Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 28.06.2007
LSG NRW: entschädigung, berufskrankheit, unfallversicherung, retrospektive beurteilung, verfassungskonforme auslegung, lungenemphysem, versicherungsträger, anerkennung, versicherter
Landessozialgericht NRW, L 2 KN 52/06 U
Datum:
28.06.2007
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
2. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 2 KN 52/06 U
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 23 KN 295/05 U
Sachgebiet:
Unfallversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 16.02.2007 wird
abgeändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom
11.09.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
13.04.1999 verurteilt, bei dem Versicherten eine chronische obstruktive
Bronchitis als Berufskrankheit anzuerkennen und ihm Verletztenrente
nach einer MdE in Höhe von 30 v.H. seit dem 26.03.1996 und einer MdE
in Höhe von 40 v.H. seit dem 04.09.1997 - nach Maßgabe der weiteren
gesetzlichen Bestimmungen - zu zahlen. Die Beklagte trägt die
außergerichtlichen Kosten der Klägerin für beide Rechtszüge. Die
Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Leistungen wegen einer Berufskrankheit
(BK).
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Die Klägerin ist die Witwe des am 00.00.1916 geborenen und am 00.06.2006
verstorbenen M M (Versicherter), mit dem sie im Zeitpunkt seines Todes in häuslicher
Gemeinschaft lebte. Der Versicherte war - unterbrochen durch Reichsarbeits- und
Kriegsdienst, Kriegsgefangenschaft und Polizeianwärtertätigkeiten - vom 14.05.1930 bis
30.09.1971 unter Tage angelegt.
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Aufgrund einer am 04.09.1997 eingegangenen Ersatzanspruchsmeldung der
(damaligen) Bundesknappschaft leitete die Beklagte ein Feststellungsverfahren ein.
Unter dem 17.09.1997 teilte sie dem Versicherten mit, dass sie prüfe, ob er wegen einer
chronischen Bronchitis oder eines Emphysems Leistungen beanspruchen könne. Der
zugleich an den Versicherten gerichtete Fragebogen ging am 29.09.1997 ausgefüllt mit
weiteren Unterlagen (u.a. einer Kopie des Bergmannsbuches, ärztlichen Unterlagen des
Kath. Krankenhauses E West vom 05.09.1997, 28.03.1996, 01.07.1994 und des N-
hospiatals I vom 22.11.1993) bei der Beklagten ein. Unter dem 02.10.1997 nahm der
Technische Aufsichtsdienst (TAD) Stellung und errechnete bei Unterstellung niedriger
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Staubkonzentration (aus differenzierter "worst-case"-Betrachtung abgeleitet) insgesamt
205,0 Feinstaubjahre. Die Beklagte forderte Befundberichte bzw ärztliche Unterlagen
von Dr. E, Dr.E1, Dres. M und dem Kath. Krankenhaus (KH) E West an und bat die
Bundesknappschaft um Übersendung ärztlicher Unterlagen (Schreiben vom
17.10.1997). Die Unterlagen der Bundesknappschaft gingen am 29.10.1997 und am
25.11.1997 ein. Die Befundberichte von Dr. E1 und von Dr. M gingen am 30.10.1997
bzw. am 08.12.1997 bei der Beklagten ein. Der Eingang der Unterlagen des Kath. KH E
West ist unter dem 11.11.1997 vermerkt. Dr. E teilte am 11.12.1997 mit, dass
Röntgenfilme bzw. medizinische Unterlagen nicht vorliegen. Die von Dres. M erbetenen
Lungenfunktionsprüfungen und Thoraxaufnahmen ab 1995 gingen am 09.02.1998 bei
der Beklagten ein. Unter dem 10.03.1998 erfolgte eine Anfrage beim Versicherten zur
Auswahl eines medizinischen Sachverständigen. Nachdem zunächst die Klägerin unter
dem 23.03.1998 mitgeteilt hatte, dass sich der Versicherte wegen eines Schlaganfalles
in der Klinik befinde und eine Fortsetzung des Feststellungsverfahrens nicht wünsche,
teilte der Versicherte unter dem 19.05.1998 selbst mit, er sei an der Fortsetzung des
Feststellungsverfahrens interessiert, befinde sich jedoch weiterhin in stationärer
Behandlung. Am 05.06.1998 erteilte die Beklagte an Prof. Dr. C einen Gutachtenauftrag.
Der Versicherte wurde am 21.07.1998 untersucht, das Gutachten von Prof. Dr. C/Priv.-
Doz. Dr. N/Dr. Q vom 18.08.1998 ging am 21.08.1998 bei der Beklagten ein. Die Ärzte
diagnostizierten u.a. eine chronische obstruktive Bronchitis und einen Verdacht auf
Lungenemphysem. Aufgrund der beschriebenen Befunde der Hausärztin mit Luftnot und
medikamentöser antiobstruktiver Therapie seit 1985 wurde empfohlen, den
Versicherungsfall auf den 01.01.1985 zu datieren. Ab dem 26.03.1996 betrage die
Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) 30 v.H., ab dem erstmaligen Nachweis einer
schweren obstruktiven Atemwegserkrankung am 04.09.1997 betrage die MdE 40 v.H ...
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 11.09.1998 die Gewährung von
Entschädigungsleistungen ab, weil der Versicherungsfall vor dem Stichtag 31.12.1992
eingetreten sei. Den Widerspruch vom 23.09.1998 begründete der Versicherte damit,
dass er zwar seit 1985 über Luftnotbeschwerden klage, allein daraus könne ein
Versicherungsfall im Jahr 1985 jedoch nicht abgeleitet werden. Bis 1996 habe er nicht
an einer Atemwegserkrankung im Sinne eines Versicherungsfalls gem. der BK Nr 4111
gelitten. Das Medikament "Bronchoretard" nehme er erst seit 1993 ein. Die Beklagte
holte ein fachradiologisches Gutachten von Prof. Dr. O ein. Dieser führte aus, dass
beide Lungenfelder klein- bis mittelfleckige Herdschatten in geringer Streuung
aufwiesen, die nach ILO 1980 als Silikose 1/0 q/q zu klassifizieren seien. Bei diesen
sehr gering ausgeprägten silikotischen Veränderungen sei das Emphysem jedoch als
unabhängig von der vorliegenden Silikose zu betrachten. Nachdem Dr. M auf Anfrage
mitgeteilt hatte, seit 1985 die Medikamente Bronchioretard, Pulmicort, Xanef und
Bronchio Spray verordneten zu haben, wurde der Widerspruch mit
Widerspruchsbescheid vom 13.04.1999 als unbegründet zurückgewiesen.
Mit der hiergegen am 22.04.1999 erhobenen Klage hat der Versicherte sein Begehren
weiter verfolgt. Er habe zwar über Luftnot geklagt, aber zu keinem Zeitpunkt vor 1993
habe ein Arzt über eine chronische obstruktive Bronchitis gesprochen. Das
Sozialgericht hat Befundberichte von Dr. E1 und Dr.M eingeholt und sodann Beweis
erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens von Prof. Dr. T. Mit
Gutachten vom 24.11.1999/28.02.2000 hat dieser ausgeführt, dass beim dem
Versicherten ein Lungenemphysem und eine deutlich ausgebildete chronische
obstruktive Bronchitis bestehe, die ursächlich wesentlich auf die Untertagetätigkeit
zurückzuführen sei. Die Karteikarten der Hausärztin belegten, dass mindestens seit
1990 regelmäßig bronchialerweiternde Mittel (in Form von Berotec und Afpred)
5
verordnet worden seien. Im Ergebnis ist Prof. Dr. T davon ausgegangen, dass bei dem
Versicherten mindestens seit 1990 eine chronische obstruktive Bronchitis anzunehmen
sei.
Der Kläger hat daraufhin erklärt, gegen das Gutachten von Prof. Dr. T keine Einwände
erheben zu können und hat im Hinblick auf das anhängige Verfahren vor dem
Bundesverfassungsgericht (1 BvR 235/00) das Ruhen des Verfahren beantragt.
Nachdem die Beklagte zugestimmt hatte, hat das Sozialgericht mit Beschluss vom
22.05.2000 das Ruhen des Verfahrens angeordnet. Nach der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts ist das Verfahren wieder aufgenommen worden.
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Der Versicherte hat beantragt,
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den Bescheid der Beklagten vom 11.09.1998 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 13.04.1999 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen,
ihm wegen einer Berufskrankheit entsprechend der Nr 4111 der Anlage zur
Berufskrankheitenverordnung Leistungen zu gewähren, insbesondere eine
Verletztenrente nach einer MdE um 30 v.H. seit dem 26.03.1996 und einer MdE um 40
v.H. seit dem 04.09.1997.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hat auf ihre Bescheide und darauf verwiesen, dass auch der eingeholte
Befundbericht von Dr. M bestätige, dass bei dem Versicherten bereits 1985 eine
chronische Bronchitis und ein Emphysem bestanden haben.
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Mit Urteil vom 16.02.2006 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Versicherte
habe keinen Anspruch auf Entschädigung der bei ihm bestehenden chronisch
obstruktiven Bronchitis und des Lungenemphysem. Der geltend gemachte Anspruch
scheitere daran, dass der Versicherungsfall beim Versicherten vor dem 01.01.1993
eingetreten sei. Das Gericht stütze sich insoweit auf die Beurteilung des gerichtlichen
Sachverständigen Prof. Dr. T, der von einem im Jahr 1990 eingetretenen
Versicherungsfall ausgehe. Zu diesem Zeitpunkt könne anhand der durch Dr. M
vorgenommenen Medikation auf eine chronisch obstruktive Bronchitis geschlossen
werden. Die demnach im Fall des Klägers zu seinen Ungunsten anzuwendende
Rückwirkungsklausel des § 6 Abs 2 Berufskrankheitenverordnung (BKV) sei
rechtswirksam.
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Gegen das am 10.03.2006 zugestellte Urteil hat der Versicherte am 21.03.2006
Berufung eingelegt. Entgegen der Auffassung des erstinstanzlichen Gerichts sei die
Beklagte verpflichtet, bei dem Versicherten das Vorliegen einer Berufskrankheit nach Nr
4111 der Anlage zur BKV anzuerkennen und ihm entsprechend den Feststellungen im
Gutachten des Prof. Dr. C vom 18.08.1998 ab dem 26.03.1996 eine Rente nach einer
MdE in Höhe von 30 v. H. und ab dem 04.09.1997 eine solche in Höhe von 40 v. H. zu
gewähren. Dies gelte selbst dann, wenn der Versicherungsfall beim Versicherten bereits
vor dem 01.01.1993 eingetreten sei. Bei Versicherten, deren Feststellungsverfahren vor
dem Inkrafttreten der Änderungsverordnung eingeleitet worden sei, sei einzig
entscheidend, ob die Voraussetzungen für die Anerkennung der mittlerweile als Listen-
BK anerkannten Krankheit als frühere Wie-BK vor dem Inkrafttreten der
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Änderungsverordnung gegeben gewesen seien. Die in der Änderungsverordnung für
die neue Listen-BK enthaltene Rückwirkungs- bzw. Stichtagsregelung gelte nur für
Feststellungsverfahren, die ab dem Inkrafttreten der Änderungsverordnung beantragt
bzw. eingeleitet wurden. Alles andere würde zu zufälligen, ungerechten und gegen den
Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG verstoßenden Ergebnissen führen, da der
Versicherte in der Regel nur wenig Einfluss darauf habe, wie schnell sein
Verwaltungsverfahren zu einem Abschluss gebracht werde. Bei einer rückblickenden
Betrachtung hätten allen Voraussetzungen der BK Nr 4111 objektiv bereits vor dem
Inkrafttreten der Änderungsverordnung am 01.12.1997 vorgelegen, so dass die
Erkrankung des Versicherten nach § 551 Abs 2 RVO als "Wie-BK" anzuerkennen und
zu entschädigen sei.
Die Klägerin beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 16.02.2006 abzuändern und die Beklagte
unter Aufhebung des Bescheides vom 11.09.1998 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 13.04.1999 zu verurteilen, bei dem Versicherten eine
chronisch obstruktive Bronchitis bzw. ein Lungenemphysem als Berufskrankheit
anzuerkennen und ihm Verletztenrente nach einer MdE in Höhe von 30 v. H. seit dem
26.03.1996 und einer MdE in Höhe von 40 v. H. seit dem 04.09.1997 zu gewähren.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie vertritt die Auffassung, dass kein "entscheidungsreifer" Vorgriffsfall im Sinne der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vorliege, da erst mit Eingang des
Gutachtens von Prof. Dr. C vom 18.08.1998 und damit nach dem 01.12.1997 überhaupt
von einer Entscheidungsreife ausgegangen werden könne. Zwar sei das
Feststellungsverfahren bereits am 04.09.1997 - und damit vor Inkrafttreten der
Änderungsverordnung - eingeleitet worden, die Dauer des Verfahrens sei jedoch nicht
durch "willkürliche" dem Verantwortungsbereich der Beklagten zuzuordnende
Umstände hinausgezögert worden. Das Argument des Versicherten, dass bei Einleitung
des Feststellungsverfahrens vor Inkrafttreten der Änderungsverordnung grundsätzlich
eine Entschädigung ausschließlich nach den Regeln des § 9 Abs 2 SGB VII als "Wie-
BK" zu erfolgen habe, könnte selbst unter Berücksichtigung des
Gleichbehandlungsgrundsatzes nicht greifen. Es wäre auch in diesen Fällen noch von
mehr oder weniger zufälligen Gegebenheiten im Risikobereich des Klägers abhängig,
ob sein Antrag noch vor Inkrafttreten einer Änderungsverordnung beim
Versicherungsträger eingehe. Für die Frage, ob eine Entschädigung als "Wie-BK"
gemäß § 9 Abs 2 SGB VII oder als Berufskrankheit Nr 4111 der Berufskrankheiten-Liste
zu erfolgen habe, könne es damit nur auf den Zeitpunkt der objektiven
Entscheidungsreife ankommen.
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Der weiteren Einzelheiten wegen wird Bezug genommen auf den übrigen Inhalt der
Streitakten und der Verwaltungsakten der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen ist.
19
Entscheidungsgründe:
20
Die Berufung ist begründet.
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Das SG hat zu Unrecht die ablehnende Entscheidung der Beklagten bestätigt. Die
Klägerin ist durch den Bescheid vom 11.09.1998 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 13.04.1999 beschwert, weil dieser Bescheid rechtswidrig
ist (§ 54 Abs 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)). Der Versicherte hatte einen
Anspruch auf Entschädigung seines Lungenemphysem und seiner chronischen
obstruktiven Bronchitis wie eine BK nach § 551 Abs 2 RVO.
22
Der geltend gemachte materielle Anspruch richtet sich nach dem alten, vor Inkrafttreten
des 7. Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) am 01.01.1997 maßgeblichen Recht der
RVO, weil der Kläger einen Anspruch geltend macht, der bereits vor diesem Zeitpunkt -
nämlich spätestens im Jahre 1996 - entstanden sein soll (§ 212 SGB VII, Art 36 des
Gesetzes zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das
Sozialgesetzbuch [Unfallversicherungs- Einordnungsgesetz - UVEG]).
23
Gegenstand des Verfahrens ist die Anerkennung und Entschädigung einer chronischen
obstruktiven Bronchitis und/oder eines Emphysems als Berufskrankheit, sei es als Wie-
BK, sei es als BK Nr 4111 der Anlage zur BKV vom 31.10.1997. Einen solchen
Anspruch hat die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid ausdrücklich oder implizit
abgelehnt. Durch die Einleitung des Verfahrens am 04.09.1997 (und damit vor
Inkrafttreten der neuen BKV am 01.12.1997) ist Gegenstand des Verfahrens auch ein zu
diesem Zeitpunkt ausschließlich realisierbarer Anspruch auf Entschädigung der BK als
Wie-BK. Unerheblich ist, dass die Beklagte diesen Anspruch im angefochtenen
abgelehnenden Bescheid nicht ausdrücklich bezeichnet hat, etwa weil sie dies nach
Inkrafttreten der BKV (der höchstrichterlichen Rechtsprechung folgend, u.a. BSG Urteile
vom 14.11.1996, 2 RU 9/96, SozR 3-2200 § 551 Nr 9; vom 24.02.2000, B 2 U 43/98 R,
SozR 3-2200 § 551 Nr 14 mwN) nicht mehr für erforderlich hielt. Eine Auslegung der
getroffenen Entscheidung aus Sicht eines verständigen Erklärungsempfängers ergibt,
dass die Beklagte im Kern abgelehnt hat, eine chronische obstruktive Bronchitis als BK
anzuerkennen und zu entschädigen. Damit hat sie jedenfalls konkludent auch die
Anerkennung und Entschädigung als Wie-BK abgelehnt.
24
Der Träger der Unfallversicherung gewährt nach Eintritt eines Arbeitsunfalls wegen
dessen Folgen Leistungen, insbesondere Verletztenrente (§§ 547, 548, 581 Abs 1 Nr 2
RVO). Als Arbeitsunfall gilt nach § 551 Abs 1 Satz 1 RVO auch eine Berufskrankheit.
Berufskrankheiten sind nach § 551 Abs 1 Satz 2 RVO Krankheiten, welche die
Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates
bezeichnet hat und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545
genannten Tätigkeiten erleidet. Zum 01.12.1997 hat der Verordnungsgeber mit der Nr.
4111 die chronische obstruktive Bronchitis oder das Emphysem von Bergleuten unter
Tage im Steinkohlenbergbau bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis von
in der Regel 100 Feinstaubjahren ([ mg/m³]x Jahre) als Berufskrankheit in die BKV
aufgenommen. Ein Anspruch nach § 551 Abs 1 RVO scheitert in der Person des
verstorbenen Versicherten jedoch an § 6 Abs 1 BKV idF vom 31.10.1997 ( jetzt: § 6 Abs
2 BKV idF vom 5. September 2002 - BGBl I 3541, neue Fassung - n. F.), weil nach
dieser Vorschrift die Erkrankung nach Nr. 4111 der Anlage zur BKV nur dann als
Berufskrankheit anerkannt und entschädigt werden kann, wenn der Versicherungsfall
nach dem 31.12.1992 eingetreten ist. Der Versicherungsfall ist bei dem Versicherten
jedoch bereits 1990 eingetreten. Der Begriff "Versicherungsfall" im Sinne des § 6 Abs 2
BKV meint das Vorliegen der Voraussetzungen für den Anspruch des Versicherten auf
Anerkennung einer Berufskrankheit iS des § 551 Abs 1 RVO (vgl. BSG, Urteil vom
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30.09.1999, a.a.O., S. 48, m.w.N. und im Einzelnen die Urteile des erkennenden Senats
vom 12.10.2000, L 2 KN 204/98 U und L 2 KN 1/00 U). Nach dem Ergebnis der
Beweisaufnahme bestand ab 1990 eine chronische obstruktive Bronchitis. Denn ab
diesem Zeitpunkt nahm der Versicherte regelmäßig bronchialerweiternde Mittel (in Form
von Berotec und Afpred) ein, die nach Auffassung des Sachverständigen Prof. Dr. T den
Schluss auf eine chronische obstruktive Bronchitis zu lassen (Gutachten vom
24.11.1999/28.02.2000).
Die Rückwirkungsklausel des § 6 Abs 2 BKV verstößt nicht gegen höherrangiges Recht
(BSG Urteil vom 30. 09.1999, SozR 3-2200 § 551; BSG Urteil vom 13.06.2006, B 8 KN
3/05 U R; SGb 2006, 471 (Kurzwiedergabe), die gegen diese Entscheidung eingelegte
Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG
Beschluss vom 30.03.2007, 1 BvR 3144/06)).
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Die wirksame Rückwirkungsvorschrift (§ 6 Abs 2 BKV) schließt jedoch nicht aus, für
Versicherungsfälle außerhalb des Rückwirkungszeitraums noch eine Entschädigung
nach § 551 Abs 2 RVO zuzusprechen, wenn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der BKV
(Änderungsverordnung vom 31.10.1997 (BGBl. I 2623), inkraftgetreten am 01.12.1997 (§
8 Abs 1 BKV)) bereits ein Antrag auf Entschädigung einer Krankheit als "Wie-BK"
gestellt worden ist und die Voraussetzungen für eine solche Entschädigung an sich
gegeben sind (BSG Urteil vom 27.06.2006, B 2 U 5/05 R, SozR 4-5671 § 6 Nr 2 unter
Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung vgl. insoweit u.a. BSG Urteil vom 30.06.1993, 2
RU 16/92, SozR 3-2200 § 551 Nr 3; BSG Urteil vom 25.08.1994, 2 RU 42/93, SozR 3-
2200 § 551 Nr 6).
27
Der Versicherte hatte - aufgrund des am 04.09.1997 und damit vor Inkrafttreten der BKV
eingeleiteten Feststellungsverfahrens - einen Anspruch darauf, dass die Beklagte auch
nach Maßgabe des § 551 Abs 2 RVO entscheidet. Nach § 551 Abs 2 RVO (inhaltsgleich
nach neuem Recht § 9 Abs 2 SGB VII) sollen die Träger der Unfallversicherung im
Einzelfall eine Krankheit, auch wenn sie nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist
und die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine BK entschädigen,
sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des § 551 Abs 1 erfüllt
sind. § 551 Abs 1 Satz 3 RVO bestimmt als Voraussetzung für die Bezeichnung von
Krankheiten als Berufskrankheit durch Rechtsverordnung, dass diese nach den
Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen
verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich
höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind. Die neuen
wissenschaftlichen Erkenntnisse müssen sich zur sogenannten Berufskrankheiten-Reife
verdichtet haben (vgl. dazu BVerfG Beschluss vom 06.12.1977, SozR 2200 § 551 Nr 11;
BSG Urteil vom 30.01.1986, 2 RU 80/84, SozR 2200 § 551 Nr 27; BSG Urteil vom
14.11.1996, 2 RU 9/96, SozR 3-2200 § 551 Nr 9). Im Zeitpunkt der Einleitung des
Verwaltungsverfahrens - am 04.09.1997 - lagen derartige neuere wissenschaftliche
Erkenntnisse vor, die sich zudem zur Berufskrankheiten-Reife verdichtet hatten. Denn
der Ärztliche Sachverständigenbeirat beim Bundesministerium für Arbeit und
Sozialordnung - Sektion Berufskrankheiten - hatte bereits 1995 empfohlen, die BKV zu
ergänzen und die chronische obstruktive Bronchitis oder das Emphysem von Bergleuten
unter Tage im Steinkohlenbergbau bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen
Feinstaubdosis von in der Regel [100 (mg/m3)xJahre]" in die Liste der
Berufskrankheiten aufzunehmen (Bekanntmachung des BMA vom 01.08.1995 - IVa 4 -
45212/13 - Bundesarbeitsblatt 10/1995 S. 39 ff). Die wissenschaftliche Begründung
(a.a.O.) weist u.a. ausdrücklich darauf hin, dass neuere wissenschaftliche
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Untersuchungen ergeben haben, dass eine Erkrankung der tieferen Luftwege und der
Lungen nach langjähriger Unter-Tage-Tätigkeit im Steinkohlenbergbau signifikant
gehäuft vorkommen.
Der Versicherte erfüllte die Voraussetzungen für die Entschädigung von Folgen einer
Erkrankung der Atemwege als sog. "Wie- BK". Der Versicherte war als Bergmann unter
Tage im Steinkohlenbergbau der "Einwirkung einer kumulativen Dosis von in der Regel
100 Feinstaubjahren" ausgesetzt (sog. arbeitstechnischen Voraussetzungen). Der TAD
der Beklagten hat - bei Unterstellung niedriger Staubkonzentration (aus differenzierter
"worst-case"-Betrachtung abgeleitet) - insgesamt 205 Feinstaubjahre ermittelt
(Stellungnahme vom 02.10.1997). Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme bestanden
bei dem Versicherten ein Lungenemphysem und eine deutlich ausgebildete chronische
obstruktive Bronchitis (Prof. Dr. T, Gutachten vom 24.11.1999/28.02.2000). Diese
Anspruchsvoraussetzungen müssen ursächlich miteinander verknüpft sein;
insbesondere muss zwischen versicherter Tätigkeit und schädigenden Einwirkungen
einerseits und zwischen schädigenden Einwirkungen und der Erkrankung andererseits
ein ursächlicher Zusammenhang nach der im Sozialrecht geltenden Lehre von der
wesentlichen Bedingung bestehen, wobei für die Bejahung eines solchen
Zusammenhangs die hinreichende Wahrscheinlichkeit genügt (ständige
Rechtsprechung u.a. BSG Urteil vom 30.04.1985, 2 RU 24/84, SozR 2200 § 548 Nr 70;
BSG Urteil vom 22.08.2000, B 2 U 34/99 R, SozR 3-5670 Anlage 1, 2108 Nr 2;
Brackmann, Handbuch der Versicherung, 11. Auflage, Seite 480 mwN; Hauck in
Weiss/Gagel (Hrsg). Handbuch des Arbeits- und Sozialrechts. Systematische
Darstellung Stand Januar 2003; § 22 A. Die Unfallrenten, Rdnr 67). Wahrscheinlichkeit
in diesem Sinne liegt vor, wenn bei vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den
Zusammenhang sprechenden Tatsachen ein deutliches Übergewicht zukommt, so dass
darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann (u.a. BSG Urteil vom
02.02.1978, 8 RU 66/77, SozR 2200 § 548 Nr 38). Nach dem Ergebnis der
Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats ebenfalls fest, dass ein
wesentlicher Ursachenzusammenhang zwischen der beruflichen Exposition und der
chronisch obstruktiven Bronchitis bzw. dem Lungenemphysem wahrscheinlich ist. Der
Senat folgt insoweit dem Sachverständigen Prof. Dr. T, der ausgeführt hat, dass das
Lungenemphysem und die chronische obstruktive Bronchitis ursächlich wesentlich auf
die Untertagetätigkeit zurückzuführen ist. Der Senat hat darüber hinaus - dem Gutachten
von Prof. Dr. C/Priv.-Doz. Dr. N/Dr. Q vom 18.08.1998 folgend, das im Wege des
Urkundenbeweises Verwertung findet - keine Bedenken, davon auszugehen, dass die
MdE bei dem Versicherten seit dem 26.03.1996 30 v. H und ab dem erstmaligen
Nachweis einer schweren obstruktiven Atemwegserkrankung (am 04.09.1997) 40 v. H.
betrug.
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Der Anspruch richtet sich nach § 551 Abs 2 RVO, obwohl bei Verpflichtungs- und
Leistungsklagen grundsätzlich auf die Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen
Verhandlung abzustellen ist. Hierbei handelt es sich nicht um einen abschließenden
Rechtssatz (Hennig, SGG, § 54 SGG Rdn 136). Vielmehr ist stets auf den zeitlichen
Geltungswillen des materiellen Rechts abzustellen und jeweils zu untersuchen, ob das
aktuelle Recht auf zu beurteilenden Sachverhalt anzuwenden ist (Hennig, SGG, § 54
SGG Rdn, 136, BSG 26,06.2001, B 2 U 28/00 Soz R 3-2700 § 44 Nr 1; Becker, SGb
2006, 97 (100): Der Grundsatz bedarf dann einer Einschränkung, wenn sich durch die
Veränderung der Rechtslage die Rechtsposition des Versicherten verschlechtert.).
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Das im Zeitpunkt der Entscheidung geltende Recht (§ 551 Abs 1 RVO in Verbindung mit
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der zum 01.12.1997 inkraftgetretenen BKV) findet vorliegend keine Anwendung, weil
eine verfassungskonforme Auslegung der Regelungen der § 551 Abs 1/ § 9 Abs 1 SGB
VII in Verbindung mit § 6 Abs 2 BKV n. F und § 551 Abs 2/§ 9 Abs 2 SGB VII dazu führt,
dass in Fällen, in denen vor dem Inkrafttreten der Änderungsverordnung ein
Feststellungsverfahren eingeleitet worden ist, dem Versicherte einen Anspruch auf
Entschädigung "wie eine BK" (§ 551 Abs 2/§ 9 Abs 2 SGB VII) bereits zusteht.
Mit der Einleitung des Verfahrens durch den Träger der gesetzlichen Unfallversicherung
erhält der Versicherte eine Rechtsposition (eine anwartschaftsähnliche Position, so
BSG Urteil vom 27.06.2007, B 2 U 5/05 R, SozR 4-5671 § 6 Nr 2), die ihm ohne Verstoß
gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs 1 GG) und das aus dem
Rechtsstaatsprinzip folgende Gebot des Vertrauensschutzes (Art. 20 Abs 3 GG in
Verbindung mit Art. 2 Abs 1 GG) durch die Rückwirkungsklausel einer später
inkraftretenden Änderungsordnung nicht wieder genommen werden kann (ähnlich
Vossen, Ungereimtes (unreimbares?) um § 9 II SGB VII und die Rückwirkungsklausel
des § 6 BKV SGb 2000, 610 ( 612); Koch in Lauterbach, UV (SGB VII), 4 Aufl., Stand
Januar 1998 Anhang III zu § 9, § 6 BKV Rdn 11). Zunächst findet die Rechtsposition des
Versicherten - nach Einleitung des Feststellungsverfahrens - ihren Ausdruck darin, dass
er gegen den Unfallversicherungsträger bis zum Inkrafttreten der jeweiligen
Änderungsverordnung - entsprechend den allgemeinen Grundsätzen des
Verwaltungsverfahrensrechts - einen Anspruch auf eine zügige Entscheidung - auf der
Grundlage des § 551 Abs 2 RVO - hat (BVerfG, Beschluss vom 09.10.2000, 1 BvR
791/95, SozR 3-2200 § 551 Nr 15; BVerfG Beschluss vom 23.06.2005, 1 BvR 235/00,
SozR 4-1100 Art 3 Nr 32). Damit allein kann jedoch eine Verletzung des
Gleichheitsgrundsatzes nicht ausgeschlossen werden. Art. 3 Abs 2 GG ist stets verletzt,
wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten
anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von
solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass die ungleiche Behandlung
gerechtfertigt ist (vgl BVerfG Beschluss vom 07.10.1980, 1 BvL 50/79, 1 BvL 89/79, 1
BvR 240/79, BVerfGE 55, 72 (88); BVerfGE Beschluss vom 20.05.1987, 1 BvR 762/85,
SozR 2200 § 555a Nr 3; BVerfG Beschluss vom 30.09.1987, 2 BvR 933/82, BVerfGE
76, 256 (329 f); BVerfG Urteil vom 06.03.2002, 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (110 f);
siehe auch BSG Urteil vom 28.04.2004, B 2 U 20/03 R, SozR 4-2700 § 8 Nr 4).
Zwischen jenen Versicherten, deren Verfahren vor Inkrafttreten der
Änderungsverordnung zügig zur Entscheidungsreife geführt wurde und jenen, deren
Feststellungsverfahren vor Inkrafttreten der Änderungsverordnung nicht mehr
abgeschlossen werden konnte, gibt es keine Unterschiede, die eine
Ungleichbehandlung der Versicherten rechtfertigen. Unterschiede in der Person der
Versicherten beruhen in erster Linie darauf, dass die Krankengeschichte einer Gruppe
von Versicherten gegenüber anderen Versicherten längere, zeitintensivere Ermittlungen
notwendig macht und die Entscheidungsreife damit später, d. h. möglicherweise erst
nach Inkraftreten der Änderungsverordnung, eintritt. Es ist jedoch sachlich nicht
gerechtfertigt, Versicherte, deren Feststellungsverfahren komplexere, zeitlich länger
dauernde Ermittlungen notwendig macht, anders zu behandeln als Versicherte, deren
Feststellungsverfahren rechtzeitig vor Inkrafttreten der Änderungsverordnung
abgeschlossen wurde. Insbesondere ist eine lange bzw. komplizierte
Krankengeschichte, die umfangreiche medizinische Ermittlungen erfordert, kein
geeignetes Kriterium, um den Ausschluss des Versicherten von der Entschädigung zu
rechtfertigen. Das gilt in gleicher Weise für die oftmals gerade bei "neuen"
Berufskrankheiten - angesichts fehlender Verwaltungsübung - länger dauernden
arbeitstechnischen Ermittlungen. Es bestände die Gefahr, dass gerade derjenige, der
32
aufgrund seiner beruflichen Exposition und umfassenden Krankengeschichte als
besonders schutzbedürftig gilt, von der möglichen Entschädigung nach § 551 Abs 2
RVO/§ 9 Abs 2 SGB VII ausgeschlossen würde. Selbst wenn Unterschiede in der
Person der Versicherten nicht bestehen, ist es letztlich von Zufälligkeiten abhängig, ob
es dem Versicherträger gelingt, das Feststellungsverfahren nach § 551 Abs 2 RVO/§ 9
Abs 2 SGB VII vor dem Inkraftreten der Änderungsverordnung abzuschließen (so auch
Koch in Lauterbach, UV (SGB VII), 4 Aufl., Stand Januar 1998 Anhang III zu § 9, § 6
BKV Rdn 10 f). Die Dauer des Feststellungsverfahrens ist abhängig von der
Arbeitsorganisation und Arbeitsbelastung (Anzahl der Anträge) des
Versicherungsträgers. Sie ist weiter abhängig von der zeitnahen Mitwirkung
behandelnder Ärzte des Versicherten und möglicherweise zu hörender
Sachverständiger. Es besteht darüber hinaus zumindest die Möglichkeit zur
Manipulation, indem der Versicherungsträger die Entscheidung (nach Abs 2) hinaus
zögert (Breuer, Die Stichtagsregelung im Berufskrankheitenrecht, Festschrift für von
Maydell, 2002, S. 125 ff (134); Voosen, a.a.O). Die unterschiedliche Behandlung
gegenüber bereits nach § 551 Abs 2 RVO entschädigten Versicherten wäre nicht
sachgerecht, weil sie lediglich von Zufälligkeiten in der Bearbeitung der Verfahren durch
den Unfallversicherungsträger abhängig wäre. Es darf aber nicht von Zufälligkeiten
abhängen, ob ein Versicherter Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen
Unfallversicherung hat (vgl. BVerfG Beschluss vom 23.06.2005, 1 BvR 235/00, SozR 4-
1100 Art. 3 Nr 32; BVerfG Beschluss vom 22.10.1981, 1 BvR 1369/79, BVerfG E 58, 369
(375 f.); BSG Urteil vom 27.06.2006, 2 U 5/05 R, SozR 4-5671 § 6 Nr 2; Becker, SGb
2006, 97 (100)).
Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen nur dann nicht, wenn angenommen wird,
dass der Versicherte mit einem bereits vor Inkrafttreten der Änderungsverordnung
eingeleiteten Feststellungsverfahren eine Rechtsposition erhält, die ihm durch eine
Änderungsverordnung nicht mehr genommen werden kann. Lediglich diese Auslegung
des § 551 RVO / § 9 SGB VII vermeidet eine unzulässige Beeinträchtigung der
Betroffenen. Da diese Auslegung mit den Prinzipien der Verfassung am besten
übereinstimmt ist ihr der Vorzug zu geben (vgl. Larenz, Methodenlehre der
Rechtswissenschaft, 6. Auflage S.339).
33
Bei anderem Verständnis beständen zudem Bedenken, ob dem aus dem
Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs 3 GG) folgenden Grundsatz der Rechtssicherheit
(Bestimmheitserfordernis) ausreichend Rechnung getragen würde, wenn es für die
Gewährung von Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung nach § 551 Abs 2
RVO/§ 9 Abs 2 SGB VII, einzig und allein auf die Entscheidungsreife ankäme. Denn
diese ist abhängig von Zufälligkeiten mit Folge, dass die gesetzliche Regelung nicht mit
der notwendigen Sicherheit zu erkennen gibt, unter welchen Voraussetzungen ein
Anspruch gegeben ist. Der Gesetzesinhalt muss jedoch hinreichend eindeutig zu fassen
sein, so dass - zumindest mit den juristischen Auslegungsmethoden - klar zu erkennen
ist, unter welchen Voraussetzungen ein Anspruch besteht (vgl. BVerfG Urteil vom
17.11.1992, 1 BvL 8/87, SozR 3-4100 § 137 Nr 3).
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Der Senat sieht daher bereits mit dem vor dem Inkrafttreten der Änderungsverordnung
eingeleiteten Feststellungsverfahren eine Rechtsposition begründet, die dem
Versicherten unter Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs 1
GG) genommen würde, wenn der Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen
Unfallversicherung von den Zufälligkeiten des weiteren Verfahrensgang, insbesondere
der Verfahrensdauer abhängig wäre. Es ist rechtstaatlich nicht zu rechtfertigen, dass
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sich eine außergewöhnlich lange Verfahrensdauer zum Nachteil der Versicherten
auswirkt (so LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 22.09.1998, L 7 U 29=/96, SGb 1999, 302
a.A. damals noch BSG Urteil vom 24.02.2000, B 2 U 42/98 R, kritisch dazu Keller, Die
Bewältigung des Berufskrankheitensrechts aus der Sicht der juristischen Praxis, SGb
2001, 226 (230), der darauf hinweist, dass die gesetzliche Unfallversicherung nicht nur
durch das Prinzip der Ersetzung der Arbeitgeberhaftung, sondern durch das soziale
Schutzprinzip zugunsten des Versicherten gekennzeichnet ist, und der Versicherte
daher nicht auf die zivilrechtliche Schadensersatzansprüche verwiesen werden darf und
dem Versicherten das Risiko aufgebürdet wird, das durch langsame, unzureichende
Ermittlungen oder die Sachverständigenauswahl seitens des
Unfallversicherungsträgers entsteht.). Im Ergebnis kommt als einzige dem
Gleichheitssatz und rechtsstaatlichen Anforderungen genügende Lösung eine objektive
retrospektive Beurteilung des Vorliegens der Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 551
Abs 2 RVO und das Abstellen auf das Datum des Entschädigungsantrages bzw. der
sonstigen Einleitung des Feststellungsverfahrens und des Inkrafttretens der
Änderungsverordnung in Betracht (vgl. BSG Urteil vom 27.06.2007, 2 U 5/05 R a.a.O).
Steht dem Versicherten, wenn sich neue medizinische Erkenntnisse zu BK-Reife
verdichtet haben mit Einleitung des Feststellungsverfahrens ein Anspruch auf
Entschädigung "wie eine BK" zu, so darf er auf den Fortbestand dieser Rechtsposition
vertrauen. Die Rechtsposition könnte ihm nur dann, ohne einen Verstoß gegen das aus
dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Gebot des Vertrauensschutzes (Art. 20 Abs 3 GG in
Verbindung mit Art. 2 Abs 1 GG) durch § 551 Abs 1 RVO/§ 9 Abs 1 SGB VII genommen
werden, wenn zwingende Gründe des Gemeinwohls dies gebieten würden (vgl. dazu
BVerfG, Beschluss vom 14.05.1986, 2 BvL 2/83, BVerfGE 72, 200 (258); BVerfG Urteil
vom 23.11.1999, 1 BvF 1/94, BVerfGE 101,239 (263)). Zu diesen zwingenden Gründen
des Gemeinwohls rechnen u.a die Erhaltung der Funktions- und Leistungsfähigkeit des
des betreffenden Sozialversicherungssystems oder die Entlastung der Staatshaushalte
des Bundes und der Länder (vgl. BVerfG Urteil vom 28.04.1999, 1 BvL 32/95, 1 BvR
2105/95, SozR 3-8570 § 10 Nr 3). Derartige Gründe sind jedoch vorliegend nicht
ersichtlich (vgl. BSG Urteil vom 27.06.2006, B 2 U 5/05 R a.a.O.; Voosen, a.a.O (612)).
Der zuvor mit der Einleitung des Feststellungsverfahrens bzw. der Antragstellung
entstandene Anspruch des Versicherten auf Entschädigung als "Wie - BK" erlischt damit
auch nicht mit dem Inkrafttreten der BKV am 01.12.1997.
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Dieses Verständnis des § 551 Abs.2 RVO/§ 9 Abs.2 SGB VII entspricht zudem
weitgehend dem Sinn und Zweck der Regelung. Die Vorschrift bezweckt ein möglichst
hohes Maß an Einzelfallgerechtigkeit, indem sie es ermöglicht, auch solche
berufsbedingten Erkrankungen, die noch nicht in der Berufskrankheitenliste enthalten
sind, wie eine Berufskrankheit zu entschädigen (Koch in Lauterbach, UV (SGB VII), 4
Aufl., Stand Januar 1998 § 9 Rdn 220c unter Hinweis auf die Motive des Gesetzgebers
(BT-Drucks IV/938 S. 7 zu § 552 Abs 2 RVO). Diesem Zweck würde es widersprechen,
die Entschädigung im Wesentlichen von der Frage abhängig zu machen, ob es dem
Versicherungsträger gelingt, vor Inkrafttreten einer Änderungsverordnung die
Entscheidungsreife herbeizuführen. Zudem würde sich der Versicherungsträger in
einem unauflösbaren Widerspruch befinden zwischen dem Grundsatz, dass er alle für
den Einzelfall bedeutsamen, auch für den Versicherten günstigen Umstände zu
ermitteln hat (§ 20 Abs 2 10. Buches Sozialgesetzbuch (SGB X)) und dem Bedürfnis des
Versicherten an der schnellen Herbeiführung der Entscheidungsreife. Die
Argumentation der Beklagten, dem Gleichbehandlungsgrundsatz könne selbst dann
nicht ausreichend Rechnung getragen werden, wenn bei Einleitung des
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Feststellungsverfahrens vor Inkrafttreten der Änderungsverordnung eine Entschädigung
ausschließlich nach den Regeln des § 9 Abs 2 SGB VII als "Wie-BK" zu erfolgen habe,
weil es auch in diesen Fällen noch von mehr oder weniger zufälligen Gegebenheiten im
Risikobereich des Versicherten abhängig wäre, ob sein Antrag noch vor Inkrafttreten
einer Änderungsverordnung beim Versicherungsträger eingehe, überzeugt nicht. Die
Beklagte wird nicht umhin kommen anzuerkennen, dass nach der Rechtsprechung (vgl.
BVerfG Beschluss vom 23.06.2005, 1 BvR 235/00, SozR 4-1100 Art. 3 Nr 32; BVerfG
Beschluss vom 22.10.1981, 1 BvR 1369/79, BVerfG E 58, 369 (375 f.); BSG Urteil vom
27.06.2006, 2 U 5/05 R, SozR 4-5671 § 6 Nr 2) es nicht von Zufälligkeiten abhängen
darf, ob ein Versicherter Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung
hat. Die Argumentation der Beklagten könnte vor diesem Hintergrund lediglich zur
Konsequenz haben, ohne Rücksicht auf das Listenprinzip alle Anträge wegen beruflich
bedingter Schädigung, deren Entstehung vor dem Rückwirkungsstichtag liegt, nach §
551 Abs.2 RVO/§ 9 Abs.2 SGB VII zu behandeln (so Rüfner a.a.O). Das will die
Beklagte offensichtlich jedoch nicht und schlägt vor, dass es für die Frage, ob eine
Entschädigung als "Wie-BK" gemäß § 9 Abs 2 SGB VII oder als Berufskrankheit Nr.
4111 der Berufskrankheiten-Liste zu erfolgen habe, einzig und allein auf den Zeitpunkt
der objektiven Entscheidungsreife ankommen könne. Gerade diese Auffassung
begegnet jedoch aufgrund der von Zufälligkeiten abhängigen Dauer des
Feststellungsverfahrens verfassungsrechtlichen Bedenken. Im Übrigen trägt der
Versicherte im Sozialversicherungsrecht grundsätzlich das Risiko Ansprüche auf
Sozialleistungen ganz oder teilweise zu verlieren, wenn er selbst nicht tätig wird bzw.
keinen Antrag stellt. Dieses Risiko liegt grundsätzlich in der Sphäre des Versicherten.
Es zu tragen sieht der Senat angesichts der Regelungen § 19 Satz 2 SGB 4. Buch
Sozialgesetzbuch (SGB IV) (Leistungen von Amts wegen); § 202 SGB VII
(Anzeigepflicht von Ärzten) und § 13 1. Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) (allgemeine
Aufklärungspflicht des Versicherungsträgers) für den Versicherten als noch zumutbar
an. Demgegenüber hat der Versicherte auf die Dauer des Feststellungsverfahrens und
damit auf den Zeitpunkt der Entscheidungsreife keinen Einfluss. Die Dauer des
Feststellungsverfahrens liegt in der Risikosphäre des Versicherungsträgers und darf
daher nicht zu Nachteilen des Versicherten führen.
Bereits vor dem Hintergrund des Beschlusses des BVerfG (vom 23.06.2005, 1 BvR
235/00, SozR 4-1100 Art 3 Nr 32) ist die Auffassung, dass die Entscheidung des
Verordnungsgebers unbedingten Vorrang vor einer Einzelfallentscheidung des
Unfallversicherungsträgers nach § 551 Abs 2 RVO / § 9 Abs 2 SGB VII hat (so die
bisherige Rechtsprechung vgl. u.a. BSGE 72, 2003; BSG B 2 U 43/92 R, SozR3-2200 §
551 Nr 14; Breuer, Die Stichtagsregelung im Berufskrankheitenrecht, Festschrift für von
Maydell, 2002, S. 125 ff (137);) nicht mehr aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus wird der
Vorrang des Verordnungsgebers durch die zeitliche Begrenzung der Regelung auf
solche Feststellungsverfahren, die vor dem Inkrafttreten der Änderungsverordnung
eingeleitet wurden, nicht berührt, da der Verordnungsgeber es immer noch in der Hand
hat, durch die zügige Verabschiedung einer Änderungsverordnung die zeitliche
Rückwirkung einzuschränken (Becker, SGb 2006, 97 (100); weitergehend allerdings
LSG Niedersachsen, 06.04.1993, danach ist dem Verordnungsgeber mit § 551 Abs 1
generell nicht Befugnis eingeräumt worden, einen nach Abs 2 bereits entstandenen
Anspruch nachträglich zu beseitigen; ebenfalls a.A. Rüfner, SGb 2007, 357 ff). Am
Grundsatz, dass die gesetzliche Unfallversicherung unter Geltung der RVO - ebenso
nach dem geltenden Recht des SGB VII - von dem Listenprinzip geprägt wurde bzw.
wird, ändert die hier vertretene Auffassung nichts. Denn nach wie vor werden
grundsätzlich nicht alle beruflich verursachten Krankheiten, sondern nur solche, die als
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Berufskrankheiten in die BKV listenmäßig aufgenommen sind, entschädigt. Das
Listenprinzip wird jedoch durch § 551 Abs 2 RVO/§ 9 Abs 2 SGB II aufgelockert, ohne
dass dies generell (mit dieser Einschränkung ist Eilebrecht, Die Rückwirkungsklausel
der 2. Verordnung zur Änderung der Berufskrankheitenverordnung, BG 1993, S. 187,
189, zuzustimmen) - im Sinne einer Auffangnorm - zur Entschädigung von
Berufskrankheiten führt, die nach neuem Recht mangels weitergehender Rückwirkung
nicht entschädigt werden können. Lediglich in den Fällen in denen vor Inkrafttreten der
Änderungsverordnung ein Feststellungsverfahren eingeleitet worden ist, verbleibt es bei
der Anwendung des § 551 Abs 2 RVO/§ 9 Abs 2 SGB VII.
Nicht entscheidend ist, ob der Versicherte einen Antrag gestellt hat oder das
Feststellungsverfahren - wie vorliegend - von Amts wegen eingeleitet wurde. Nach § 18
Satz 1 10. Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) entscheidet die Behörde nach
pflichtgemäßem Ermessen, ob und wann sie ein Verwaltungsverfahren durchführt. Dies
gilt nicht, wenn die Behörde auf Grund von Rechtsvorschriften von Amts wegen tätig
werden muss (§ 18 Satz 2 Nr 1 SGB X). § 19 Satz 2 SGB IV begründet die Pflicht des
Unfallversicherungsträgers zum Tätigwerden von Amts wegen. Begründet wird das
antragslose Verfahren durch die Besonderheiten des Unfallversicherungsrechts
(Notwendigkeit des unverzüglichen Handelns im Bereich der medizinischen
Rehabilitation, Notwendigkeit der Beweissicherung und der Beitrag zur Wahrung des
Betriebsfriedens (vgl. im Einzelnen Winter, § 19 Satz 2 SGB IV oder die Besonderheit
des Leistungsrechts in der gesetzlichen Unfallversicherung, SGb 2006, 657 ff.)).
Erkennbar wird dadurch, dass der Versicherungsträger auch zur Vermeidung von
Nachteilen, im Interesse des Versicherten von Amts wegen tätig werden und es nicht auf
einen von diesem gestellten Antrag ankommen soll. Es besteht daher kein Anlass, die
Entschädigung nach § 551 Abs 2 RVO in Fällen der vorliegenden Art, davon abhängig
zu machen, ob der Versicherte vor Inkrafttreten der BKV selbst einen Antrag gestellt hat.
Selbst wenn ein Antrag erforderlich wäre, so wäre dieser als mit dem 29.09.1997 gestellt
anzusehen. Mit diesem Tage ging der an den Versicherten gerichtete Fragebogen,
nebst weiteren Unterlagen (u.a. einer Kopie des Bergmannsbuch, ärztlichen Unterlagen
des Kath. Krankenhauses E West vom 05.09.1997, 28.03.1996, 01.07.1994 und des N-
hospiatals I vom 22.11.1993) wieder bei der Beklagten ein. An die Form des Antrages
sind zum Schutz des Versicherten keine strengen Anforderungen zu stellen.
Ausreichend ist, wenn der Versicherte seinen Willen, die Anerkennung einer bereits
früher bestehenden Berufskrankheit zu verlangen, in irgendeiner Form gegenüber dem
Versicherungsträger zum Ausdruck bringt (Eilebrecht, Die Rückwirkungsklausel der
zweiten Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung, BG 1993, 187 (
189)). Auch ein Antrag wäre damit vor Inkrafttreten der Änderungsordnung als gestellt
anzusehen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Die Revision ist zuzulassen. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung (§ 160
Abs. 2 Nr. 1 SGG).
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