Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 23.09.2010
LSG NRW (versorgung, hilfsmittel, spina bifida, besuch, behinderung, kindergarten, begründung, wohnung, transport, träger)
Landessozialgericht NRW, L 5 KR 117/09
Datum:
23.09.2010
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
5. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 5 KR 117/09
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 40 KR 188/07
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 3 KR 13/10 R
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts
Dortmund vom 23.04.2009 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die
Kosten des Rechtsstreits auch im Berufungsverfahren. Die Revision wird
zugelassen.
Tatbestand:
1
Der klagende Sozialhilfeträger verlangt von der beklagten Krankenkasse
Kostenerstattung für die Versorgung ihres Versicherten N I (im Folgenden: Versicherter)
mit einem Therapiestuhl.
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Der am 00.00.2003 geborene Versicherte, der bei der Beklagten familienversichert ist,
leidet u.a. an Spina bifida (Spaltwirbel) mit Hydrocephalus. Er beantragte am
14.07.2006 bei der Beklagten die Versorgung mit einer Sitzschale nach Maß und einem
Zimmeruntergestell, höhenverstellbar, mit Zubehör, und legte darüber eine
entsprechende Verordnung der Dres. T und I, Fachärzte für Kinderheilkunde, E, vom
12.07.2006 sowie einen Kostenvoranschlag der Firma L, Reha und Orthopädietechnik
GmbH, E, vom 14.07.2006 über 4.190,55 Euro vor. Die Beklagte leitete den Antrag an
die Klägerin mit der Begründung weiter, dass diese zuständig sei (Schreiben vom
18.07.2006). Die Klägerin versorgte den Versicherten nach Einholung weiterer
Kostenvoranschläge mit einem Zimmeruntergestell mit Orthesensitzschale, individuelle
Maßanfertigung, das von der Firma M, F, zum Preis von 2.853,66 Euro an den
Versicherten geliefert wurde. Mit Schreiben vom 06.12.2006 meldete die Klägerin ihren
Erstattungsanspruch bei der Beklagten an und bezifferte ihn auf 2.853,66 Euro.
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Die Beklagte lehnte die Kostenerstattung ab (Schreiben vom 12.07.2007): Sie habe den
Versicherten in der Vergangenheit bereits mit einem Aktivrollstuhl versorgt. Der
streitgegenständliche Therapiestuhl werde ausschließlich im Kindergarten benötigt. Der
Besuch eines Kindergartens zähle aber nicht zu den Grundbedürfnissen des täglichen
Lebens, so dass ein Anspruch des Versicherten auf Versorgung mit diesem Hilfsmittel
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gemäß § 33 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) nicht bestehe.
Die Klägerin hat am 11.09.2007 Klage vor dem Sozialgericht Dortmund erhoben.
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Zur Begründung hat sie vorgetragen: Die Beklagte sei zur Erstattung ihrer
Aufwendungen verpflichtet, denn der Versicherte habe von der Beklagten die Versorung
mit dem Therapiestuhl verlangen können. Der Versicherte benötige den Therapiestuhl
für den Kindergartenbesuch, denn nur so könne er auch außerhalb des Rollstuhls sitzen
und an den Gruppenaktivitäten teilnehmen. Aufgrund seiner Erkrankung falle er auf
normalen Stühlen zur linken Seite und könne deshalb so nicht an den Mahlzeiten und
anderen Aktivitäten, die an den Tischen erfolgten, teilnehmen. Der im elterlichen
Haushalt des Versicherten befindliche und von der Beklagten im Jahr 2005 bewilligte
Therapiestuhl könne nicht täglich in den Kindergarten transportiert werden. Der Besuch
des Kindergartens zähle entgegen der Ansicht der Beklagten zu den Grundbedürfnissen
des täglichen Lebens.
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Die Klägerin hat beantragt,
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die Beklagte zur Zahlung von 2.853,66 Euro zu verurteilen.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hat an ihrer Auffassung festgehalten, dass ein Anspruch des Versicherten auf
Versorgung mit einem weiteren Therapiestuhl nicht bestanden habe, weil der Besuch
eines Kindergartens nicht zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens zähle.
Allerdings gehe auch sie davon aus, dass ein Transport des im Haushalt befindlichen
Therapiestuhls in den Kindergarten nicht in Betracht komme.
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Das Sozialgericht hat die Beklagte durch Urteil vom 23.04.2009 antragsgemäß verurteilt
und die Berufung zugelassen. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf die
Entscheidungsgründe Bezug genommen.
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Gegen das ihr am 04.06.2009 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 02.07.2009
Berufung eingelegt.
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Zur Begründung bringt sie vor: Die gesetzliche Krankenversicherung sei - soweit es um
ein Hilfsmittel gehe, das lediglich einen mittelbaren Behinderungsausgleich bewirke -
zur Versorgung der Versicherten mit Hilfsmitteln nur dann verpflichtet, wenn es um die
Befriedigung eines allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens gehe. Dies
treffe für den Besuch des Kindergartens nicht zu, denn dieser erfolge im Gegensatz zum
Besuch einer Regelschule freiwillig. Als Grundbedürfnis könne auch nicht der Zweck
der Integration in den Kreis Gleichaltriger herangezogen werden, denn laut
Statistischem Bundesamt würden weniger als 60 % der Kinder einer Jahrgangsgruppe
im Kindergarten betreut (2003).
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Die Beklagte beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 23.04.2009 zu ändern und die Klage
abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
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die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
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Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird verwiesen auf den
übrigen Inhalt der Gerichtsakten sowie der Verwaltungsakten der Beklagten, der
Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
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Entscheidungsgründe:
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Die (kraft Zulassung) zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Das
Sozialgericht hat die Beklagte zu Recht dazu verurteilt, der Klägerin die für die
Versorgung des Versicherten mit einem Therapiestuhl aufgewandten Kosten in Höhe
von 2.853,66 Euro zu erstatten.
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Der Erstattungsanspruch der Klägerin gegen die Beklagte ergibt sich aus § 14 Abs. 4
Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Diese Vorschrift bestimmt: Wird nach
Bewilligung der Leistung durch einen Rehabilitationsträger nach Abs. 2 bis 4
festgestellt, dass ein anderer Rehabilitationsträger für die Leistung zuständig ist,
erstattet dieser dem Rehabilitationsträger, der die Leistung erbracht hat, dessen
Aufwendungen nach den für diesen geltenden Rechtsvorschriften.
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§ 14 SGB IX räumt dem zweit angegangenen Träger einen spezialgesetzlichen
Erstattungsanspruch gegen den materiell-rechtlich originär zuständigen Reha-Träger
ein. Dieser spezielle Anspruch geht den allgemeinen Erstattungsansprüchen nach dem
SGB X vor. Er ist begründet, soweit der Versicherte von dem Träger, der ohne die
Regelung in § 14 SGB IX zuständig wäre, die gewährte Maßnahme hätte beanspruchen
können (vgl. BSG, Urteil vom 20.04.2010, Az.: B 1/3 KR 6/09 R m.w.N.).
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Die Voraussetzungen des Erstattungsanspruchs nach § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX sind
im vorliegenden Fall erfüllt.
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Die Klägerin hat die Versorgung des Versicherten mit dem Therapiestuhl als zweit
angegangener Reha-Träger nach § 14 Abs. 1 Satz 2 bis 4 SGB IX bewilligt. Die
Beklagte hat als selbständige öffentlich-rechtliche Körperschaft den Antrag an die
Klägerin i.S. dieser Vorschrift weitergeleitet.
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Die Beklagte war auch i.S.d. § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX für die Versorgung des
Versicherten mit dem streitgegenständlichen Therapiestuhl zuständig. Die Zuständigkeit
zur Versorgung mit einem Hilfsmittel i.S.d. § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX ist gegeben, wenn
der Versicherte das Hilfsmittel von der Beklagten nach ihrem materiellen Recht - der
Zuständigkeitsordnung außerhalb von § 14 SGB IX - hätte beanspruchen können. Dies
war hier der Fall, denn der Versicherte hätte ohne die Regelung in § 14 Abs. 2 SGB IX
nur gegen die Beklagte einen Anspruch auf die Versorgung mit dem Therapiestuhl nach
§ 33 SGB V gehabt.
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Die materiellen Voraussetzungen des § 33 Abs. 1 SGB V sind erfüllt.
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Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V in der Fassung des Gesetzes vom 14.11.2003
(Bundesgesetzblatt I S. 2190) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit
Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im
Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer
drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit
die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens
anzusehen oder nach § 34 ausgeschlossen sind. Der Therapiestuhl war dem
Versicherten von der Beklagten zur Verfügung zu stellen, um die aufgrund der
verschiedenen Erkrankungen des Versicherten bestehende Behinderung
auszugleichen. Ein Hilfsmittel ist für den Ausgleich einer Behinderung grundsätzlich
erforderlich, wenn das Hilfsmittel die beeinträchtigte Körperfunktion unmittelbar
ermöglicht, ersetzt oder erleichtert. Zu unterscheiden ist hiervon der Fall, dass das
begehrte Hilfsmittel die beeinträchtigte Körperfunktion nur mittelbar ersetzt. Dann
nämlich muss zusätzlich geprüft werden, in welchen Lebensbereichen sich der
Ausgleich auswirkt. Festzustellen ist dabei, ob das Hilfsmittel zur Lebensbetätigung im
Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt wird. Dieser Differenzierung liegt
die Erwägung zugrunde, dass der unmittelbare Funktionsausgleich sich in allen
Lebensbereichen auswirkt und damit zwangsläufig auch Grundbedürfnisse betroffen
sind, während dies bei nur mittelbarem Behinderungsausgleich nicht ohne Weiteres
angenommen werden kann (BSG Urteil vom 06.06.2002, Az.: B 3 KR 68/01 R).
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Einen unmittelbaren Behinderungsausgleich in dem zuvor beschriebenen Sinne bewirkt
der Therapiestuhl zweifelsfrei nicht. Nach ständiger Rechtsprechung gehören zu den
allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Sitzen,
Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheiden, die elementare
Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen
körperlichen und geistigen Freiraums (vgl. BSG Urteil vom 25.06.2009, Az.: B 3 KR
19/08 R m.w.N.). Zum Grundbedürfnis der Erschließung eines geistigen Freiraums
gehört u.a. die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen Menschen
sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens bzw. eines Schulwissens
(BSG a.a.O.). Zum körperlichen Freiraum gehört - i.S. eines Basisausgleichs der
eingeschränkten Bewegungsfähigkeit - die Fähigkeit, sich in der eigenen Wohnung zu
bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die
frische Luft zu kommen" oder um die - üblicherweise im Nahbereich der Wohnung
liegenden - Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (z.B.
Supermarkt, Arzt, Apotheke, Geldinstitut, Post), nicht aber die Bewegung außerhalb
dieses Nahbereichs. Soweit überhaupt die Frage eines größeren Radius über das zu
Fuß Erreichbare hinaus aufgeworfen worden ist, sind schon immer zusätzliche
qualitative Momente verlangt worden (BSG a.a.O. m.w.N.).
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Als Grundbedürfnis kommt hier ersichtlich allein der Kindergartenbesuch in Betracht, der
es erfordert, dass der Versicherte mittels des Therapiestuhls an den Tischen sitzen und
so an den dortigen Aktivitäten teilnehmen kann. Unstreitig ist zwischen den Beteiligten,
dass der Versicherte für den Besuch des Kindergartens auf die Ausstattung mit dem
Therapiestuhl in dem zuvor beschriebenen Sinne angewiesen ist. Der Senat beurteilt
den Besuch des Kindergartens als Grundbedürfnis, weil dadurch zum einen die
Integration in den Kreis gleichaltriger Kinder gefördert wird und ferner aber auch - durch
den Kontakt mit Gleichaltrigen - das spielerische Lernen gefördert wird. Dies gewinnt für
Kinder im Vorschulalter generell an Bedeutung. Auch besteht bei den zunehmend in
Kleinfamilien lebenden Kindern häufig nur in geringerem Maße Kontakt zu
Gleichaltrigen. Die Unterstützung der individuellen und sozialen Kompetenzen war eine
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Zielsetzung, die der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Förderung von Kindern unter 3
Jahren in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege (Kinderförderungsgesetz)
mit der Schaffung von Betreuungsplätzen in derartigen Einrichtungen verfolgt
(Bundestagsdrucksache 16/10173, Seite 2). Für ältere Kinder - wie den Versicherten -
erscheint eine derartige Förderung durch den Kindergartenbesuch umso dringlicher. Der
Versicherte als Behinderter ist zudem hierauf - den Kontakt mit Geichaltrigen - in
besonderem Maße angewiesen.
Entgegen der Auffassung der Beklagten kommt es bei der Beurteilung der Frage, ob ein
Grundbedürfnis i.S.d. oben zitierten Rechtsprechung vorliegt, nicht auf die Frage an, ob
dem Grundbedürfnis eine entsprechende Verpflichtung, etwa aufgrund einer
gesetzlichen Regelung, zugrundeliegt. Zwar trifft es zu, dass der Besuch der
Regelschule gesetzlich vorgeschrieben ist; allerdings zählt nicht der Schulbesuch als
solcher, sondern vielmehr der Erwerb elementarer Grundkenntnisse nach der
Rechtsprechung zu den Grundbedürfnissen. Auch im Übrigen spielt die Frage eines
Zwangs oder einer Pflicht bei den bisher von der Rechtsprechung anerkannten
Grundbedürfnissen keine Rolle.
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Der Therapiestuhl ist auch nicht als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen
Lebens von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung ausgenommen
(§ 33 Absatz 1 Satz 1 letzter Halbsatz SGB V). Diese Frage beurteilt sich danach, ob ein
Gegenstand bereits seiner Konzeption nach den Erfolg einer Krankenbehandlung
sichern oder eine Behinderung ausgleichen soll oder - falls dies nicht so ist - den
Bedürfnissen erkrankter oder behinderter Menschen jedenfalls besonders
entgegenkommt und von gesunden, körperlich nicht beeinträchtigten Menschen
praktisch nicht genutzt wird (BSG, Urteil vom 29.04.2010, Az B 3 KR 5/09 R mwN). Hier
kann nicht zweifelhaft sein, dass der streitgegegenständliche Therapiestuhl bereits
seiner Konzeption nach die Behinderung des Versicherten ausgleichen soll.
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Die Ausstattung des Versicherten mit einem weiteren Therapiestuhl verstößt auch nicht
gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 SGB V. Zwischen den Beteiligten ist
unstreitig, dass ein täglicher Transport des Therapiestuhls von der Wohnung des
Versicherten in den Kindergarten nicht in Betracht kam. Ein Therapiestuhl ist darüber
hinaus auch für den stationären Gebrauch von seiner Zweckbestimmung her
vorgesehen. Allein dieser Gesichtspunkt spricht schon gegen einen täglichen Transport,
bei dem ja auch zu klären wäre, wer den Transport gegebenenfalls vorzunehmen hätte.
Der Versicherte selbst ist hierzu jedenfalls auch gar nicht in der Lage.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Sozialgerichtsgesetz.
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Der Senat hat dem Rechtsstreit grundsätzliche Bedeutung beigemessen und deshalb
die Revision zugelassen.
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