Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 19.08.2004
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Landessozialgericht NRW, L 16 KR 79/03
Datum:
19.08.2004
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
16. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 16 KR 79/03
Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 9 KR 399/01
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 1 KR 92/04 B
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Köln
vom 11. Februar 2003 geändert und die Klage abgewiesen. Kosten des
Verfahrens sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
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Die Klägerin begehrt von der beklagten Krankenkasse die Erstattung der Kosten eines
Arzneimittels, das der Klägerin außerhalb seines Zulassungsbereichs verordnet worden
ist.
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Die Klägerin leidet an multipler Sklerose (MS) in der Form des schubförmigen Verlaufs.
Als Folge dieser Erkrankung besteht des Weiteren nach cortisonrefraktärer
Retrobulbärneuritis eine hochgradige Sehminderung des linken Auges. Im April 2001
beantragte der Leiter der MS-Ambulanz der Klinik und Poliklinik für Neurologie des
Universitätsklinikums C, Dr. T, bei der Beklagten die Kostenzusage für eine Behandlung
der MS mittels "Copaxone" sowie für einen Therapieversuch zum Erhalt der
Sehfähigkeit des linken Auges mittels intravenösen Immunglobulinen, zu deren
Wirksamkeit er sich insbesondere auf eine wissenschaftliche Veröffentlichung aus dem
Jahr 1992 (van Engelen u. a.) berief. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung
(MDK) befürwortete die Anwendung von "Copaxone" bei der Klägerin. Daraufhin
bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 07.06.2001 eine entsprechende Behandlung,
lehnte aber den Einsatz der Immunglobuline ab, weil es insoweit nach einem Gutachten
des MDK an einem Wirksamkeitsnachweis fehle.
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Die Klägerin legte am 26.06.2001 unter Vorlage eines weiteren Arztbriefes des Dr. T
vom 07.06.2001 Widerspruch ein, worin erneut im Rahmen eines Heilversuchs eine
Therapie unter intravenöser Verabreichung von Immunglobulinen befürwortet wurde.
Die Beklagte übermittelte der Klägerin eine weitere Stellungnahme des MDK aus einem
anderen Versicherungsfall, in dem die Behandlung der MS mittels intravenösen
Immunglobulinen nicht befürwortet worden war, sowie eine Stellungnahme des Paul-
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Ehrlich-Instituts vom 23.07.2001, erstattet in einem sozialgerichtlichen Verfahren (SG
Koblenz, Az.: S 11 KR 38/99), wonach festzustellen bleibe, dass die derzeitig
vorliegenden Studien und Fallberichte noch nicht die Anforderungen erfüllten, die an
Studien zum Nachweis der Wirksamkeit und Sicherheit der Immunglobulin-Anwendung
bei MS gestellt würden. Mit Widerspruchsbescheid vom 22.08.2001 wies die Beklagte
den Widerspruch als unbegründet zurück, weil die therapeutische Wirkung der
begehrten Behandlung nicht hinreichend gesichert sei.
Die Klägerin hat am 26.09.2001 vor dem Sozialgericht (SG) Köln Klage erhoben. Sie hat
geltend gemacht, die Beklagte verkenne, dass nicht eine Basisbehandlung der MS im
Streit stehe, sondern ein zeitlich begrenzter individueller Heilversuch bei der Diagnose
"Neuritis nervi optici" (= Sehnervenentzündung) mittels intravenöser Immunglobuline
begehrt werde. Die Wirksamkeit einer solchen Behandlung sei wissenschaftlich
hinreichend belegt, wie verschiedene Veröffentlichungen zu dem Thema, insbesondere
diejenige von van Engelen und andere (u.a.) aus dem Jahr 1992 belege. Soweit sich die
Beklagte auf gegenteilige Rechtsprechung berufe, betreffe diese ausschließlich
Patienten mit chronisch-progredientem Verlauf der MS und sei daher auf ihren Fall nicht
übertragbar.
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Das SG hat Auskünfte des Paul-Ehrlich-Instituts sowie des Bundesausschusses der
Ärzte und Krankenkassen (jetzt Gemeinsamer Bundesausschuss) eingeholt. Letzterer
hat darauf hingewiesen, dass das der Klägerin zwischenzeitlich verordnete Medikament
"Venimmun N" zur Behandlung angeborener Immundefektsyndrome, erworbener
Immundefektsyndrome durch Grunderkrankungen wie chronisch lymphozytische
Leukämie und idiopathische thrombozytische Purpura zugelassen sei.
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Die Klägerin, die aufgrund der Verordnungen des Dr. T vom 15.10.2001 und 22.02.2002
für den Erwerb von "Venimmun N" insgesamt 16.946,73 Euro aufgewendet hatte, hat auf
eine weitere wissenschaftliche Veröffentlichung von Curro Dossi u.a. aus dem Jahre
1997 hingewiesen, wonach die Ergebnisse einer Untersuchung an vier Patienten den
Bedarf einer großen kontrollierten Studie der intravenösen Immunglobulin-Therapie der
Retrobulbärneuritis nahelege.
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Mit Urteil vom 11.02.2003 hat das SG nach Einholung einer Stellungnahme von Prof. Dr.
L, Direktor der Klinik und Poliklinik für Neurologie des Universitätsklinikums C die
Beklagte antragsgemäß verurteilt. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug
genommen.
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Gegen das ihr am 31.03.2003 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 22.04.2003
Berufung eingelegt. Unter Vorlage einer weiteren Stellungnahme des MDK (Dr. N) vom
23.05.2003, macht sie geltend, es fehlten zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare
Aussagen über den Behandlungserfolg des eingesetzten Medikaments. Die den
Veröffentlichungen von van Engelen u.a. und Curro Dossi u.a. zugrundeliegenden
Fallzahlen von fünf bzw. vier Patienten würden diesen wissenschaftlichen
Anforderungen nicht hinreichend gerecht. Des Weiteren fehle es an dem erforderlich
wissenschaftlichen Konsens über die Anwendung von Immunglobulinen im Rahmen der
MS-Behandlung, weil die Retrobulbärneuritis ein Symptom dieser Erkrankung sei.
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Die Beklagte beantragt,
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das Urteil des SG Köln vom 11.02.2003 zu ändern und die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie ist der Ansicht, die Voraussetzungen für einen sogenannten Off-label-use, die das
Bundessozialgericht (BSG) aufgestellt habe, seien vorliegend erfüllt. Es handele sich
unstreitig um eine schwerwiegende, die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig
beeinträchtigende Erkrankung, die keiner anderen Therapie zugänglich sei. Da der
Patientenkreis, bei dem die Gabe des Präparates in Betracht komme, zahlenmäßig sehr
gering sei und auch niedrig bleiben werde, müssten die vorliegenden Studien zum
Nachweis der Wirksamkeit ausreichend sein.
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Der Senat hat Auskünfte des Paul-Ehrlich-Instituts sowie der Deutschen Gesellschaft für
Neurologie (DGN) eingeholt. Für Letztere hat Prof. Dr. S von der Neurologischen Klinik
und Poliklinik des Universitätsklinikums Würzburg als federführender Autor der
Therapieleitlinien für die MS darauf verwiesen, dass nach dem derzeitigen
Erkenntnisstand keine ausreichende Evidenz und auch kein wissenschaftlicher
Konsens vorliege, eine Behandlung mit "Venimmun N" bei cortisonrefraktären Schüben
durchzuführen. Wegen der Einzelheiten wird auf die Stellungnahme vom 17.05.2004
verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung ist begründet. Das SG hat der Klage zu Unrecht stattgegeben,
denn der Klägerin steht der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch nicht zu.
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Der Anspruch lässt sich allein aus § 13 Abs. 3 Satz 1 2. Alt. Fünftes Buch
Sozialgesetzbuch - gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) herleiten. Danach sind,
sofern die Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und dadurch Versicherten
für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, diese von der Krankenkasse
in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Diese
Voraussetzungen sind jedoch nicht erfüllt, denn die Beklagte hat die begehrte
Versorgung mit dem Arzneimittel "Venimmun N" zu Recht abgelehnt. Der sich aus § 27
Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und § 31 Abs. 1 SGB V ergebende Anspruch der Versicherten auf
Bereitstellung der für die Krankenbehandlung benötigten Arzneimittel unterliegt den
Einschränkungen aus §§ 2 Abs. 1 Satz 3, 12 Abs. 1 SGB V. Er besteht nur für solche
Pharmakotherapien, die sich bei dem vorhandenen Krankheitsbild als zweckmäßig und
wirtschaftlich erwiesen haben und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein
anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht. Hieran fehlt es, wenn
das verordnete Medikament nach den Vorschriften des Arzneimittelrechts der Zulassung
bedarf, aber nicht zugelassen ist (BSG SozR 3-2200, § 182, Nr. 17; BSG SozR 3-2500,
§ 31, Nrn. 3, 5). Das gleiche gilt grundsätzlich für die Verordnungsfähigkeit eines zum
Verkehr zugelassenen Arzneimittels, wenn es in einem Anwendungsgebiet zum Einsatz
kommen soll, auf das sich die Zulassung nicht erstreckt (BSG SozR 3-2500, § 31, Nr. 8,
S. 30; in diese Richtung schon, aber im Ergebnis noch offen gelassen vom 8. Senat des
BSG im Urteil vom 30.09.1999 = SozR 3-2500, § 27, Nr. 11, S. 51 ff.). Diese
Beschränkung findet ihre Berechtigung darin, dass die arzneimittelrechtliche Zulassung
Rückschlüsse auf die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des geprüften Medikaments
nur im Bereich der vom Hersteller im Zulassungsantrag genannten Anwendungsgebiete
zulässt, aber keinen Hinweis darauf gibt, ob das betreffende Arzneimittel auch bei
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anderen Indikationen verträglich und angemessen wirksam ist (§ 24 Abs. 1 Nr. 3
Arzneimittelgesetz - AMG). Daher lässt sich nicht ausschließen, dass das Mittel bei
einem Einsatz außerhalb des zugelassenen Anwendungsbereichs schädliche
Wirkungen zeigt, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft
vertretbares Maß hinaus gehen (vgl. BSG SozR 3-2500, § 27, Nr. 11, S. 54). Die
zulassungsüberschreitende Anwendung (sogenannte Off-label-use) ist jedoch dann
eröffnet, "wenn es (1.) um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen
oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht,
wenn (2.) keine andere Therapie verfügbar ist und wenn (3.) aufgrund der Datenlage die
begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein
Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann" (BSG SozR 3-2500, § 31,
Nr. 8, S. 36). Letzteres ist nur dann anzunehmen, wenn entweder die Erweiterung der
Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen
Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine
klinisch relevante Wirksamkeit bzw. einen relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken
belegen oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse
veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen
Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen
und aufgrund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen
voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (BSG a. a. O.). Letztere
Voraussetzungen sind entgegen der Ansicht des SG nicht erfüllt. In der Studie von van
Engelen und anderen, auf die sich die Klägerin und die behandelnden Ärzte vorrangig
stützen, ist ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass die Studie nicht unter
repräsentativen Bedingungen erfolgt ist, die Gabe von Immunglobulin bei multipler
Sklerose seit Jahren kontrovers diskutiert werde und dass es lediglich nicht
ausgeschlossen sei, dass in Einzelfällen hierdurch Therapieerfolge zu erzielen seien.
Auch Curro Dossi u.a. haben darauf hingewiesen, dass die Ergebnisse ihrer
Untersuchung angesichts der geringen Anzahl der Probanden den Bedarf einer großen
kontrollierten Studie zeigten, so dass aus diesen eingeschränkten Studien keine
gesicherten Kenntnisse ableitbar sind. Dies deckt sich mit den Stellungnahmen von
Prof. Dr. L und Prof. Dr. S. Ersterer hat gegenüber dem LSG erklärt, dass die intravenöse
Verabreichung von Immunglobulinen bei MS kontrovers diskutiert werde und nur in
Einzelfällen bei dem hier zu beurteilenden Krankheitsbild Therapieerfolge möglich
seien. Dies belegt aber gerade keinen Konsens in der medizinischen Wissenschaft
bezüglich der hier streitigen Gabe von "Venimmun N" zur Behandlung der
Retrobulbärneuritis bei bestehender MS in der Form des schubförmigen Verlaufs. Prof.
Dr. S hat aufgezeigt, dass neuere Studien bezüglich der Gabe von Immunglobulinen zur
Behandlung der Retrobulbärneuritis und der MS in der Form des schubförmigen
Verlaufs keine gesicherten Erkenntnisse erbracht hätten und ein Konsens über den
Nutzen entsprechender Behandlungen in der medizinischen Fachwelt daher nicht
bestehe. Wenn Prof. Dr. S gleichwohl einen protokollierten therapeutischen Heilversuch
empfiehlt, widerspricht dies nicht seiner Einschätzung, sondern belegt lediglich, dass
auch er zum Zweck weiterer Forschung die Anwendung von "Venimmun N" zur
Behandlung der Klägerin für sinnvoll erachtet. Dies entspricht jedoch nicht der
Empfehlung aufgrund eines gesicherten Konsens hinsichtlich des möglichen
Behandlungserfolgs. Die wissenschaftliche Erforschung von Arzneimitteln fällt aber
grundsätzlich nicht in den Aufgabenbereich der gesetzlichen Krankenkassen (vgl.
Begründung zum Fraktionsentwurf des Gesundheitsreformgesetzes - GRG - BT-Drucks
11/2237, S. 157; BSG SozR 3-2500, § 135, Nr. 4).
Ein anderes Ergebnis lässt sich auch nicht mit dem Einwand der Klägerin begründen,
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die geringe Anzahl entsprechender Erkrankungen und die darauf beruhende fehlende
Bereitschaft der medizinischen Wissenschaft und Industrie zu umfangreichen Studien
ließen die Feststellung eines entsprechenden Konsenses kaum zu. Dieser Einwand
begegnet schon deshalb Bedenken, weil Curro Dossi u. a. selbst auf das Erfordernis
größerer Studien verwiesen und deren Möglichkeit daher offensichtlich angenommen
haben. Zum anderen hat das BSG bei der Beurteilung neuer Behandlungsmethoden bei
seltenen Krankheitsbildern, die entsprechende Studien nicht zulassen, verlangt, dass
der Nachweis des therapeutischen Nutzens durch die Verbreitung der
Behandlungsmethode und den entsprechenden Konsens in der medizinischen
Wissenschaft zu belegen sei (BSG a.a.O., S. 23 ff.). Lässt sich dieser Konsens nicht
finden, kann die entsprechende Behandlung nicht mit dem Argument verlangt werden,
ein solcher Konsens lasse sich nicht feststellen; denn außerhalb gesicherter
medizinischer Erkenntnisse besteht keine Einstandspflicht der gesetzlichen
Krankenkassen.
Hierdurch wird auch nicht das Grundrecht der Klägerin aus Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz
(GG) auf Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit verletzt, denn es
besteht kein verfassungsrechtlicher Anspruch gegen die Krankenkassen auf
Bereitstellung oder Finanzierung bestimmter Gesundheitsleistungen (BVerfG NJW
1997, 3085).
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Auf die Berufung der Beklagten musste das Urteil des SG daher geändert und die Klage
mit der auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beruhenden Kostenentscheidung
abgewiesen werden.
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Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision sind nicht erfüllt.
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