vor. Die Vorschrift des § 250
Absatz 1 Nr. 4 b SGB VI sehe die Anrechnung von Ersatzzeiten bis zum 31.12.1949
allein aufgrund der Tatsache vor, dass der Verfolgte sich infolge
Verfolgungsmaßnahmen im Ausland aufgehalten habe. Der Klägerbevollmächtigte hat
zuletzt noch ein Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 24.04.2007 (S 10 R 158/06)
und ein Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 20.12.2006 (L 6 R 362/06)
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übersandt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte,
die Verwaltungsakte der Beklagten und die Entschädigungsakte des Amtes für
Wiedergutmachung Saarburg Bezug genommen. Diese waren Gegenstand der
mündlichen Verhandlung und Beratung.
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Entscheidungsgründe:
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Der Senat konnte die Sache verhandeln und entscheiden, obwohl weder der Kläger
noch sein Prozeßbevollmächtigter zum Termin erschienen sind. Der
Prozeßbevollnächtigte ist mit der ordnungsgemäß erfolgten Terminsbenachrichtigung
(Empfangsbekenntnis vom 23.05.2007) auf diese zulässige Verfahrensweise (§§ 124
Absatz 1, 153 Absatz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) hingewiesen worden.
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Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg. Das angefochtene Urteil des
Sozialgerichts ist nicht zu beanstanden. Der Kläger hat Anspruch darauf, dass die Zeit
vom 09.08.1945 bis zum 31.12.1949 als verfolgungsbedingte Ersatzzeit bei der
Berechnung seiner Regelaltersrente berücksichtigt wird. Unstreitig bestand in dieser vor
dem 01.01.1992 liegenden Zeit keine Versicherungspflicht des Klägers; auch hatte der
Kläger in dieser Zeit das 14. Lebensjahr vollendet; schließlich gehört er auch zum
Personenkreis des § 1 BEG (vgl. auch Bescheid des Regierungsbezirksamtes Koblenz
vom 31.08.1956). Neben diesen unstreitig vorliegenden Voraussetzungen des § 250
Absatz 1 Nr. 4 b SGB VI liegt aber auch dessen weitere Voraussetzung vor, dass der
Kläger nämlich infolge Verfolgungsmaßnahmen bis zum 30.06.1945 seinen Aufenthalt
in Gebieten außerhalb des jeweiligen Geltungsbereichs der
Reichsversicherungsgesetze genommen hat.
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Die Regelung des § 250 Absatz 1 Nr. 4 SGB VI ist wesentlicher Bestandteil eines
umfassenden Programms der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in
der Rentenversicherung, weshalb bei der Auslegung der einzelnen
Tatbestandsmerkmale der Interpretation der Vorzug zu geben ist, die eine möglichst
weitgehende Wiedergutmachung des eingetretenen Schadens erlaubt (Klattenhoff in
Hauck/Noftz, Gesetzliche Rentenversicherung, Kommentar zu § 250 SGB VI, Rn
199,201). Im Lichte dieses Wiedergutmachungsgedankens, aber auch in Einklang mit
der vorhandenen Rechtsprechung des BSG ist vorliegend von einem
verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalt auszugehen.
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Zutreffend trägt die Beklagte vor, dass es nach der Entscheidung des BSG vom
14.08.2003 (B 13 RJ 27/02 R) im Rahmen der Anerkennung einer verfolgungsbedingten
Ersatzzeit um den Ausgleich rentenrechtlicher Nachteile für die infolge von
Verfolgungsmaßnahmen nicht zurückgelegten (weiteren) Beitragszeiten geht. Noch
weitergehend ist nach der Entscheidung des BSG vom 08.09.2005 (B 13 RJ 20/05 R, rv
2005, 176 f.) Sinn und Zweck des § 250 Absatz 1 Nr. 4 SGB VI, durch die Anerkennung
einer Verfolgungsersatzzeit einen Ausgleich dafür zu schaffen, dass auf Grund
nationalsozialistischer Verfolgung Beitragszeiten "im Herkunftsort" nicht zurückgelegt
werden konnten; § 250 mithin (nur) die Situation schützt, die zu Beginn der
Verfolgungszeit bestand und die ohne die Verfolgungsmaßnahme fortgedauert hätte.
Insofern hat das BSG in letztgenannter Entscheidung - für den Senat auch
nachvollziehbar - der Revision der dortigen Klägerin nicht stattgegeben, die von ihrem
Heimatort aus - der Heimatort der dortigen Klägerin gehörte zum sogenannten
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Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete - in das Innere der
Sowjetunion geflüchtet war und die also ohne die Flucht bei einem Verbleib im
Herkunftsgebiet keine (weiteren) in der deutschen Rentenversicherung anrechenbaren
Beitrags- bzw. Beschäftigungszeiten hätte zurücklegen können und die auch im übrigen
im Rahmen der Flucht keinen Bezug zur deutschen Rentenversicherung aufwies.
Vorliegend ist aber zum einen zu bedenken, dass der Kläger, würde man allein auf den
Herkunftsort abstellen, wie es das BSG (allein) in der Entscheidung vom 08.09.2005 (B
13 RJ 20/05 R) getan hat, schon an seinem Herkunftsort Lodz - zumindest ab dem
01.01.1942 - Beitragszeiten in der deutschen Rentenversicherung hätte erwerben
können - hier galt wegen Annexion der westlichen Teile der Republik Polen durch das
Deutsche Reich ab dem 01.01.1942 die RVO (Ostgebiete-Verordnung vom 22.12.1941,
Reichsgesetzblatt I 777) -, wäre der Kläger nicht infolge (weiterer) Verfolgung von
seinem Herkunftsort Lodz weggebracht und in Lager, zuletzt in Schlesien, deportiert
worden.
Zum anderen erweist sich aber auch im Lichte der übrigen Entscheidungsgründe des
BSG im Urteil vom 14.08.2003 (B 13 RJ 27/02 R), und insbesondere der weiteren
Entscheidungen des BSG vom 13.09.1978 (5 RJ 86/77) und 29.03.2006 (B 13 RJ 7/05
R), dass der Kläger infolge Verfolgungsmaßnahmen bis zum 30.06.1945 seinen
Aufenthalt in Gebieten außerhalb des jeweiligen Geltungsbereichs der
Reichsversicherungsgesetze genommen hat und ihm ein Ausgleich für die infolge von
Verfolgungsmaßnahmen nicht zurückgelegten (weiteren) Beitragzeiten (in Form der
Berücksichtigung von Ersatzzeiten wegen verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts)
zu gewähren ist. Denn die mit der Berufung vorgetragene Ansicht der Beklagten, der
Ersatzzeittatbestand des verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes im Sinne des §
250 Absatz 1 Nr. 4 b SGB VI setze neben der Verfolgteneigenschaft voraus, dass der
Verfolgte gebietlich zunächst im Inland gewesen sei, dieses verlassen habe und ins
Ausland gegangen sei, und Inland dabei grundsätzlich nur das Gebiet des Deutschen
Reiches in seinen jeweiligen Grenzen sein könne, lässt sich mit der vorhandenen und
oben angeführten höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht vereinbaren. Ganz
entgegengesetzt ist vielmehr höchstrichterlich bereits entschieden, dass für die
Berücksichtigung verfolgungsbedingter Ersatzzeiten weder ein anfänglicher Aufenthalt
noch eine Rückkehr im bzw. ins "Kerngebiet" des Deutschen Reiches erforderlich ist
noch überhaupt etwa ein diesbezüglicher "Ortswechsel" im Sinne des Überschreitens
von Staatsgrenzen oder Demarkationslinien erforderlich wäre. Schon in seiner
Entscheidung vom 13.09.1978 (5 RJ 86/77) hat das BSG insofern klargestellt, dass dem
dortigen Kläger (der von 1920 bis 1938 in Deutschland lebte, dann nach Polen in das
Ghetto Warschau ausgewiesen wurde und 1944 in ein SS-Lager in Österreich gebracht
wurde, wo er im Mai 1945 befreit wurde) eine Ersatzzeit wegen Verfolgung zusteht,
obwohl er nach dem Krieg nicht das Gebiet des Deutschen Reiches verlassen hat,
allein weil er sich aufgrund der Verfolgung bei Kriegsende in einem Gebiet befand,
dessen faktische Zugehörigkeit zum Deutschen Reich mit seiner Befreiung beendet
wurde, das also Ausland wurde; der Auslandsaufenthalt habe - so das BSG - insofern
nicht nach dem Krieg, sondern mit dem Kriegsende begonnen. Selbst die Tatsache,
dass der dortige Kläger - wie auch der Kläger hier - letztlich "erst nach Deutschland
hätte zurückkehren müssen, um durch Aufnahme einer versicherungspflichtigen
Beschäftigung deutsche Versicherungszeiten zu erwerben, während die in Deutschland
befreiten Verfolgten die Möglicheit hatten, dort (unmittelbar) durch Aufnahme einer
versicherungspflichtigen Beschäftigung deutsche Versicherungszeiten zu erwerben",
hat das BSG in der Entscheidung vom 13.09.1978 (5 RJ 86/77) nicht als
entgegenstehend angesehen. Denn gerade hierfür habe der Gesetzgeber den
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Verfolgten, die sich bei Kriegsende im Ausland befunden hätten, eine Überlegensfrist
bis zum 31.12.1949 eingeräumt. Nicht entgegenstehen kann daher vorliegend, dass
sich der Kläger weder anfänglich im Kerngebiet des Deutschen Reiches aufhielt oder
dorthin zurückkehrte noch, dass er nach seiner Befreiung in Schotterwerk dort keine
(weiteren) Versicherungszeiten in der deutschen Rentenversicherung mehr erwerben
konnte, weil sich der Kläger (nur) bis 08.05.1945 durch Eingliederung Schlesiens im
Geltungsbereich der Reichsversicherungsgesetze befand, die mit dem 01.01.1940 in
Schlesien anwendbar wurden (Schlesien-Verordnung vom 16.01.1940, RGBl 196, das
Aussenlager Schotterwerk war Teil des Arbeitslagers Riese, dieses wiederum
Aussenlager des KZ Gross-Rosen und Nebenlager von Wüstegiersdorf, Preußen,
Provinz Niederschlesien). In der Entscheidung vom 14.08.2003 (B 13 RJ 27/03 R) hat
das BSG dann klar ausgeführt, der Anerkennung der verfolgungsbedingten Ersatzzeit
stehe auch nicht entgegen, dass der Versicherte nicht vom Inland, d.h. vom Gebiet des
damaligen Deutschen Reiches, in das Ausland geflohen sei, also keine Staatsgrenze
bzw. keine Demarkationsgrenze überschritten habe, sondern im Machtbereich des
Staates geblieben sei, in dessen Bereich er schon bisher gelebt habe. Zwar liege ein
Auslandsaufenthalt im Sinne von § 1251 RVO regelmäßig nur dann vor, wenn das
Inland verlassen worden sei. Denn nach Sinn und Zweck des § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO
setze die Anerkennung einer verfolgungsbedingten Ersatzzeit voraus, dass eine
Beitragszahlung zur deutschen Rentenversicherung verfolgungsbedingt unterblieben
und durch Anrechnung einer Ersatzzeit zu kompensieren sei. Die Kompensation
unterbliebener Beitragszahlungen beziehe sich mithin grundsätzlich nur auf solche
Zeiten, in denen ansonsten aufgrund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung
Beiträge zur deutschen Rentenversicherung (weiter) geleistet worden wären. Sofern
man die Regelung des § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO allerdings wie die Beklagte so verstehe,
dass das "Hervorrufen eines Auslandsaufenthalts" denknotwendig zunächst den
Aufenthalt im Inland (iS des jeweiligen Staatsgebiets des Deutschen Reichs) und
sodann die Begründung eines Aufenthalts im Ausland (mit dem Überschreiten einer
Demarkationslinie) voraussetze, greife diese Auslegung zu kurz und werde der
vorliegenden Fallgestaltung nicht gerecht. Insofern hat das BSG mit dieser
Entscheidung sogar einem Verfolgten eine verfolgungsbedingte Ersatzzeit (bis Mai
1945) zuerkannt, der sich zu keinem Zeitpunkt im eigentlichen Geltungsbereich der
Reichsversicherungsgesetzte befunden hatte, sondern lediglich in einem Gebiet, auf
das sich der Einflussbereich des Deutschen Reichs erstreckte (der dortige Kläger war in
Czernowitz (Bukowina/Rumänien) geboren und hielt sich dort bis 1941 auf, nach Beginn
des deutsch-russischen Krieges 1941 flüchtete er in das Innere der Sowjetunion, kehrte
nach Kriegsende nach Czernowitz zurück und wanderte von dort 1951 nach Israel aus).
Im Anschluss an die Entscheidung vom 13.09.1978 hat das BSG auch in seiner
jüngsten Entscheidung vom 29.03.2006 (B 13 RJ 7/05 ) ausgeführt, dass auch einem
Versicherten, der erst durch Eingliederung seines Heimatgebiets in das Deutsche Reich
in den Geltungsbereich der Reichsversicherungsgesetze gelangt und nach dem Ende
der Verfolgungsmaßnahmen ausgewandert sei, die Folgezeit bis Ende 1949 als
Verfolgungsersatzzeit im Sinne einer rentenunschädlichen "Überlegungsfrist"
anzurechnen sei. Der Umstand, dass die dortige Klägerin - außer während ihrer
Verfolgungszeit - einen Bezug zur deutschen Rentenversicherung zu keinem weiteren
Zeitpunkt aufgewiesen habe, schließe ihren Anspruch auf Anrechnung von
Verfolgungsersatzzeiten grundsätzlich nicht aus (die dortige Klägerin war in Lodz
geboren und dort bis zu ihrer Befreiung im Januar 1945 nationalsozialistischer
Verfolgung ausgesetzt). Denn allein mit Zurücklegung dieser Zeiten sei ein Tatbestand
gesetzt worden, der - in Verbindung mit der Verfolgteneigenschaft - das Geltendmachen
einer Ersatzzeit im Sinne von § 250 Abs 1 Nr 4 SGB VI ermögliche. Dass es sich bei der
(dortigen) Klägerin um eine Versicherte handele, die Beitragszeiten nur im (damals)
eingegliederten Gebiet habe geltend machen können, sei unmaßgeblich. Entgegen der
Auffassung der Beklagten komme es daher nicht darauf an, dass die Klägerin
Beitragszeiten im Staatsgebiet des Deutschen Reiches nach dem Stand vom 30. Juni
1945 nicht zurückgelegt habe. Sinn und Zweck der Vorschrift des § 250 Abs 1 Nr 4 SGB
VI stünden einer Anerkennung der geltend gemachten Ersatzzeit der Klägerin nicht
entgegen. Mit der Regelung sei Versicherten während eines verfolgungsbedingten
Auslandsaufenthaltes (nicht etwa also während eines Aufenthalts in Deutschland: vgl
BSG vom 21.08.1986, SozR 2200 § 1251 Nr 120) längstens bis zum 31. Dezember
1949 eine "Überlegensfrist" gewährt worden, ob sie dem Land, von dem die
Verfolgungsmaßnahmen ausgingen, dauerhaft den Rücken kehren wollten, ohne dabei
Schaden in der Rentenversicherung zu nehmen (vgl BSG vom 01.07.1970, SozR Nr 46
zu § 1251 RVO und vom 21.08.1986, SozR 2200 § 1251 Nr 120). Grundsätzlich seien
auch diejenigen Versicherten vom Anwendungs- und Schutzbereich der genannten
Norm erfasst, die erst durch Eingliederung ihrer Heimatgebiete in das Deutsche Reich in
den Geltungsbereich der Reichsversicherungsordnung (RVO) gelangt und nach
Rückgängigmachung dieser Eingliederung wieder ausgeschieden seien. Einmal
eingegliedert in den Bereich des deutschen Rentenversicherungsrechts könne ihnen -
anders als Versicherten, die nur die reine "Möglichkeit" einer Auswanderung nach
Deutschland für sich in Anspruch nehmen könnten (vgl. Urteil vom 8. September 2005,
B 13 RJ 20/05 R) - ein Schaden in der deutschen Rentenversicherung (vgl. hierzu auch
Urteil vom 14. August 2003, B 13 RJ 27/02 R) entstanden sein. Anderenfalls bliebe es
dem Zufall überlassen, ob einem Versicherten die durch § 250 Abs 1 Nr 4 SGB VI
eröffnete "Bedenkzeit" eingeräumt würde oder nicht. Das Einräumen der
"Überlegungsfrist" könne nicht von der Zufälligkeit abhängig gemacht werden, ob ein
Versicherter das Kriegsende im "Kerngebiet" des Deutschen Reichs erlebt habe oder
aber in angegliederten Gebieten, in denen die Reichsversicherungsgesetze in gleicher
Weise gegolten hätten.
Der Berufungsvortrag der Beklagten, es sei unstreitig, dass sich der Kläger auch nach
dem Ende seiner Verfolgung nicht in Deutschland aufgehalten habe, so dass die
Tatbestandsvorausetzungen des § 250 Absatz 1 Nr. 4 b SGB VI bereits mangels
Auswanderung aus dem Inland nicht erfüllt seien, überzeugt daher nicht, weil er
unberücksichtigt lässt, dass sich der Kläger letztlich infolge Eingliederung Schlesiens
bei Kriegsende im Inland befunden hat und auch nicht gehalten war, in das "Kerngebiet"
des Deutschen Reiches einzureisen, um dann aus dem "Inland" auszureisen. Auch die
weiteren Ausführungen der Beklagten, ob ein ausschließlich nach Kriegsende liegender
Auslandsaufenthalt eine Ersatzzeit im Sinne von § 250 Absatz 1 Nr. 4 b SGB VI bzw. §
1251 Absatz 1 Nr. 4 Reichsversicherungsordnung (RVO) darstellen könne, passen im
vorliegenden Fall nicht, weil hier eben nicht die Fallkonstellation eines ausschließlich
nach Kriegsende liegenden Auslandsaufenthaltes ohne vorherige Berührung mit der
deutschen Rentenversicherung vorliegt. Schließlich treffen auch die weiteren
Ausführungen der Beklagten - über die Frage, ob ein verfolgungsbedingter
Auslandsaufenthalt auch für solche Verfolgte als Ersatzzeit in der deutschen
Rentenversicherung anzurechnen sei, die im Ausland geboren worden seien, zu Beginn
der Verfolgung im Ausland gewohnt hätten, dort befreit worden seien und nach der
Befreiung eine neue Existenz im Ausland aufgebaut hätten, sei bisher höchstrichterlich
nicht entschieden worden - nicht die vorliegende Fallkonstellation. Denn der Kläger
wurde im Mai 1945 nicht im Ausland befreit, sondern in einem Gebiet, in dem zu diesem
Zeitpunkt die RVO galt, und das damit als Inland galt. Abgesehen davon hat das BSG
die von der Beklagten geschilderte Fallkonstellation auch bereits höchtsrichterlich
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entschieden, nämlich mit der Entscheidung vom 14.08.2003 (B 13 RJ 27/02 R), die die
Beklagte an anderen Stellen auch selbst zitiert hat.
Schließlich kann auch der Einwand der Beklagten nicht überzeugen, der jüngsten
Entscheidung des BSG vom 29.03.2006 (B 13 RJ 7/05 R) sei zu entnehmen, dass bei
einer "direkten" Auswanderung, d.h. ohne die "Zwischenstation" Deutschland oder nur
mit einer "Durchgangsstation" Deutschland (im Gegensatz zum gewöhnlichen
Aufenthalt), aus den (ehemaligen) eingegliederten und besetzten Gebieten nach dem
30.06.1945 kein Raum für die Anerkennung einer Ersatzzeit im Sinne des § 250 Absatz
1 Nr. 4 b SGB VI sei. Zwar hat das BSG in der genannten Entscheidung ausgeführt,
auch bei einer Ausreise aus einem angegliederten Gebiet mit dem Ziel der
Auswanderung über die "Zwischenstation" des deutschen Staatsgebiets nach dem 30.
Juni 1945 müsse grundsätzlich die Möglichkeit eröffnet sein, bis zum 31. Dezember
1949 einen Nachteil in der Versicherungsbiografie der Rentenversicherung über § 250
Abs 1 Nr 4 SGB VI auszugleichen. Dies gelte jedenfalls dann, wenn Deutschland nicht
lediglich kurzfristige Zwischenstation bei der Ausreise gewesen, sondern hier ein
gewöhnlicher Aufenthalt begründet worden sei. Das sei bei einem Aufenthalt in einem
DP-Lager in Deutschland - wie bei der dortigen Klägerin - grundsätzlich auch dann der
Fall, wenn die konkrete Absicht bestanden habe, nach Palästina auszuwandern (BSG,
Urteil vom 03.04.2001, B 4 RA 90/00 R, SozR 3-1200 § 30 Nr 21). Daraus kann nach
Auffassung des Senats aber nicht der Schluss gezogen werden, das BSG habe
nunmehr einen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland im Anschluss an den
Aufenthalt in den (ehemaligen) eingegliederten und besetzten Gebieten zur
Voraussetzung für die Anerkennung einer verfolgungsbedingten Ersatzzeit gemacht.
Der Senat kann dies der Entscheidung des BSG vom 29.03.2006 ebensowenig
entnehmen wie der 6. Senat des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz in seiner
Entscheidung vom 20.12.2006 (L 6 R 362/06), die der Klägerbevollmächtigte seiner
Berufungserwiderung beigefügt hatte. Dies würde zum einen eine Abkehr von den
zitierten Entscheidungen des BSG vom 13.09.1978 (5 RJ 86/77) und 14.08.2003 (B 13
RJ 27/03 R) bedeuten, ohne dass das BSG dies in seiner Entscheidung vom
29.03.2006 kenntlich gemacht hätte. Zudem versteht der Senat das Wort "auch" in der
Entscheidung vom 29.03.2006 ("auch bei einer Ausreise aus einem angegliederten
Gebiet mit dem Ziel der Auswanderung über die "Zwischenstation" des deutschen
Staatsgebiets nach dem 30. Juni 1945 müsse grundsätzlich die Möglichkeit eröffnet
sein, bis zum 31. Dezember 1949 einen Nachteil in der Versicherungsbiografie der
Rentenversicherung über § 250 Abs 1 Nr 4 SGB VI auszugleichen) so, dass selbst eine
solche Fallkonstellation - Befreiung in einem (ehemals) eingegliederten Gebiet, dann
gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland, dann Ausreise nach Israel - der Anerkennung
einer verfolgungsbedingten Ersatzzeit nicht entgegensteht, obwohl nach der bisherigen
gefestigten Rechtsprechung des BSG ein gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland an
sich den "Auslandsaufenthalt" im Sinne des § 1251 RVO bzw. § 250 Absatz 1 Nr. 4 b
SGB VI vorerst beendet. So hat das BSG nämlich in zahlreichen anderen Entscheidung
deutlich gemacht, dass die Ersatzzeit des verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts
den Sinn hat, zunächst den Verfolgten dafür zu entschädigen, daß allein schon der
(erzwungene) Aufenthalt im Ausland dem Erwerb inländischer Versicherungszeiten
entgegenstand (Urteil des BSG vom 15.10.1985, 11a RA 32/84, SozR 2200 § 1251 Nr
116), und nach dem Kriegsende dem Verfolgten Gelegenheit zu geben, die Frage und
die Möglichkeiten einer Rückkehr innerhalb einer angemessenen Zeitspanne zu
überdenken; dieses Zwischenstadium ende jedoch, sobald im Inland Aufenthalt
genommen worden sei (Urteil des BSG vom 01.07.1970, 4 RJ 353/69 und vom
05.02.1976, 11 RA 44/75, SozR 2200 § 1251 Nr 17). Zuzugestehen ist der Beklagten
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allerdings, dass die weiteren Ausführungen des BSG in seiner Entscheidung vom
29.03.2006 dann wenig nachvollziehbar erscheinen, dass nämlich "dies jedenfalls dann
gelte, wenn Deutschland nicht lediglich kurzfristige Zwischenstation bei der Ausreise
gewesen, sondern hier ein gewöhnlicher Aufenthalt begründet worden sei." Vor dem
Hintergrund der Entscheidungen des BSG vom 01.07.1970 und 05.02.1076 wäre hier
das Wort "jedenfalls" nicht passend, eher ein "sogar". Wegen dieser grundsätzlichen
Frage hat sich der Senat zur Zulassung der Revision entschieden.
Der Kläger hat daher nach Auffassung des Senats nach alledem bis zum 30.06.1945
seinen Aufenthalt in Gebieten außerhalb des jeweiligen Geltungsbereichs der
Reichsversicherungsgesetze genommen und diesen bis zum 31.12.1949 beibehalten.
Er befand sich bei Kriegsende am 08.05.1945 infolge Verfolgung in Schotterwerk in
Schlesien. Damit befand sich der Kläger am 08.05.1945 durch Eingliederung
Schlesiens im Geltungsbereich der Reichsversicherungsgesetze, denn diese wurden
mit dem 01.01.1940 in Schlesien anwendbar (Schlesien-Verordnung vom 16.01.1940,
RGBl 196). Schlesien wurde mit Kriegsende faktisch Ausland, die Anwendbarkeit der
Reichsversicherungsgesetze endete. Auch danach hat sich der Kläger im Ausland
aufgehalten. Er ist zunächst nach Tschenstochau und dann nach Lodz zurückgekehrt,
wo zum damaligen Zeitpunkt die Reichsversicherungsgesetze auch nicht mehr
anwendbar waren. Danach hat er sich auf dem Weg der Auswanderung nach Palästina
in der Tschechoslowakei, Österreich und Italien und ab September 1947 in Israel
aufgehalten.
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Der Auslandsaufenthalt wurde auch durch Verfolgungsmaßnahmen hervorgerufen. Das
BSG hat dazu in seiner Entscheidung vom 13.09.1978 (5 RJ 86/77) ausgeführt: "Der
Kläger hat das Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Kriege nicht verlassen,
sondern befand sich aufgrund der Verfolgungsmaßnahmen bei Kriegsende in einem
Gebiet, dessen faktische Zugehörigkeit zum Deutschen Reich mit seiner Befreiung
beendet wurde, das also Ausland im Sinne des § 1251 Absatz 1 Nr. 4 RVO war. Der
Auslandsaufenthalt des Klägers begann also nicht nach dem Krieg, sondern mit dem
Kriegsende. Der Kläger befand sich nach seiner Befreiung ohne sein eigenes Zutun im
Ausland, so dass die Verfolgungsmaßnahme als wesentliche Ursache angesehen
werden muß." Auch durch die Rückkehr ins Vertreibungsgebiet - Lodz - ist die Kausalität
nicht in Frage zu stellen. Wie das Sozialgericht Düsseldorf in der vom
Klägerbevollmächtigten übersandten Entscheidung vom 24.04.2007 (S 10 R 158/06)
ausgeführt hat, stellt sich die Rückkehr ins Heimatgebiet solange als unschädlich dar,
wie der Verfolgte nur vorübergehend - beispielsweise zur Suche nach Angehörigen - ins
Vertreibungsgebiet zurückkehrt, da ein solches Verhalten nahe liegend ist und es sich
um eine Nachwirkung der Verfolgung handelt; anderes könne nur gelten, wenn der
Verfolgte längerfristig Aufenthalt in den Vertreibungsgebieten nehme, da er dann durch
sein Verhalten deutlich mache, dass er die Verfolgung als abgeschlossen betrachte und
sich (freiwillig) im ehemaligen Vertreibungsgebiet niederlasse. Dem schließt sich der
Senat an. Der Kläger hat sich jedoch nur von Mai 1945 bis Januar 1946 in
Tschenstochau und dann bis April 1947 in Lodz zwecks Suche nach
Familienangehörigen,- siehe seine eindringliche und überzeugende Erklärung vom
20.06.2004,- aufgehalten, somit nicht längerfristig. Auch die nachfolgenden
Zwischenstationen in der Tschechoslowakei, Österreich und Italien dienten nur der
Ausreise nach Israel (vgl. abermals die auch insoweit schlüssige Erklärung des Klägers
vom 20.06.2004), die dann im September 1947 vollzogen war.
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Aus alledem war die Berufung zurückzuweisen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Wegen der in Teilen grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (s.o.) hat der Senat
die Revision zugelassen, § 160 Absatz 2 Nr. 1 SGG.
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