Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 21.12.1999
LSG NRW: geburt, freiwillige versicherung, altersgrenze, kinderbetreuung, belastung, krankenversicherung, versicherungspflicht, kausalität, schulbesuch, berufsausbildung
Landessozialgericht NRW, L 5 KR 61/99
Datum:
21.12.1999
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
5. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 5 KR 61/99
Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 9 KR 153/98
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln
vom 11.05.1999 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor
wie folgt gefasst wird: Der Bescheid der Beklagten vom 19.06.1998 in
der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.09.1998 wird
aufgehoben. Es wird festgestellt, dass die Klägerin ab dem 01.10.1997
in der Krankenversicherung der Studenten versicherungspflichtig ist. Die
Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des
zweiten Rechtszuges zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
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Die Parteien streiten darüber, ob die Klägerin versicherungspflichtig in der
Krankenversicherung der Studenten (KVdS) ist.
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Die Klägerin ist im ... 1965 geboren. Sie hat im Juli 1981 die Fachoberschulreife
erworben und ab August 1985 eine Lehre zur Bürokauffrau absolviert, die sie mit der
Abschlussprüfung am 20.01.1988 abgeschlossen hat. Nach eigener Darstellung
verrichtete sie anschließend Gelegenheitsarbeiten. Ab 01.02.1989 besuchte sie das
Bergische Kolleg in W. (Einrichtung zur Erlangung der Hochschulreife). Ab 01.02.1991
bis zur Abmeldung am 17.01.1992 war sie beurlaubt. Nach ihrer Angabe beendete sie
den Kollegbesuch wegen der Geburt ihres ersten Kindes. Das erste Kind der Klägerin
ist am ... 1990 geboren worden, ein zweites Kind am ... 1992. Vom 01.08.1995 bis
31.01.1997 hat die Klägerin das Städtische Abendgymnasium in W. besucht und die
Fachhochschulreife erworben. Nach einem halbjährigen Berufspraktikum hat sie zum
Wintersemester 1997/98 an der Fachhochschule D. ein Fachhochschulstudium mit der
Studienrichtung Sozialarbeit aufgenommen.
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Die Klägerin war bei der Beklagten seit 1989 freiwillig versichert. Auch nach Eingang
der Meldung der Fachhochschule für das Wintersemester 1997 (28.10.1997) führte die
Beklagte die freiwillige Versicherung fort.
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Mit Schreiben vom 04.06.1998 bat die Klägerin um Prüfung, ob eine Versicherung in der
KVdS in Betracht komme. Mit Bescheid vom 19.06.1998 lehnte die Beklagte die
Aufnahme in die KVdS ab, da die Klägerin das Studium erst nach dem 30. Lebensjahr
aufgenommen habe. Mit ihrem Widerspruch machte die Klägerin unter Darlegung ihres
Ausbildungsganges geltend, sie habe das Fachhochschulstudium erst auf dem zweiten
Bildungsweg erreicht. Zudem seien familiäre Gründe für den verspäteten Studienbeginn
maßgebend. Sie wies dabei auf ein Besprechungsergebnis der Spitzenverbände der
Krankenkassen vom 11.02.1992 hin, wonach bei der Erziehung eines Kindes eine
Verlängerung des Studiums um drei Jahre gerechtfertigt sei. Mit Widerspruchsbescheid
vom 15.09.1998 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zwar liege zwischen dem
20. und 30. Lebensjahr die Zeit der Ausbildung zur Bürokauffrau sowie die Geburt
zweier Kinder. Es könne dahingestellt bleiben, wie lange die Hinderung durch die
Geburt und die Betreuung der Kinder angedauert habe. Schwangerschaft, Geburt und
Betreuung der Kinder seien im Hinblick auf den Normzweck der Ausnahmeregelung des
§ 5 Abs. 1 Nr. 9 2. Halbsatz SGB V keine Hinderungsgründe, die das Hinausschieben
des Beschreitens des zweiten Bildungswegs rechtfertigen könnten. Soweit derartige
familiäre Gründe bei Eintritt nach Aufnahme eines Studiums als Hinderungsgründe die
Überschreitung der Höchstsemesterzahl oder der Lebensaltersgrenze rechtfertigten,
liege die Kausalität für die Verlängerung des Studiums auf der Hand. Wenn, wie im
vorliegenden Fall, die Kinder vor Beschreiten des zweiten Bildungsweges geboren
worden seien, belege dies, das ursprünglich eine andere Lebensplanung beabsichtigt
gewesen sei.
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Die Klägerin hat mit ihrer Klage ihren Vortrag aus dem Verwaltungsverfahren
wiederholt. Sie hat die Darstellung der Beklagten als unangemessen bezeichnet, dass
eine andere Lebensplanung belegt sei. Bis 1 Jahr nach der Geburt des zweiten Kindes
habe sie mit ihrem Partner zusammen gelebt. Dieser sei selbständig und tagsüber nicht
zu Hause gewesen.
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Mit Urteil vom 11.05.1999 hat das Sozialgericht die Beklagte antragsgemäß zur
Aufnahme der Klägerin in die KVdS ab 01.10.1997 verurteilt. Unabhängig davon, ob
eine andere Lebensplanung belegt sei, sei entscheidend, dass familiäre Gründe für die
Verzögerung des Studiums ursächlich gewesen seien. Entsprechend dem
Besprechungsergebnis der Spitzenverbände sei für die Betreuung der Kinder jeweils
eine Hinderungszeit von drei Jahren anzuerkennen.
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Mit ihrer Berufung hält die Beklagte an ihrer Auffassung fest, dass Geburt und Betreuung
der Kinder kein rechtfertigender Hinderungsgrund für das späte Beschreiten des zweiten
Bildungsweges gewesen seien. Soweit in Anlehnung an das
Bundeserziehungsgeldgesetz (BErzGG) eine Hinderungszeit von drei Jahren
eingeräumt werde, lasse sich eine so lange Zeit nicht mit dem notwendigen Gewicht der
Hinderungsgründe vereinbaren. Es müsse dem Betroffenen objektiv unzumutbar sein,
sein Studium bzw. seine Ausbildung fortzusetzen. Insoweit könne allenfalls für die
Zeitdauer des Mutterschutzes eine Hinderungszeit anerkannt werden. Das BErzGG
habe eine familienpolitische Zielsetzung. Im übrigen bedeute eine Berufstätigkeit neben
der Kinderbetreuung eine andere Belastung als der Besuch eines Abendgymnasiums
bei bestehender Lebensgemeinschaft mit dem Vater der Kinder.
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Die Beklagte beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 11.05.1999 zu ändern und die Klage
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abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung. Ergänzend weist sie auf die Richtlinie
79/7/EWG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und
Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit hin und meint, da Betreuung und Erziehung
der Kinder weit überwiegend durch die Frauen/Mütter erfolgten, liege in der Verneinung
von Hinderungsgründen durch Kindererziehung eine unzulässige Diskriminierung von
Frauen.
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Der Senat hat eine Auskunft des B. Kollegs in W. eingeholt; insoweit wird auf Blatt 70
der Gerichtsakten Bezug genommen.
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Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der
mündlichen Verhandlung gewesen sind.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat zu Recht entschieden,
das die Klägerin mit Aufnahme ihres Fachhochschulstudiums versicherungspflichtig in
der KVdS geworden ist.
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Da die Versicherungspflicht bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen kraft
Gesetzes eintritt, bedarf es keiner "Aufnahme" der Klägerin in die KVdS durch die
Beklagte. Der Senat hat daher den Tenor zur Klarstellung neu gefasst und die
Versicherungspflicht ab 01.10.1997 festgestellt. Zwar begann des Wintersemester
1997/1998 am 01.09.1997 und die Klägerin hat sich auch schon am 02.09.1997
immatrikuliert, so dass gemäß § 186 Abs. 7 SGB V ihre Pflichtmitgliedschaft bereits an
diesem Tag begann. Da die Klägerin aber ausdrücklich die Feststellung ihrer
Versicherungspflicht erst ab 01.10.1997 beantragt hat, konnte der Senat über diesen
Antrag nicht hinausgehen.
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Nach § 5 Abs. 1 Nr. 9 Halbsatz 1 SGB V sind Studenten längstens bis Vollendung des
30. Lebensjahres (bzw. des Abschlusses des 14. Fachsemesters)
versicherungspflichtig, es sei denn, dass die Art der Ausbildung oder familiäre sowie
persönliche Gründe das Überschreiten der Altersgrenze (bzw. der Studienzeit)
rechtfertigen (Halbsatz 2 aaO.). Die Klägerin war bei Beginn ihres Studiums bereits 32
Jahre alt. Zwar kann im Regelfall bei Aufnahme eines Studiums nach dem 30.
Lebensjahr Versicherungspflicht in der KVdS nicht mehr beginnen. Ausnahmsweise
kommt jedoch eine Versicherung in der KVdS in Betracht, wenn zwischen dem 20. und
30. Lebensjahr sowie weiter bis zum Beginn des Studiums Hinderungsgründe
bestanden haben, die für so einen späten Studienbeginn ursächlich waren und das
Überschreiten der Altersgrenze rechtfertigen (BSG SozR 3-2500 § 5 Nr. 8; BSG USK
9419).
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Ein solcher Ausnahmefall liegt vor. In der Zeit zwischen Vollendung des 20.
Lebensjahres und dem Beginn des Beschreitens des zweiten Bildungsweges und der
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Zeit zwischen dem Erwerb der Fachhochschulreife und der Aufnahme des Studiums
bestanden im wesentlich durchgehend Hinderungsgründe.
Bei Absolventen des zweiten Bildungsweges wie der Klägerin zählt schon nach dem
Gesetzeswortlaut die Zeit des Besuchs der Ausbildungsstätte für den Erwerb der
Zugangsvoraussetzungen zum Studium als Hinderungszeit (BSG SozR 3-2500 § 5 Nr. 8
S.31). Voraussetzung für den Besuch des Kollegs zum Erwerb der Hochschulreife war
nach § 2 lit.a der Verordnung über den Bildungsgang und die Abiturprüfung am Kolleg
(Institut zur Erlangung der Hochschulreife - APO-Kolleg) vom 23.03.1982 (Gesetz- und
Verordnungsblatt für das Land NRW, GV NRW, S. 188) der Abschluss einer
Berufsausbildung (für das Vorliegen der Alternativvoraussetzung lit. b aaO. ist nichts
ersichtlich), so dass auch die Ausbildungszeit bis Abschluss der Berufsausbildung zur
Bürokauffrau (20.01.1988) Hinderungszeit ist. Das B. Kolleg hat die Klägerin ab
01.02.1989 besucht; diese Ausbildung hat sie - ohne Abschluss - im Januar 1992
abgebrochen, nachdem sie bereits ab 01.02.1991 beurlaubt gewesen war. Sie hat nach
der Geburt ihrer am ...1990 und ...1992 geborenen Kinder diese betreut und die
Fachhochschulreife nach dem Besuch des Abendgymnasiums vom 01.08.1995 bis
31.07.1997 erworben.
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Entgegen der Auffassung der Beklagten ist auch die Zeit der Betreuung der Kinder eine
Hinderungszeit. Entsprechend dem Besprechungsergebnis der Spitzenverbände der
Krankenkassen vom 11.02.1992 (BB 1992, 1000) sind für die Betreuung eines Kindes
bis maximal drei Jahre nach der Geburt Hinderungszeiten anzuerkennen. Die
Auffassung der Beklagten, allenfalls für die Zeitdauer des Mutterschutzes (§ 6 Abs. 1
Mutterschutzgesetz) könne eine Hinderungszeit bejaht werden, ist zu eng. Zwar trifft es
zu, dass der Gesetzgeber mit dem GRG die beitragsgünstige KVdS begrenzen und sie
grundsätzlich auf einen Lebensaltersabschnitt beschränken wollte, in dem Leistungen
der Krankenversicherung üblicherweise in geringerem Umfang in Anspruch genommen
werden, weil der Gesundheitszustand altersbedingt im allgemeinen gut ist und
beitragsfrei mitversicherte Angehörige seltener sind oder erst im Laufe der Zeit
dazukommen (vgl. BSG SozR 3-2500 § 5 Nr. 4 S. 12; Nr. 32 S. 125). Dementsprechend
müssen die familiären oder persönlichen Gründe, die ein Überschreiten der
Altersgrenze rechtfertigen, von solcher Art und solchem Gewicht sein, dass sie auch bei
objektiver Betrachtungsweise die Aufnahme eines Studiums oder seinen Abschluss
verhindern oder als unzumutbar erscheinen lassen. Nicht ausreichend ist es, das
Studium nur deshalb aufzuschieben, weil es als zweckmäßig oder sinnvoll erscheint
(BSG SozR 3-2500 § 5 Nr. 4 S.14 f; Nr. 6 S.22; Nr. 7 S.26). In der Gesetzesbegründung
des GRG werden aber als Beispiele für persönlich oder familiäre Gründe im Sinne des
2. Halbsatzes unter anderem Schwangerschaft und die Betreuung von behinderten oder
aus anderen Gründen auf Hilfe angewiesenen Kindern genannt (BT-Drucks. 11/2237,
Seite 159). "Aus anderen Gründen" sind typischerweise Säuglinge und Kleinkinder auf
Betreuung und Hilfe angewiesen. Das BSG hat dementsprechend im Urteil vom
30.06.1993 ausgeführt, dass nach den Gesetzesmaterialien die Betreuung jüngerer oder
älterer behinderter Kinder als Hinderungsgrund ausreiche (SozR 3-2500 § 5 Nr. 13 S.
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Der Senat hält für die Bestimmung der maximalen Dauer der Hinderungszeit die
Anlehnung an § 15 Abs. 1 BErzGG für sachgerecht. Hauptzweck des
Bundeserziehungsgeldgesetzes ist die Förderung und Betreuung von Kleinkindern in
der für die ganze spätere Entwicklung entscheidenden ersten Lebensphase. Der Mutter
bzw. dem Vater soll ermöglicht oder erleichtert werden, zugunsten des Kindes im
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Anschluss an den Mutterschutz ganz oder teilweise auf eine Erwerbstätigkeit zu
verzichten und sich ohne Belastung durch Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis der
Kindesbetreuung zu widmen (vgl. Hambüchen in: Hambüchen, BKGG/BErzGG,
Einführung BErzGG Anm. 5 b; Viethen in: Zmarzlik/Zipperer/Viethen,
Mutterschutzgesetz, Mutterschaftsleistungen, Bundeserziehungsgeldgesetz, 8. Aufl., §
15 BErzGG Rdnr. 2). In gleicher Weise ist es gerechtfertigt, Studierenden oder
Personen, die erst die Voraussetzung für die Aufnahme eines Studiums erwerben
müssen, die Möglichkeit einzuräumen ohne Nachteile ihre Ausbildung zu unterbrechen
bzw. zu verzögern, um sich voll der Betreuung ihrer Kinder widmen zu können. Für die
Zeitgrenze von drei Jahren spricht dabei auch, dass Kinder erst nach Vollendung des
dritten Lebensjahres einen Anspruch auf einen Kindergartenplatz haben (§ 24 SGB VIII
in der seit 1.1.1996 geltenden Fassung; das bis zum 31.12.1995 für den Anspruch auf
einen Kindergartenplatz maßgebliche Landesrecht enthielt in NRW keinen Anspruch)
bzw. dann in einen Kindergarten aufgenommen werden (vgl. die Begriffsbestimmung in
§ 1 Nr. 1 des Ges. über Tageseinrichtungen für Kinder - GTK vom 20.9.1991 (GV NRW,
S. 380)) und erst ab diesem Zeitpunkt ihre außerhäusliche Betreuung zumindest
erleichert ist. Dementsprechend sollte mit der Verlängerung des Erziehungsurlaubs auf
drei Jahre auch der nahtlose Übergang zum Kindergarten sichergestellt werden (vgl.
BT-Drucks.12/1125, S.7; s.a. Viethen, aaO).
Der Einwand der Beklagten, das BErzGG könne kein Maßstab für die Unzumutbarkeit
eines Studiums bzw. den Besuch einer Ausbildungsstätte des zweiten Bildungsweges
neben der Betreuung eines Kindes bieten, überzeugt nicht. Wenn - was wie oben
dargelegt dem Willen des Gesetzgebers entspricht - auch die Betreuung eines
Kleinkindes eine Verlängerung der Ausbildung rechtfertigt, ist ein sonstiger
sachgerechter Anknüpfungspunkt für die Bestimmung der Verhinderungsdauer nicht
ersichtlich. Dem Argument, eine Berufstätigkeit neben der Kindererziehung stelle eine
andere Belastung dar als der Besuch eines Abendgymnasiums, ist entgegenzuhalten,
dass diese Belastung ohnehin nicht objektivierbar ist und von Person zu Person
subjektiv unterschiedlich empfunden wird. Im übrigen kann in diesem Zusammenhang
nicht nur auf die (relativ kurzen) Unterrichtszeiten abgestellt werden, sondern es müssen
auch die notwendigen Vor- und Nachbereitungsarbeiten berücksichtigt werden. Im
Rahmen eines Studiums können ohnehin je nach Studienfach durch die Vorgabe von
Pflichtveranstaltungen (z.B. Studienfach Medizin) einer Erwerbstätigkeit vergleichbare
zeitliche Verpflichtungen bestehen, die einer Kinderbetreuung entgegenstehen. Auf der
anderen Seite würde es in der Praxis kaum zu leistende Ermittlungen erfordern, wenn
im Einzelfall geprüft werden müsste, ob neben der Betreuung von einem oder mehreren
Kindern ein Studium bzw. Schulbesuch möglich gewesen wäre. Die Anlehnung an § 15
Abs. 1 BErzGG hat demgegenüber den Vorteil einer einfach handhabbaren Regelung
für sich.
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Soweit das Sozialgericht hier allerdings für die Betreuung der Kinder insgesamt sechs
Jahre Hinderungszeit angenommen hat, hat es nicht berücksichtigt, dass sich die
Betreuung der Kinder überschnitt und zudem zur Zeit der Geburt des ersten Kindes nur
ein Anspruch auf 18 Monate Erziehungsurlaub bestand (§ 15 Abs. 1 i.V.m. § 4 Abs. 1
Satz 2 2. Alt. BErzGG in der damals geltenden Fassung). Im Ergebnis bleibt es
allerdings dabei, dass durchgängig in der Zeit vom 1.2.1989 bis 28.02.1995
Hinderungsgründe bestanden haben, wenn in Übertragung der Maßstäbe des BErzGG
18 Monate Hinderungszeit nach der Geburt des ersten Kindes und drei Jahre nach der
Geburt des zweiten Kindes zu bejahen sind. Dabei ist auch der Kollegbesuch ab
Februar 1989 bis zur Geburt des ersten Kindes Hinderungszeit, auch wenn die
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Ausbildung wegen Kinderbetreuung abgebrochen worden ist. Da die Kinderbetreuung
die Verzögerung des Erwerbs der Zugangsvoraussetzung zum Studium rechtfertigt,
macht es insoweit keinen Unterschied, ob die Klägerin wegen der Kinderbetreuung den
Schulbesuch nicht aufnehmen oder eine begonnene Ausbildung nicht fortsetzen konnte.
Nach dem Ende der dreijährigen Betreuungszeit für das am ...1992 geborene zweite
Kind hat die Klägerin im August 1995 zum frühestmöglichen Zeitpunkt mit dem Besuch
des Abendgymnasiums begonnen (Semesterbeginn war jeweils der 1.2. und der 1.8.
jeden Jahres), so dass auch die Überbrückungszeit von März bis Juli 1995 als
Hinderungszeit zählt. Das gleiche gilt für die Zeit zwischen Abitur (Januar 1997) und
Studienbeginn (September 1997), da an der Fachhochschule Dortmund das Studium
erst zum Wintersemester begonnen werden konnte. Es kann daher dahinstehen, ob
nicht ohnehin das von der Klägerin nach ihrer Angabe absolvierte Praktikum eine
Voraussetzung für das Studium war.
Die Kausalität der Hinderungsgründe für den späten Studienbeginn ist gegeben. Soweit
die Beklagte meint, die Ursächlichkeit sei zu verneinen, weil die Geburt zweier Kinder
vor Erwerb der Zugangsvoraussetzung zur Hochschule zeige, dass die ursprüngliche
Lebensplanung einen Verzicht auf eine akademische Ausbildung beinhaltet habe, kann
ihr der Senat nicht folgen. Das Argument der "Lebensplanung" ist unbehelflich. Es ist
letztlich irrelevant, ob und welche "Lebensplanung" verfolgt worden ist, so lange objektiv
ein Studium bzw. Schulbesuch nicht möglich waren. Ob hier die Klägerin schon vor der
Geburt ihrer Kinder eine akademische Ausbildung angestrebt hat, ist angesichts der
Tatsache, dass sie wegen der Betreuung der Kinder ohnehin objektiv nicht in der Lage
war, diese Ausbildung aufzunehmen bzw. fortzusetzen, irrelevant. Ohnehin ist die von
der Beklagten behauptete "Lebensplanung" bloße Spekulation. Die Beklagte verkennt,
dass die Klägerin bereits im Februar 1989 mit dem Besuch des Kollegs begonnen, also
sehr wohl zu erkennen gegeben hatte, dass sie die Zugangsvoraussetzungen für ein
Studium erwerben wollte. Ferner hat sie nach dem Ende der Betreuung ihres zweiten
Kindes zum frühest möglichen Termin die Ausbildung am Abendgymnasium begonnen.
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Nach Abschluss ihrer Berufsausbildung hätte die Klägerin das Kolleg frühestens ab
Februar 1988, also ein Jahr früher als tatsächlich geschehen besuchen können. Es
kann dahinstehen, ob deswegen von einem Jahr Nicht-Hinderungszeit auszugehen ist,
da die Ausbildung am Kolleg in der Regel sechs Semester dauert (§ 3 Abs. 1 Satz 1 der
Verordnung über den Bildungsgang für die Abiturprüfung am Kolleg) und es daher
zweifelhaft ist, ob die Klägerin selbst bei frühest möglichem Kollegbesuch bis zur Geburt
des ersten Kindes ( ...1990) das Abitur erlangt hätte. Auch bei Annahme einer Nicht-
Hinderungszeit von einem Jahr steht diese angesichts der Tatsache, dass ab Februar
1989 durchgehend Hinderungsgründe vorgelegen haben, der Kausalität dieser
Hinderungsgründe für den verspäteten Studienbeginn nicht entgegen. Ohne die Geburt
der Kinder hätte die Klägerin bei einem Abschluss des Kollegs nach sechs Semestern
das Abitur im Frühjahr 1992 erworben und ihr Studium zum Wintersemester 1992/93
aufnehmen können. Die Klägerin hätte damit nicht nur ihr Studium weitgehend vor dem
30. Lebensjahr absolvieren können, wegen des Hinausschiebens der Altersgrenze um
die Zahl der Semester, in der sie das Kolleg besucht hatte, hätte sie auch ihr Studium -
jedenfalls was die Altersgrenze betrifft - "fristgerecht" abschließen können. Diese
hypothetische Betrachtung zeigt, dass entscheidend für das Überschreiten der
Altersgrenze die Unterbrechung der Ausbildung durch die Geburt und die Betreuung
ihrer Kinder war.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Der Senat hat die Revision zugelassen, da er der Rechtsfrage, in welchem Umfang für
die Betreuung von Kindern eine Hinderungszeit anzuerkennen ist, grundsätzliche
Bedeutung beimisst (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
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