Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 15.07.2005

LSG NRW: essential facilities, wohnung, stromversorgung, einbau, sozialhilfe, notlage, besitz, mindeststandard, bedürftiger, beihilfe

Landessozialgericht NRW, L 1 B 7/05 SO ER
Datum:
15.07.2005
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
1. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 1 B 7/05 SO ER
Vorinstanz:
Sozialgericht Aachen, S 20 SO 53/05 ER
Sachgebiet:
Sozialhilfe
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des
Sozialgerichts Aachen vom 14.06.2005 geändert und wie folgt neu
gefasst: 1. Der Antragsgegner wird verpflichtet, einen Eilbeschluss der
Gesellschafterversammlung der Beigeladenen zu 2) mit folgendem
Inhalt herbeizuführen: "Die Beigeladene zu 2) beliefert den Antragsteller
zu 1) in dessen Wohnung erneut mit Strom und macht ihm gegenüber
kein Zurückbehaltungsrecht wegen rückständiger Stromkosten geltend,
solange die Beigeladene zu 1) die Zusage der Erfüllung fälliger
Abschlagsforderungen i.H.v. 100 EURO monatlich für die künftige
Lieferung von Strom an den Antragsteller zu 1) nicht widerruft oder ein
anderer Sozialleistungsträger Abschläge in dieser Höhe an die
Beigeladene zu 2) erbringt." 2. Bis zur Stromfreischaltung der Wohnung
der Antragsteller durch die Beigeladene zu 2) oder einen anderen
Stromversorger wird der Antragsgegner verpflichtet, den Antragstellern
zu 1) bis 3) innerhalb der Stadtgrenzen ihrer Heimatgemeinde als
Sachleistung möblierten Wohnraum mit eigenem Bad sowie eigener
Küche zur Verfügung zu stellen und die für Heizen, Kochen und
Waschen erforderlichen Strom-, Wasser- und ggf. Gaslieferungen
sicherzustellen. 3. Im Übrigen wird der Antrag der Antragsteller auf
einstweiligen Rechtsschutz zurückgewiesen. 4. Kosten sind nicht zu
erstatten.
Gründe:
1
I.
2
Die Beteiligten streiten um die Übernahme rückständiger Stromkosten und um die
erneute Belieferung mit Strom.
3
Der Antragsteller zu 1) ist der Vater der (volljährigen) Antragsteller zu 2) und 3). Sie
leben gemeinsam in einer Wohnung, deren Mieter der Antragsteller zu 1) ist und die im
4
Gebiet der Stadt X liegt. Zusammen erhalten die Antragsteller zu 1) bis 3) derzeit von
der Beigeladenen zu 1) monatliche Zahlungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites
Buch (SGB II) in Höhe von insgesamt 1035 EURO als Regelleistung. Die Beigeladene
zu 2) ist die regionale Stromversorgerin in der Stadt X. Ihr Stammkapital von insgesamt
rund 20,7 Mio EURO wird zu rund 11,7 Mio EURO vom Antragsgegner, zu rund 5,3 Mio
EURO bzw 2,3 Mio, 0,6 Mio EURO und 0,05 Mio EURO von den Städten Herzogenrath,
Würselen, Aisdorf und Baesweiler gehalten. Weitere 0,3 Mio EURO Stammkapital
befinden sich im Besitz der Städtischen Wasserwerk F GmbH. Ferner sind je 1090
EURO Gesellschaftskapital durch eine nicht-städtische GmbH und eine Privatperson
eingebracht. Der Antragsteller zu 1) hat aus früherer Lieferung von Strom und fälligen
Abschlagszahlungen bei der Beigeladenen zu 2) Schulden in Höhe von 2627,76
EURO. Deswegen stellte die Beigeladene zu 2) die weitere Lieferung von Strom unter
vorheriger Mahnung und Hinweis auf eine mögliche Versorgungseinstellung nach
Abwarten einer Frist von zwei Wochen mit Wirkung ab dem18.05.2005 ein.
Am 30.05.2005 beantragten die Antragsteller die Übernahme der Stromschulden bei der
Beigeladenen zu 1). Dort wurden sie an den Antragsgegner verwiesen. Der
Antragsgegner lehnte das Begehren der Antragsteller durch Bescheid vom 31.05.2005
mit der Begründung ab, Leistungen des SGB II seien vorrangig.
5
Am selben Tag haben die Antragsteller bei dem Sozialgericht (SG) Aachen im
einstweiligen Rechtsschutz um die Verpflichtung des Antragsgegners zur Übernahme
der Stromschulden nachgesucht. Das SG hat dem Antrag durch Beschluss vom
14.06.2005 stattgegeben und zur Begründung ausgeführt: Ein Anordnungsanspruch
ergebe sich aus § 34 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII); die Norm sei
anwendbar, denn § 22 Abs. 5 SGB II beschränke die Übernahme von Schulden zu
Lasten der Träger von Leistungen für Arbeitssuchende ausdrücklich auf Mietschulden
und enthalte die zusätzliche Voraussetzung, dass hiervon eine konkret in Aussicht
stehende Beschäftigung abhängen müsse. Die Voraussetzungen des § 34 SGB XII
seien erfüllt, denn die Versorgung mit Strom gehöre nach den heutigen
Lebensverhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland zum sozialhilferechtlich
anerkannten Mindeststandard. Es bestehe auch ein Anordnungsgrund, da sich die
Antragsteller nach vier Wochen ohne Strom in einer existentiellen Notlage befänden.
Die vom Antragsgegner angebotenen Alternativen - Waschen von Wäsche und
Duschen in einer Gemeinschaftsunterkunft, Kochen auf einem Campingkocher oder
Kauf warmer Mahlzeiten - seien teils rechtswidrig (Gebrauch von Campingkochem in
Mietwohnungen), teils unzumutbar (teurer Einkauf warmer Mahlzeiten). Ein
erzwungenes Pendeln zwischen Gemeinschaftsunterkunft und Wohnung lasse zudem
für eine ordnungsgemäße Arbeitssuche nicht genügend Zeit.
6
Gegen diesen am 21.06.2005 zugestellten Beschluss richtet sich die am 29.06.2005
erhobene Beschwerde des Antragsgegners, der das SG nicht abgeholfen hat (Nicht-
Abhilfebeschluss vom 29.06.2005). Der Antragsgegner meint, die Anwendung des § 34
SGB XII unterlaufe die Intention des Gesetzgebers. Während § 23 Abs. 1 SGB II nämlich
lediglich die Möglichkeit einer Darlehensgewährung biete, könnten Leistungsempfänger
nach § 34 SGB XII durch bloße Untätigkeit gegenüber fälligen Schulden in den Genuss
einer nicht rückzahlbaren Beihilfe kommen. Selbst wenn § 34 SGB XII im Übrigen
angewendet würde, sei zu berücksichtigen, dass sich der Antragsteller zu 1) durch
systematisches Fehlverhalten selbst in die gegenwärtige Lage gebracht habe. So habe
er einen im Jahr 2002 gewährten Zuschuss für rückständige Gaskosten i.H.v. 2480
EURO zweckwidrig verbraucht und in der Vergangenheit Mietschulden i.H.v. rund 8300
7
EURO auflaufen lassen.
Der Antragsgegner beantragt sinngemäß,
8
1. den Beschluss des SG Aachen vom 14.06.2005 zu ändern und den Antrag auf
Übernahme der Stromkosten zurückzuweisen, 2. die Vollziehung des angefochtenen
Beschlusses auszusetzen.
9
Die Antragssteller beantragen,
10
die Beschwerde zurückzuweisen.
11
Die Beigeladenen stellen keine Anträge.
12
Die Beigeladene zu 1) hat durch Schreiben vom 13.07.2005 mitgeteilt, sie werde die
Abschläge für Stromkosten i.H.v. 100 EURO monatlich mit Wirkung ab dem 01.08.2005
an die Beigeladene zu 2) oder einen anderen von den Antragsteilem zu benennenden
Stromversorger direkt zahlen.
13
Die Beigeladene zu 2) hat vorgetragen, sie stütze sich zur Ausübung ihres
Zurückbehaltungsrechts auf die Allgemeinen Bedingungen zur Versorgung von
Tarifkunden (AV-BEItV) vom 21.06.1979 (Bundesgesetzblatt Teil l - BGBI. l - S. 684) in
der Fassung des SchuldRMod AppG v. 09.12.04 - BGBI. l 2004, 3214. Der
Bundesgerichtshof (BGH) habe ein solches Zurückbehaltungsrecht mit Urteil vom
03.07.1991 (Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1991, 2645) anerkannt. Auch das
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe mit Beschluss vom 30.09.1981 (NJW 1982,
5111) ausgesprochen, dass es nicht zu den Aufgaben der öffentlichen
Versorgungswirtschaft gehöre, für den Not(strom)bedarf bedürftiger Kunden zu sorgen.
Einem Wechsel der Antragsteller zu einem anderen Unternehmen werde
widersprochen, weil das Zurückbehaltungsrecht dann faktisch nicht mehr bestehe.
14
Die Stromversorger Eon AG, RWE AG und Yello GmbH haben gegenüber dem
erkennenden Senat auf Anfrage erklärt, sie führten beim Neuabschluss mit neuen
Privatkunden keine Prüfung der Zahlungsfähigkeit (zB mittels SCHUFA-Anfrage) durch.
Etwaigen Zahlungsschwierigkeiten werde vielmehr durch kurzfristige
Vertragsbeendigung begegnet. Die Weigerung eines lokalen Netzbetreibers, Altkunden
wegen bestehender Außenstände freizuschalten, sei ihrer Auffassung nach
Wettbewerbs- und kartellrechtswidrig, da das Zurückbehaltungsrecht nur dazu
berechtige, eigene künftige Stromlieferungen zu versagen. Bei einer Freischaltung des
Altkunden sei im Übrigen kein technischer Eingriff erforderlich. Der Zähler bleibe
unverändert vor Ort und werde vom neuen Stromversorger gemietet. Allerdings dauere
der elektronische Umstellungsvorgang mehrere Wochen. Die Yello GmbH hat
angeboten, die Antragsteller mit Wirkung ab dem 01.09.2005 bzw. spätestens ab dem
01.10.2005 bei direkter Zahlung der monatlichen Abschläge durch einen
Sozialleistungsträger mit Strom zu beliefern.
15
II.
16
Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist teilweise begründet. Das SG hat den
Antragsgegner zu Unrecht zur Übernahme der Stromschulden verpflichtet. Denn hierauf
haben die Antragsteller keinen Anspruch (hierzu unter A.). Im Übrigen hat das SG im
17
Ergebnis zu Recht eine Regelung getroffen, die dafür sorgt, dass die Antragsteller mit
sofortiger Wirkung wieder mit Strom versorgt werden. Insoweit bestehen bei
summarischer Prüfung iSd § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sowohl
Anordnungsgrund- wie auch -anspruch. Kraft sozialhilferechtlicher Gesetzbindung ist
der Antragsgegner in seiner Funktion als Mehrheitsgesellschafter der Beigeladenen zu
2) verpflichtet, diesen Anspruch auf schnellstem Wege zu verwirklichen und in der
Zwischenzeit eine zumutbare Versorgung der Antragsteller sicherzustellen (Hierzu unter
B.).
A.
18
Für einen Anspruch auf Übernahme der Altschulden aus früherem Strombezug fehlt es
an einer gesetzlichen Grundlage. Weder § 34 SGB XII noch § 23 SGB II greifen direkt
oder in entsprechender Anwendung ein. Sonstige Anspruchsgrundlagen auf
Begleichung privater Altschulden durch die öffentliche Hand kommen nicht in Betracht.
19
§ 23 SGB II scheidet in direkter Anwendung aus, weil die Norm sich ausdrücklich
ausschließlich auf "Mietschulden" bezieht. Um solche handelt es sich vorliegend nicht,
weil die Zahlungsrückstände des Antragstellers zu 1) nicht aus (Neben-)Abreden
früherer Mietverträge (etwa über die pauschale Begleichung von Heizung, Strom und
Wasser im Rahmen einer Wohnraummiete), sondern aus hiervon getrennten Verträgen
mit der Beigeladenen zu 2) über Stromlieferungen stammen. Wie das SG zutreffend
hervorgehoben hat, ist auch ein erweitertes oder entsprechendes Heranziehen des § 23
SGB II für Schulden, die nicht Mietschulden sind, ausgeschlossen, weil § 21 Abs. 5 und
§ 5 Abs. 2 Satz 2 SGB II einen entgegenstehenden Willen des Gesetzgebers
verdeutlichen. Danach nämlich ist ausdrücklich vorgesehen, dass Leistungen nach § 34
SGB XII neben solchen des SGB II an erwerbsfähige Hilfebedürftige gewährt werden
können. Sowohl die übereinstimmende und ausführliche Regelung in § 21 Abs. 5 und §
5 Abs. 2 Satz 2 SGB II wie auch die im Verhältnis zu § 34 SGB XII unterschiedlichen
Voraussetzungen (Abhängigkeit von einer konkret in Aussicht stehenden
Beschäftigung) wie auch die weniger weit reichende Rechtsfolge (Beschränkung auf
Darlehen) zeigen, dass es sich insoweit nicht um ein Redaktionsversehen im
Gesetzgebungsverfahren handelt. Eine Übernahme als Unterkunftskosten iSd 22 SGB II
scheitert daran, dass hierunter nur die aktuellen Stromkosten gezählt werden können,
nicht aber Forderungen, die bereits vor Antragstellung entstanden und fällig sind. Die
Tilgung alter Schulden aus dem Regelsatz zur Sicherung des Unterhalts gemäß § 20
SGB II ist tatsächlich und rechtlich ebenfalls unmöglich, weil dieser Betrag gemäß § 27
SGB II so bemessen ist, dass er den für das Existenzminimum notwendigen Bedarf
gerade deckt und daher weder pfänd- noch abtretbar ist (§ 53 Abs. 3 Sozialgesetzbuch
Erstes Buch in Verbindung mit - iVm - §§ 850 folgende Zivilprozessordnung).
20
§ 34 SGB XII, dessen Anwendungsbereich für die Übernahme alter Stromschulden
daher sozialhillferechtlich allein in Betracht kommt, scheidet im Ergebnis freilich
vorliegend deswegen aus, weil die Übernahme von Stromschulden hier nicht zur
Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren Notlage erforderlich
ist. "Zur Sicherung der Unterkunft" ist die Schuldübemahme deswegen nicht
erforderlich, weil die Stromkosten ihren Rechtsgrund, wie gezeigt, nicht in einem
Mietvertrag haben und deswegen nicht zur Kündigung des Wohnraummietvertrages
führen können. Eine der Obdachlosigkeit "vergleichbare Notlage" kann zwar - wie das
SG zutreffend dargelegt hat - darin liegen, dass einem Mieter durch den Entzug des
Stroms ein "Wohnen" im vollen Sinn der heute sozialüblichen Lebensverhältnisse- und
21
Anschauungen nicht mehr möglich ist (kein Kochen, kein Waschen, keine Körperpflege
mit warmem Wasser, näher zum sozialhilferechtlichen Mindeststandard der Wohnung v.
Renesse in: Jahn SGB XII - Hrsg. Jung -Stand Januar 2005, § 70 Randnummer- Rn - 7).
Indes ist diese Gefahr vom Antragsgegner durch - gegenüber dem SGB XII vorrangige -
Maßnahmen mit sofortiger Wirkung zu beheben (siehe hierzu unter B.), so dass gemäß
§ 2 SGB XII für den nachrangigen § 34 SGB XII kein Raum bleibt. Das sonst für die
Sozialhilfe eingreifende sogenannte Faktizitätsprinzip, nach dem nur tatsächlich
erbrachte Leistungen Dritter, nicht aber hypothetisch bzw. rechtlich geschuldete
Zuwendungen zu berücksichtigen sind (näher hierzu Rothkegel, Sozialhilferecht 2005,
S.14 ff), steht dem nicht entgegen, weil es der erkennende Senat durch die Verpflichtung
des Antragsgegners, der gleichzeitig Mehrheitsgesellschafter der Beigeladenen zu 2)
ist, in der Hand hat, für eine umgehende und vollstreckbare Wiederbelieferung der
Antragsteller mit Strom zu sorgen.
B.
22
Anspruchsgrundlage und damit Anordnungsanspruch für die vom Senat
ausgesprochene Verpflichtung des Antragsgegners, für eine erneute Belieferung der
Antragsteller durch die Beigeladene zu 2) mit Strom Sorge zu tragen, sind die §§1.3
SGB XII iVm Artikel 13 Grundgesetz (GG) und § 33 Abs. 2 Satz 2 AVBEItV. Danach
muss der Antragsgegner als Träger der Sozialhilfe auch bei seinem Handeln als
Mehrheitsgesellschafter eines privatrechtlich verfassten
Energieversorgungsuntemehmens die für ihn geltenden öffentlichrechtlichen
Verpflichtungen durchsetzen (Art 20 Abs. 3 GG). Er muss bewirken, dass die von ihm
rechtlich beherrschte Beigeladene zu 2) ihre vorhandene faktische Marktmacht im
Versorgungsgebiet nicht missbräuchlich zu Lasten der Empfänger und Träger von
Sozialhilfeleistungen ausgeübt, und er muss sicherstellen, dass bei einem
Geltendmachen des Zurückbehaltungsrechts iSd § 33 Abs. 2 Satz 2 AVBEItV das dort
speziell verankerte Verhältnismäßigkeitsprinzip gewahrt wird. Gegen beide
Verpflichtungen hat der Antragsgegner durch sein fehlendes innerorganschaftliches
Einschreiten in Bezug auf die zu Lasten der Antragsteller verhängte Stromsperre
verstoßen (hierzu unter 1). Es besteht auch ein Anordnungsgrund, denn die
Antragsteller haben erkennbar keine Möglichkeit, unmittelbar zu einem anderen
Energieversorger zu wechseln. Die dem Antragsgegner obliegende allgemeine Pflicht
zur Rechtstreue hat sich daher zu einem Anspruch auf gesellschaftsrechtliches
Einwirken zu Gunsten der Antragsteller verdichtet (hierzu unter 2.).
23
Schließlich ist der Antragsgegner auch verpflichtet, bis zu einer erneuten Stromlieferung
an die Antragsteller für eine zumutbare Zwischenlösung zu sorgen (hierzu unter 3.).
24
1. Die Beigeladene zu 2) war und ist nicht berechtigt, gegenüber dem Antragsteller zu
1), gemäß § 33 Abs. 2 AVBEItV ein Zurückbehaltungsrecht auszuüben und eine
Stromsperre zu verhängen, weil diese Maßname vorliegend unverhältnismäßig ist. Die
Einstellung der Versorgung ist das letzte Mittel, zu dem nach dem inneren Aufbau der
AVBEItV erst gegriffen werden darf, wenn die dort vorgesehenen milderen Maßnahmen
sich als erfolglos erwiesen haben oder bei pflichtgemäßer Prüfung von vome herein
keinen Erfolg versprechen. Als mildere Mittel zur Vermeidung künftig auflaufender
Außenstände kamen bzw. kommen folgende Schritte in Betracht: die Verkürzung der
Ablesezeiträume gemäß § 20 AVBEItV (wobei gemäß § 20 Abs. 1 Satz 1 AVBEItV
sogar ein Ablesen durch den Kunden gefordert werden darf), das Verfangen einer
Sicherheitsleistung § 29 AVBEItV, die Festsetzung einer höheren Vorauszahlung
25
gemäß 28 AVBEItV sowie schließlich der Einbau eines Münzzählers gemäß § 28 Abs. 3
AVBEItV (hierzu vgl. Amtsgericht Regensburg Recht der Energie - RdE -1989,171;
Landgericht - LG - Hannover RdE 1999, 80). Keine dieser Maßnahmen wurde von der
Beigeladenen zu 2) durchgeführt, obgleich insbesondere der Einbau eines Münzzählers
das Entstehen der Stromschulden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
verhindert hätte und auch künftig Erfolg verspricht. Die weitere Belieferung des
Antragstellers zu 1) durch die Beigeladene zu 2) ist auch nicht wirtschaftlich
unzumutbar, da die Beigeladene zu 1) - bei der es sich um eine Körperschaft des
öffentlichen Rechts und somit einen zuverlässigen Schuldner handelt - gemäß § 23 Abs.
4 i.V.m § 22 Abs. 4 SGB II in entsprechender Anwendung zugesagt hat, die geforderten
monatlichen Abschläge direkt an den Stromversorger zu zahlen. Dass ein kommerzieller
dritter Anbieter, die Yello GmbH, hier bereit ist, den Antragsteller unter dieser Modalität
ohne weitere Voraussetzungen als Kunden zu übernehmen, zeigt vielmehr mit der für
das summarische Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes hinreichenden
Deutlichkeit, dass die künftige Belieferung des Antragstellers zu 1) ungeachtet seiner
bisherigen finanziellen Verhältnisse wirtschaftlich Gewinn erwarten lässt und damit für
ein Stromversorgungsunternehmen nicht als unzumutbar angesehen werden kann. Die
gegenteilige Annahme von Hempel (Energiewirtschaftsgesetz Kommentar, Stand
September 2002, § 33 AVBEItV Rn 182) und des LG Augsburg (RdE 1998,161),
Sozialhilfeempfänger mit Außenständen seien den Energieversorgungsunternehmen
als Kunden unzumutbar, ist durch die vom Senat bei der Yello GmbH, der Eon AG und
der RWE AG gewonnenen tatsächlichen Erkenntnisse über die Verhältnisse auf dem
aktuellen Strommarkt in Deutschland widerlegt.
Soweit die Beigeladene zu 2) die weitere Stromversorgung darüber hinaus nicht nur an
eine positive Gewinn- und Zahlungsprognose für künftige Stromforderungen knüpft,
sondern auch von der Begleichung aller offenen Stromschulden abhängig macht und
sich hierzu auf die Rechtsprechung des BGH beruft, handelt sie rechtsmissbräuchlich.
Zum einen betraf diese Rechtsprechung nicht den Fall, in dem ein dritter - solventer -
Schuldner wie hier die Beigeladene zu 1) für die künftige Begleichung offener
Forderungen bereit steht (Vielmehr ging es allein um die - vom BGH i.Ü. verneinte -
Frage, ob auch gewerbliche Stromschulden zur Zurückbehaltung gegenüber privatem
Verbrauch berechtigen). Zum anderen gelten auch nach dieser Rechtsprechung die o.g.
Einschränkungen aufgrund des Verhältnismäßigkeitsprinzips, die die § 273, 320, 321
des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) als Spezialnormen für den Strommarkt ergänzen.
Damit stehen die von Hempel (am angegebenen Ort - a.a.O. -. Rn 182) und die von ihm
zitierten tatrichterlichen Entscheidungen einzelner Zivilgerichte nicht im Einklang.
Jedenfalls den im Besitz der öffentlichen Hand befindlichen Unternehmen mit
marktbeherrschender Stellung - wie sie die Beigeladene zu 2) in ihrem Vertriebsgebiet
besitzt - ist ein Verhalten ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der wirtschaftlich
schlechter gestellten Privatkunden versagt. Denn auch die Stromversorgung ist nach
heutigem Verständnis eine grundlegende Voraussetzung der Teilhabe am Leben der
Gesellschaft und notwendig für ein menschenwürdiges Wohnen im Sinne von Art 13 GG
iVm §§ 1, 70 SGB XII (vgl. v. Renesse a.a.O. Rn 7). Zumindest der Antragsgegner in
seiner Doppelfunktion als Sozialhilfeträger und Mehrheitsgesellschafter eines praktisch
zu 100 % in öffentlichrechtlichem Besitz befindlichen Energieversorgungsunternehmens
kann nicht daran mitwirken, wenn Sozialhilfeempfängem für die Stromversorgung ein
neuer Lieferbeginn auf Guthabenbasis verweigert wird. Dabei ist unerheblich, dass die
Beigeladene zu 2) in der zivilrechtlichen Rechtsform einer GmbH organisiert ist, denn
Träger öffentlicher Gewalt können sich ihren öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen nicht
durch eine sogenannte "Flucht in das Privatrecht" entziehen (BVerfG NJW. 1990, 1783;
26
BGH NJW 2003,1658; Müller, Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter 1997,172;
Schwintowski, NJW 1995, 1316; anderer Auffassung Hempel a.a.O. Rn. 176).
Dass das BVerfG 1981 in dem von der Beigeladenen zu 2) zitiertem Beschluss (NJW
1982,1511) entschieden hat, dass es nicht Aufgabe der Energieversorger ist, für den
Notbedarf bedürftiger Kunden zu sorgen, steht dem Vorgesagten nicht entgegen, denn
durch die vom erkennenden Senat tenorierten Verpflichtungen wird von der
Beigeladenen zu 2) im Ergebnis gerade keine kostenlose Belieferung der Antragsteller
mit Strom verlangt. Vielmehr steht fest, dass die Beigeladene zu 1) die von der
Beigeladenen zu 2) selbst festgesetzten (und damit im Zweifel nicht zu deren
Ungunsten berechneten) monatlichen Abschläge künftig direkt zahlt. Risiken einer
Unterdeckung kann die Beigeladene zu 2) dabei zudem, wie oben gezeigt, durch
Verkürzung der Ablesezeiträume und weitere in den AVBEItV genannte Maßnahmen
vermeiden, bis hin zum Einbau eines Münz- oder auch elektronischen Kartenzählers,
wie sie mittlerweile angeboten werden (vgl. www.sipa-cham.ch). Auch bleiben die
bisherigen Stromforderungen als Schulden des Antragstellers zu 1) nach dieser Lösung
bestehen und können - etwa wenn sich seine wirtschaftliche Lage künftig bessert - wie
jede andere Forderung eingeklagt und ggf. vollstreckt werden. Insoweit ist kein
sachlicher Grund im Sinne des Artikel 3 GG ersichtlich, die Beigeladene zu 2) als
Stromkonzem gegenüber anderen Gläubigem von Sozialhilfeempfängem zu Lasten der
Steuerzahler zu privilegieren.
27
Schließlich betont der Antragsgegner unter Hinweis auf § 34 SGB XII selbst zu Recht,
dass es nicht Sinn und Zweck der steuerfinanzierten Sozialhitfe ist, vorhandene
Schulden zu decken (näher Rothkegel a.a.O. S. 97 ff). Genau dies aber ist die Folge der
vom Antragsgegner bislang (nach Mitteilung des SG Aachen in einer Vielzahl von
Fällen) gedeckten Verhaltensweise der Beigeladenen zu 2). Im wirtschaftlichen
Ergebnis hat danach nämlich weder der Sozialhilfeempfänger noch der
Energieversorger ein wirkliches Interesse an sparsamem Stromverbrauch und
sorgfältigem Wirtschaften. Der Stromversorger kann sich auf Grund seiner faktischen
Machtposition sicher sein, dass eventuelle aufgelaufene Schulden spätestens bei
Verhängung des Druckmittels einer Stromsperre vom Sozialhilfeträger übernommen
werden, und der Sozialhilfeempfänger kann davon ausgehen, dass eine solche
Übernahme im Regelfall (wenn nämlich keine wirtschaftliche Besserung unmittelbar
absehbar ist) als Beihilfe und nicht als Darlehen erfolgt. Belastet ist dann letztlich immer
die Solidargemeinschaft der Steuerzahler, obgleich sie den Stromverbrauch weder - wie
die Stromversorger - kontrollieren noch - wie die Sozialhilfeempfänger - steuern kann.
Auch vor dem Hintergrund einer Analyse der einzel- und gesamtwirtschaftlichen
Wirkungen einer solchen Gesetzesauslegung (zur ökonomischen Analyse des Rechts
allgemein vgl Eidenhofer, Effizienz als Rechtsprinzip, 1995, 397 ff; Schwintowski, Recht
und Gerechtigkeit 1996, 170 ff) hält der erkennende Senat nicht an der früheren
verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung fest, die solche Ergebnisse trotz der dadurch
bewirkten faktischen Umgehung des früheren § 15 a Bundessozialhilfegesetz, der dem
§ 34 SGB XII glich, gebilligt hat (vgl Oberverwaltungsgericht NRW, Sammlung
fürsorgerechtlicher Entscheidungen 35, 24).
28
2. Die Antragsteller haben auch einen Anordnungsgrund. Da ein Wechsel vom einen
zum anderen Stromanbieter nach den vom Senat ermittelten Erkenntnissen derzeit
nämlich aus technischen Gründen ggf. bis zum 01.10.2005 dauern würde, wäre den
Antragstellern mit einer solchen Lösung kurzfristig nicht zu helfen. Daher hat auch die
Frage, unter welchen Voraussetzungen die Beigeladene zu 2) den Antragsteller zu 1)
29
als Altkunden "freigeben" muss, und ob ihre entsprechende Weigerung Wettbewerbs-
und kartellrechtswidrig ist, jedenfalls im vorliegenden Verfahren des einstweiligen
Rechtsschutzes offen zu bleiben (zur sog. Essential Facilities Doctrine des
Europäischen Gerichtshofs - EuGH -, die hierbei zu prüfen wäre, siehe EuGH,
Sammlung 1997 11-1689 mit weiteren Nachweisen).
3. Für die Übergangzeit, d.h. bis zur Durchsetzung des von dem Antragsgegner als
Mehrheitsgesellschafter zu bewirkenden Gesellschafterbeschlusses der Beigeladenen
zu 2), ist eine vorübergehende Unterbringung der Antragsteller in einer möblierten
Wohnung oder in einem Hotel geboten, weil ihnen ein weiteres Zuwarten auf die
Wiederaufnahme der Stromversorgung, die seit dem 18.05.2005 unterbrochen ist, nicht
mehr zugemutet werden kann. Verpflichteter dieses Anspruchs ist der Antragsgegner,
denn er hat durch Duldung des rechtswidrigen Verhaltens der Beigeladenen zu 2) eine
ihm gegenüber den Antragsteilem obliegende sozialhilferechtliche Pflicht verletzt und so
schuldhaft einen vom SGB II nicht vorhergesehenen Notbedarf der Antragsteller
verursacht. Dieser Bedarf ist vollstreckungsrechtlichen Natur und fußt auf § 86 b Abs. 2
SGG iVm Art 19 Abs. 4 GG (vgl. Keller in Meyer-Ladewig SGG 8. Auflage § 86 b Rn 33).
Er wird daher nicht vom materiell-rechtlichen System-Vorrang des § 5 Abs. 2 Satz 1
SGB II erfasst, mit der Folge, dass er vom Antragsgegner und nicht von der
Beigeladenen zu 1) zu tragen ist. Dabei hat es der Antragsgegner selbst in der Hand,
die Zeit und die für diese vollstreckungsrechtliche Zwischenlösung anfallenden Kosten
durch Nutzung der ihm gemäß § 14 des Gesellschaftsvertrages der Beigeladenen zu 2)
zu Gebote stehenden Beschleunigungsmöglichkeiten (Eilbeschluss im
Umlaufverfahren) zu verkürzen (vgl zum hierbei zu wahrenden gesellschaftsrechtlichen
Vorgehen Müller und Schwintowski jeweils a.a.O.).
30
C.
31
Der Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung hat sich durch die Neufassung des
erstinstanzlichen Beschlusses erledigt.
32
D.
33
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Eine Kostenerstattung an die
Antragsteller kommt trotz deren Obsiegens nicht in Betracht, da sie nicht anwaltlich
vertreten sind, ihre Reisekosten vom Gericht getragen wurden und ihnen sonstige
Auslagen nicht entstanden. Die übrigen Beteiligten haben entweder selbst keine
Anträge gestellt (Beigeladene zu 2)) bzw. können als Gebührenpflichtige iSd § 184 Abs.
1 SGG gemäß § 193 Abs. 3 SGG keine außergerichtlichen Kosten geltend machen.
34