Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 23.05.2007
LSG NRW: erwerbsfähigkeit, untersuchungsgrundsatz, unterlassen, entziehen, leistungsanspruch, anwendungsbereich, form, rechtskraft, verbrauch, datum
Landessozialgericht NRW, L 19 B 47/07 AS ER
Datum:
23.05.2007
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
19. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 19 B 47/07 AS ER
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 5 AS 46/07 ER
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Unter teilweiser Abänderung des Beschlusses des Sozialgerichts
Dortmund vom 07.03.2007 wird die Antragsgegnerin zur einstweiligen
Erbringung von Leistungen nach dem SGB II in Höhe von je 423,91
EUR für die Monate April bis Juli 2007 verpflichtet. Die Beschwerden der
Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom
07.03.2007 im Übrigen werden zurück-gewiesen. Die Antragsgegnerin
trägt die Hälfte der außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin im
Beschwerdeverfahren.
Gründe:
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Mit Bescheid vom 05.01.2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
30.01.2007 (Klage anhängig unter dem Az.: S 5 AL 76/07, SG Dortmund) lehnte die
Antragsgegnerin den für den Leistungszeitraum ab Januar 2007 gestellten Antrag der
Antragstellerin auf Leistungen nach dem SGB II mit der Begründung ab, die
Erwerbsfähigkeit der Antragstellerin als Voraussetzung eines Anspruches auf
Leistungen nach dem SGB II sei nicht feststellbar, weil die Antragstellerin sich einer
ärztlichen Untersuchung nicht gestellt habe.
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Mit Antrag im einstweiligen Rechtsschutzverfahren vom 05.02.2007 hat die
Antragstellerin eine einstweilige Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Erbringung von
Leistungen nach dem SGB II, hilfsweise eine einstweilige Verpflichtung des
beizuladenden Leistungsträgers nach dem SGB XII zur Erbringung von Leistungen
begehrt.
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Mit dem angefochtenen Beschluss vom 07.03.2007 hat das Sozialgericht die gestellten
Anträge in der Sache sowie den zugleich gestellten Antrag auf Bewilligung von
Prozesskostenhilfe wegen fehlender Erfolgsaussichten abgelehnt. Dies hat das
Sozialgericht damit begründet, im Hinblick auf noch vorhandene Barmittel der
Antragstellerin bestehe keine Eilbedürftigkeit.
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Gegen den am 12.03.2007 zugestellten Beschluss richtet sich die Beschwerde der
Antragstellerin vom 25.03.2007, mit der sie ihr Begehren weiterverfolgt und auf den
zwischenzeitlichen Aufbrauch ihrer Ersparnisse hinweist.
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Die zulässige Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat (Beschluss vom
26.03.2007), ist im tenorierten Umfang begründet, im Übrigen unbegründet.
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Der Senat hat die Antragsgegnerin im tenorierten Umfang zur einstweiligen Erbringung
von Leistungen nach dem SGB II verpflichtet, weil nach dem tatsächlichen Verbrauch
der zum Zeitpunkt der Entscheidung des Sozialgerichts noch vorhandenen Barmittel
nunmehr Eilbedürftigkeit gegeben ist. Der Anordnungsgrund als eine der beiden
Voraussetzungen für den Erlass der begehrten Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2
S. 2 SGG ist damit (mittlerweile) glaubhaft gemacht. Auch ein Anordnungsanspruch im
Sinne eines materiell-rechtlichen Anspruches auf die begehrte Leistung liegt vor. Die
Antragstellerin ist bedürftig und hat nach § 44a Abs. 1 S. 2 SGB II (ab dem 01.08.2006
geltende Fassung des Gesetzes in der Form der letzten Änderung durch Art. 1 Nr. 34
des Gesetzes vom 20.07.2006, BGBl. I, 1706) bis zur endgültigen Feststellung entweder
der Leistungszuständigkeit der Antragsgegnerin oder des Leistungsträgers nach dem
SGB XII einen Anspruch auf Erbringung von Leistungen der Grundsicherung für
Arbeitsuchende gegen die Antragsgegnerin. Der von der Antragsgegnerin beschrittene
Weg, Leistungen nach dem SGB II wegen Nichtfeststellbarkeit der Erwerbsfähigkeit
abzulehnen, ist vom Gesetz nicht eröffnet.
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Der Leistungsanspruch der Antragstellerin nach dem SGB II setzt grundsätzlich
Erwerbsfähigkeit im Sinne von § 8 SGB II (hierzu ausführlich Rixen, info also 2006, 153
ff.) voraus. Diese muss die Antragsgegnerin nach § 44a SGB II - positiv oder negativ-
feststellen. Hiernach stellt die Agentur für Arbeit fest, ob der Arbeitsuchende
erwerbsfähig und hilfebedürftig ist. Bei Feststellung beider
Tatbestandsvoraussetzungen sind Leistungen nach dem SGB II zu bewilligen. Wird das
Nichtvorliegen von Erwerbsfähigkeit festgestellt und erkennt der alternativ in Betracht
kommende Leistungsträger seine Leistungszuständigkeit an, entfällt die
Leistungszuständigkeit des Grundsicherungsträgers nach dem SGB II. Widerspricht der
alternativ in Betracht kommende Leistungsträger, bleibt die Leistungsverpflichtung des
Leistungsträgers nach dem SGB II aufgrund der in § 44a Abs. 1 S. 2 getroffenen
Regelung erhalten. Hiernach besteht eine Leistungsverpflichtung der Agentur für Arbeit
und des kommunalen Trägers zur Erbringung von Leistungen der Grund-sicherung für
Arbeitsuchende "bis zur Entscheidung der Einigungsstelle" (vgl. Urteil des BSG vom
07.11.2006 - B 7b AS 10/06 R).
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Für die Feststellung der Erwerbsfähigkeit gilt der Untersuchungsgrundsatz nach § 20
SGB X, weshalb die Agentur für Arbeit von Amts wegen den Sachverhalt ermittelt. Der
Antragsteller ist hierbei umfassend auskunftspflichtig und mitwirkungspflichtig (vgl. §§
60 ff. SGB I). Bei Zweifeln an seiner Erwerbsfähigkeit kann eine Untersuchung durch
den ärztlichen Dienst oder einen anderen Sachverständigen veranlasst werden (vgl. §
62 SGB I). Bei Unterlassen der Mitwirkung kann der Leistungsträger die Leistung unter
bestimmten Umständen ganz oder teilweise versagen oder entziehen (§ 66 SGB I). Bei
Weigerung, trotz Rechtsfolgebelehrung zur ärztlichen Untersuchung zu erscheinen,
kann es nach § 31 Abs. 2, 3 SGB II zu einer Absenkung bzw. zum Wegfall des
Arbeitslosengeldes II kommen (Hoehl in juris PK-SGB II, § 44a, Stand 08.02.2007;
speziell zum Anwendungsbereich von § 66 SGB I bei Verletzung der Pflicht, zu einem
ärztlichen oder psychologischen Untersu-chungstermin zu erscheinen (§ 59 SGB II, 309
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SGB III): Blüggel in Eicher/Spellbrink, SGB II, § 59 Rn 25).
Als Möglichkeiten weiterer Aufklärung bietet sich z.B. die Veranlassung eines ärztlichen
Gutachtens auf Basis des Akteninhaltes an, sofern sich die Antragstellerin fortgesetzt
weigert, an einer ärztlichen Untersuchung teilzunehmen.
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Der Senat hat 70% der zuletzt von der Antragstellerin bis Jahresende 2006 bezogenen
Leistungen nach dem SGB II (605,59 EUR) für drei Monate zugesprochen, um einerseits
den existenziellen Bedürfnissen der Antragstellerin andererseits aber auch dem
Umstand, dass sie an der Klärung ihrer Erwerbsfähigkeit bisher nicht mitgewirkt hat,
Rechnung zu tragen. Der Antragsgegnerin ist damit ausreichend Zeit zur Durchführung
des vorbeschriebenen Feststellungsverfahrens gegeben.
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Die Beschwerden im Übrigen waren zurückzuweisen, weil es zum Zeitpunkt der
Entscheidung des Sozialgerichts im Hinblick auf noch vorhandenes Barvermögen der
Antragstellerin an einem Anordnungsgrund im Sinne von § 86b Abs. 2 S. 2 SGB II und
damit auch am Vorliegen hinreichender Erfolgsaussicht als Voraussetzung eines
Anspruches auf die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach §§ 73a SGG, 114 ff. ZPO
fehlte. Der Senat folgt der Begründung des angefochtenen Beschlusses und verweist
hierauf nach § 142 Abs. 2 S. 2 SGG.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG in entsprechender Anwendung
und trägt dem Teilerfolg der Beschwerde Rechnung.
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Dieser Beschluss ist nach § 177 SGG endgültig.
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