Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 14.03.2006
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Landessozialgericht NRW, L 1 B 3/06 AL
Datum:
14.03.2006
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
1. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 1 B 3/06 AL
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 33 AL 198/05
Sachgebiet:
Arbeitslosenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts
Dortmund vom 10.01.2006 wird zurückgewiesen. Kosten sind im
Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe:
1
I.
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Die Klägerin wehrt sich in der Hauptsache gegen den Bescheid der Beklagten vom
03.02.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.06.2005, mit dem die
Beklagte die Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit vom 29.10.2002 bis
zum 08.01.2003 zurückgenommen hat.
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Die Klägerin meldete sich am 29.10.2002 arbeitslos und beantragte die Bewilligung von
Alg. Sie gab an, zuletzt im Juli 2002 als Bauleiterin gearbeitet zu haben und
gegenwärtig keiner Beschäftigung nachzugehen. Daraufhin bewilligte die Beklagte ihr
Alg ab dem 29.10.2002. Tatsächlich war die Klägerin jedoch noch bis zum 31.12.2002
als studentische Hilfskraft bei der G Service KG beschäftigt, wobei sie ausweislich der
von ihr selbst im Klageverfahren überreichten Lohnbescheinigungen im Oktober 105,17
Arbeitsstunden, im November 84,42 Arbeitsstunden und im Dezember 23,08
Arbeitsstunden leistete. Eine erneute persönliche Vorsprache der Klägerin erfolgte am
09.01.2003.
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Die Beklagte erfuhr von der anderweitigen Beschäftigung der Klägerin durch eine
Anfrage der damaligen Bundesversicherungsanstalt für Angestellte. Im Rahmen der
Anhörung teilte die Klägerin mit, sie sei lediglich fünf Stunden wöchentlich tätig bei der
G Service KG tätig gewesen. Daraufhin hielt die Beklagte Nachfrage bei der
Arbeitgeberin, deren Antwort am 04.08.2004 bei der Beklagten einging. Danach
schuldete die Klägerin zwar arbeitsvertraglich eine durchschnittliche wöchentliche
Arbeitszeit von fünf Stunden, war tatsächlich im Durchschnitt in der Zeit vom 22.02.1999
bis zum 31.12.2002 jedoch 20 Wochenstunden tätig.
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Mit der Klage gegen den daraufhin ergangenen Aufhebungs- und
Rückforderungsbescheid trägt die Klägerin vor: Die G Service KG habe offensichtlich
Wochen- und Monatsstunden verwechselt. Maßgebender Zeitraum für die Berechnung
der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit könne nur der Gesamtzeitraum vom
29.10.2002 bis zum 31.12.2002 sein, in dem die Klägerin durchschnittlich 11,77
Stunden wöchentlich gearbeitet habe. Damit liege sie deutlich unter der Grenze von 15
Stunden.
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Das Sozialgericht (SG) hat den Antrag der Klägerin auf Bewilligung von
Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwältin I, Cstr. 0, C, abgelehnt. Die
Klägerin sei zum Zeitpunkt der Arbeitslosmeldung nicht arbeitslos gewesen. Sie habe
im Oktober durchschnittlich 24,27 und im November durchschnittlich 19,48 Stunden
wöchentlich gearbeitet. Die niedrigere Arbeitszeit im Dezember komme ihr nicht zugute,
weil die Wirkung der Arbeitslosmeldung in entsprechender Anwendung von § 122 Abs.
2 Nr. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) zu diesem Zeitpunkt erloschen gewesen
sei.
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Hiergegen richtet sich die von der Klägerin so bezeichnete "sofortige Beschwerde", mit
der sie die Richtigkeit der vom SG angestellten Berechnungen in Zweifel zieht.
Demgegenüber hält die Beklagte den Beschluss für zutreffend.
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II.
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Da im sozialgerichtlichen Verfahren das Institut der sofortigen Beschwerde nicht
existiert, ist das von der Klägerin eingelegte Rechtsmittel als Beschwerde gemäß § 172
Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auszulegen, der das SG in verfahrensrechtlich nicht
zu beanstandender Weise gemäß § 174 SGG nicht abgeholfen hat.
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Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Das SG hat es mit zutreffender Begründung
abgelehnt, der Klägerin Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwältin I
beizuordnen. Denn die beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet keine hinreichende
Aussicht auf Erfolg (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung [ZPO]).
Es bestehen keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der angefochtene Bescheid
rechtswidrig ist und die Klägerin daher gemäß § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert.
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Rechtsgrundlage für die Aufhebung der Bewilligung von Alg ist § 45 Zehntes Buch
Sozialgesetzbuch (SGB X). Danach kann ein rechtswidriger begünstigender
Verwaltungsakt unter den weiteren Voraussetzungen der Vorschrift zurückgenommen
werden.
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Die Bewilligung des Alg ab dem 29.10.2002 war rechtswidrig. Die Klägerin war nicht
arbeitslos, weil sie eine mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung
ausübte (§ 118 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 1 SGB III i.d.F. des 1. SGB III-ÄndG v.
16.12.1997, BGBl. I, 2970 [a.F.]).
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Ob eine Beschäftigung im Umfang von 15 oder mehr Stunden wöchentlich ausgeübt
wird, ist im Rahmen einer vorausschauenden Betrachtung zu klären. Entgegen der
Ansicht der Klägerin kommt es nicht darauf an, in welchem Umfang die Tätigkeit
rückblickend bezogen auf den Zeitraum von der Arbeitslosmeldung bis zum
Beschäftigungsende stattgefunden hat (vgl. Senat, Urteil vom 10.04.2003, L 1 AL 4/03).
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Denn die Frage, ob ein Leistungsbezieher arbeitslos ist, muss zum Zeitpunkt der
jeweiligen Entscheidung über die Bewilligung eindeutig beantwortet werden können.
Zutreffend hat das SG daher zur Beurteilung der Frage, ob die Klägerin
beschäftigungslos war, zunächst die in den Monaten Oktober und November 2002
tatsächlich erbrachte Arbeitsleistung herangezogen. Dabei hat es die wöchentliche
Arbeitszeit einwandfrei ermittelt, indem es die monatliche Arbeitszeit verdreifacht, auf
diese Weise auf einen Quartalszeitraum hochgerechnet und das Resultat durch 13
(Wochen) geteilt hat. Eine einfache Kontrollüberlegung bestätigt die Richtigkeit des
gefundenen Ergebnisses: So hat die Klägerin im November 2002 ausweislich der von
ihr selbst überreichten Lohnbescheinigung an insgesamt 20 Arbeitstagen 84,42
Arbeitsstunden, also im Schnitt mehr als vier Stunden pro Tag geleistet. Es liegt auf der
Hand, dass die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit damit deutlich über 15
Stunden gelegen hat. Dieser Arbeitsumfang war im Wege der Vorausschau auch zum
Zeitpunkt der Arbeitslosmeldung absehbar. Denn die von der Klägerin in den Monaten
Oktober und November 2002 geleisteten Arbeitsstunden entsprechen in etwa ihrem
Arbeitsumfang in den Jahren 2001 und 2000. Erst im Dezember hat sich die Arbeitszeit
erfahrungsgemäß reduziert.
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Ein Anspruch auf Alg hat auch für die Zeit vom 01.12.2002 bis zum 08.01.2003 nicht
bestanden. Für diesen Zeitraum fehlt es an der Anspruchsvoraussetzung der
Arbeitslosmeldung (§ 117 Abs. 1 Nr. 2 SGB III a.F.). Die Arbeitslosmeldung der Klägerin
vom 29.10.2002 war nämlich unwirksam, weil die mit ihr angezeigte Arbeitslosigkeit
nicht den Tatsachen entsprach (BSG, Urteil vom 14. 12.1995, 11 RAr 75/95, BSGE 77,
175, 179 m.w.N.). Ein Anspruch auf Alg konnte daher - frühestens - mit der erneuten
Arbeitslosmeldung am 09.01.2003 entstehen.
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Zu Recht haben die Beklagte und das SG auch die weiteren Voraussetzungen der
rückwirkenden Aufhebung des Bewilligungsbescheides als gegeben angesehen. Das
Vertrauen der Klägerin auf den Bestand dieses Bescheides ist nicht schutzwürdig. Denn
der Bescheid beruht auf Angaben, die die Klägerin vorsätzlich in wesentlicher
Beziehung unrichtig gemacht hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X). Obwohl sie wusste,
dass sie noch in einer Beschäftigung stand, hat sie dies im Antragsformular verneint.
Aus dem Antragsformular der Beklagten ergibt sich zweifelsfrei, dass jegliche noch
ausgeübte Beschäftigung anzugeben ist. Nicht anders ist es zu erklären, dass
ausdrücklich die Alternative "als Arbeitnehmer unter 15 Stunden wöchentlich"
angegeben ist. Selbst wenn die Klägerin also irrig gemeint haben sollte, sie sei nur
kurzzeitig beschäftigt, hätte sie zumindest diesen Tatbestand angeben müssen. Es
bestehen auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass sie als Akademikerin dies nicht
verstanden haben könnte.
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Im Hinblick darauf konnte der Bewilligungsbescheid bis zum Ablauf von zehn Jahren
nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden (§ 45 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 SGB X).
Die Beklagte hat die Rücknahme auch innerhalb der Entscheidungsfrist von einem Jahr
(§ 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X) nach Vorliegen der Arbeitgeberbescheinigung der Faber
Lotto-Service KG bekannt gegeben, mit der die auch im weiteren Verwaltungsverfahren
unwahren Angaben der Klägerin widerlegt wurden.
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Ermessen hatte die Beklagte nicht auszuüben (§ 330 Abs. 2 SGB III). Die Rückforderung
des überzahlten Alg ergibt sich aus § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X.
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Die Kostenentscheidung für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 127 Abs. 4 ZPO.
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Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 177 SGG).
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