Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 17.10.2003

LSG NRW (verhältnis zu, schätzung, abzug, versorgung, körperpflege, ernährung, pflegebedürftigkeit, sgg, stellungnahme, mutter)

Landessozialgericht NRW, L 3 P 50/02
Datum:
17.10.2003
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
3. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 3 P 50/02
Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 23 P 135/01
Sachgebiet:
Pflegeversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom
21.08.2002 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch
im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
1
Streitig ist ein Anspruch auf Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach der
Pflegestufe III. Die im April 1995 geborene Klägerin ist als Familienangehörige bei der
Beklagten in der sozialen Pflegeversicherung versichert, lebt mit ihrer Mutter in einem
gemeinsamen Haushalt und wird von ihr gepflegt. Sie leidet an einem frühkindlichen
Hirnschaden mit psychomotorischer Entwicklungsverzögerung, Halbseitenlähmung
links, Sehschwäche und Taubheit rechts. Nach vorherigem Bezug von Leistungen
entsprechend der Pflegestufe II beantragte die Klägerin im November 2000 die
Höherstufung.
2
Die Beklagte ließ sie darauf im Januar 2001 durch den Arzt des Medizinischen Dienstes
der Krankenkassen - MDK - P untersuchen, der einen Grundpflegemehrbedarf von 41
Minuten ermittelte (Körperpflege: 95 Minuten, Ernährung: 69 Minuten, Mobilität: 81
Minuten, Abzug für Normalbedarf altersentsprechend gesund entwickelter Kinder: 105
Minuten). Mit Bescheid vom 20.02.2001 lehnte die Beklagte die Bewilligung von
Leistungen nach Pflegestufe III ab. Ihren Widerspruch begründete die Klägerin unter
Vorlage eines Pflegetagebuches, in dem für eine Woche im April 2001 ein täglich
durchschnittlicher Grundpflegebedarf von ca. 400 Minuten aufgezeichnet ist. Nach
Einholung einer Stellungnahme nach Aktenlage des Dr. L vom MDK vom 29.06.2001
wies die Beklagte den Widerspruch mit Bescheid vom 16.10.2001 mit der Begründung
zurück, das für einen Anspruch auf Leistungen nach Pflegestufe III erforderliche Zeitmaß
werde bei der Klägerin nicht erreicht.
3
Mit der am 07.11.2001 erhobenen Klage hat die Klägerin auf das Ausmaß der
Entwicklungsverzögerung, ständige Inkontinenz und Bewegungsstörungen,
4
hingewiesen und einen sprachheilpädagogischen sowie einen psychotherapeutischen
Bericht vorgelegt; sie befinde sich auf dem Entwicklungszustand eines zweijährigen
Kindes.
Das Sozialgericht hat einen Befundbericht des behandelnden Arztes Dr. U und ein
Gutachten des Facharztes für Allgemeinmedizin und psychotherapeutische Medizin
sowie ausgebildeten Krankenpflegers Dr. med. E eingeholt. Dieser ermittelte im
Gutachten vom 11.04.2002 einen leistungsrelevanten Grundpflegebedarf von 218
Minuten (Körperpflege: 134 Minuten, Ernährung: 85 Minuten, Mobilität: 89 Minuten,
Abzug für Normalbedarf altersentsprechend entwickelter Kinder: 60 Minuten).
5
Mit Urteil vom 21.08.2002 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen: Der Klägerin
stünden Leistungen der begehrten Pflegestufe III derzeit (noch) nicht zu, da bei einem
berücksichtigungsfähigen Mehrbedarf im Bereich der Grundpflege von 308 Minuten ein
Abzug von 82 Minuten an Stelle der vom Sachverständigen Dr. E abgezogenen 60
Minuten an Mehrbedarf für altersentsprechend gesund entwickelte Kinder vorzunehmen
sei, so dass das Zeitmaß für Leistungen der Pflegestufe III unterschritten werde. Hierbei
hat das Sozialgericht graphisch interpolierte Werte aus den Richtlinien der
Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem
SGB XI (a.a.O.: D, 5, III 7., b), Seite 44 der Auflage von Februar 2002, im Folgenden:
"Begutachtungsrichtlinien" genannt) zugrunde gelegt. Auf die weitere Begründung wird
Bezug genommen.
6
Gegen das am 20.09.2002 zugestellte Urteil richtet sich die am 01.10.2002 eingelegte
Berufung, mit der angenommen wird, der Abzug für den Grundpflegebedarf
altersentsprechend gesund entwickelter Kinder sei vom Gutachter, nicht vom Gericht zu
schätzen. Er sei auch nicht nach den Tabellen der Begutachtungsrichtlinien, sondern
nach Maßgabe der Ermittlungen des SG Dortmund (Urteil vom 19.10.1999, - S 39 P
56/97 -) vorzunehmen. Innerhalb der Richtlinien hätten der Sachverständige wie auch
das Sozialgericht die falschen Werte abgelesen. Für Einzelverrichtungen habe der
Sachverständige zu geringe Zeitansätze gewählt. So seien 12 Minuten täglich für das
Kämmen der Haare der Klägerin nicht ausreichend, tatsächlich werde sie 45 Minuten
lang gekämmt. Die Zeitansätze für Ankleiden und Auskleiden seien ebenso bei Weitem
zu niedrig wie der Zeitansatz für die mundgerechte Zubereitung der Nahrung. Hierfür
benötige die Mutter 30 Minuten, das Doppelte des vom Sachverständigen angesetzten
Wertes. In dessen angesetzten 15 Minuten sei nicht einmal Fleisch zu garen.
7
Die Klägerin beantragt,
8
das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 21.08.2002 abzuändern und die Beklagte unter
Aufhebung des Bescheides vom 20.02.2001 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 16.10.2001 zu verurteilen, ihr Leistungen nach der
Pflegestufe III ab November 2000 zu zahlen.
9
Die Beklagte beantragt,
10
die Berufung zurückzuweisen.
11
Die Beklagte folgt den Zeitansätzen des Sachverständigen Dr. E mit der Modifikation,
dass diese Zeitansätze sehr großzügig seien. Bei Zugrundelegung einer linearen
Abnahme des Normalhilfebedarfs altersentsprechend entwickelter Kinder in den Jahren
12
von 6 bis 12 werde die Schwelle zur Pflegestufe III zwar nicht gegenwärtig, jedoch in
absehbarer Zukunft erreicht. Unter Zugrundelegung der Werte aus dem Gutachten des
MDK vom 12.02.2001 mit dem dort ermittelten Gesamthilfsbedarf in Höhe von 206
Minuten werde die Klägerin mit etwa 11 1/2 Jahren die Pflegestufe III erreichen.
Der Senat hat eine ergänzende Stellungnahme des Dr. E vom 02.01.2003 eingeholt, zu
deren Inhalt auf Bl. 154 PA ff., wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes auf den
Inhalt der Prozessakten im Übrigen sowie den Inhalt der beigezogenen
Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen wird.
13
Entscheidungsgründe:
14
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht
abgewiesen, da die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid vom 20.02.2001 in der
Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16.10.2001 Ansprüche der Klägerin auf
Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach Pflegestufe III zu Recht abgelehnt hat.
Die Voraussetzungen waren bis zum Abschluss des Berufungsverfahrens als dem für
die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt
(Meyer-Ladewig, SGG, 7. Auf. 2002, § 54 Rdnr. 34 m.w.N.) nicht erfüllt.
15
Der Anspruch auf Leistungen nach der Pflegestufe III setzt voraus, dass
Pflegebedürftigkeit im Sinne von § 14 SGB XI in dem durch § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und
§ 15 Abs. 3 Nr. 3 SGB XI bestimmten Umfange vorliegt. Schwerstpflegebedürftig sind
danach Personen, die bei der Körperpflege, bei der Ernährung oder der Mobilität täglich
rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche
Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Dabei muss der Zeitaufwand,
den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete
Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und
hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der
Pflegestufe III mindestens 5 Stunden betragen, wobei auf die Grundpflege mindestens 4
Stunden entfallen müssen. Bei Kindern ist dabei allein der zusätzliche Hilfebedarf im
Verhältnis zu einem gesunden gleichaltrigen Kind maßgebend (§ 15 Abs. 2 SGB XI).
Zur Grundpflege gehören nach § 14 Abs. 4 Nrn. 1-3 SGB XI die bei der Körperpflege,
Ernährung und Mobilität anfallenden Verrichtungen; die hauswirtschaftliche Versorgung
umfasst nach § 14 Abs. 4 Nr. 4 SGB XI Einkaufen, Kochen, Wohnungsreinigung,
Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung sowie das Beheizen.
16
Diese Voraussetzungen waren für den gesamten zu betrachtenden Zeitraum nach den
Einschätzungen sämtlicher in das Verfahren eingeschalteter Sachverständiger nicht
erreicht. Der Senat schließt sich den im Wesentlichen auf die Zeitansätze des
Sachverständigen Dr. E gestützten Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils
an und sieht insoweit von einer wiederholenden Darstellung ab (§ 153 Abs. 2 SGG -
Sozialgerichtsgesetz-). Berufungsvortrag und neue Erkenntnisse im
Berufungsverfahren, insbesondere der Inhalt der ergänzenden Stellungnahme des
Sachverständigen Dr. E vom 22.05.2002, geben keine Veranlassung zu einer
abweichenden Einschätzung. Weder das im Grundpflegemehrbedarf geforderte Zeitmaß
von 240 Minuten noch das Gesamtmaß der (Mehr-)Zuwendung von 300 Minuten werden
erreicht.
17
Dabei kann die Kritik der Beklagten an den ihrer Ansicht nach großzügigen
Zeitansätzen des Gutachters Dr. E dahinstehen, da auch nach der Summe der von ihm
18
ermittelten Werte von 308 Minuten für die zeitliche Zuwendung im Bereich der
Einzelverrichtungen nach Abzug des altersentsprechenden Mehrbedarfs Pflegestufe III
nicht erreicht wird.
Den das gesamte Verfahren durchziehenden Vorstellungen der Klägerin zu wesentlich
höheren Zeitansätzen insbesondere im Bereich des An- und Auskleidens sowie in der
Körperpflege, namentlich beim Kämmen, kann nicht gefolgt werden. Was den
angegebenen Mehrbedarf beim An- und Auskleiden angeht, hält der Senat die
Darstellungen des Sachverständigen Dr. E in seiner ergänzenden Stellungnahme vom
02.01.2003 für realistisch und in der Höhe adäquat. Danach erscheint ein Hilfebedarf
beim An- und Auskleiden von 44 Minuten auch in Anbetracht der funktionellen
Einschränkung des Stütz- und Bewegungsapparates der Klägerin ausreichend
berücksichtigt. Innerhalb dieses Zeitraums sei ein adäquates Eingehen auf die
psychische Befindlichkeit gleichfalls möglich. Die weit höheren Zeitangaben der
Klägerin bzw. ihrer Mutter erscheinen vor diesem Hintergrund deutlich überhöht und
wenn überhaupt, dann vor dem Hintergrund nachvollziehbar, dass sie ihrem Interesse
an der raschen Erledigung der Grundpflegeverrichtungen gegenüber der Tochter nicht
den nötigen Nachdruck verleihen. Hinsichtlich des geforderten Zeitansatzes von 45
Minuten (täglich!) für das Kämmen, hält der Senat in medizinisch-pflegerischer Hinsicht
gleichfalls die Ausführungen des Sachverständigen Dr. E für plausibel und verlässlich.
Sein Zeitansatz von 3 x 4 Minuten täglich erscheint auch bei langen Haaren, die offen
getragen werden, als ausreichend. Bei 3 x täglichem Kämmen kann nachhaltiges
Verfilzen der Haare verhindert werden, auch wenn dieses durch vermehrten Aufenthalt
zu ebener Erde gefördert wird. Die von der Klägerseite angegebenen 35 - 45 Minuten
sind - auch insoweit macht sich der Senat die Einschätzung von Dr. E zu eigen - durch
emotionale Zuwendung über das Kämmen erklärlich. Auch abgesehen von dieser
pflegerisch/ medizinischen Argumentation erscheint dem Senat der geforderte
Zeitansatz für das Kämmen unter Beachtung von Ziel- und Rahmenbedingungen der
Versicherung nach dem SGB XI schon im rechtlichen Ansatz unvertretbar. Die
Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Pflegeversicherung nach dem SGB XI ist durch die
Höhe des jeweils verfügbaren Beitragsaufkommens, das der Gesetzgeber durch die
Festlegung der Beitragssätze bestimmt, limitiert. Dem tragen vielfältige Regelungen des
SGB XI selbst sowie anderer Gesetze, beispielsweise durch
Subsidiaritätsbestimmungen Rechnung (u.a. §§ 44 SGB VII, 35 BVG, 68 ff. BSHG, 40
SGB V, 34 Beamtenversorgungsgesetz, 9 ff. SGB VI). Innerhalb des SGB XI wird eine
Begrenzung durch die strenge Koppelung des Begriffs der für die Leistungshöhe
entscheidenden Pflegebedürftigkeit an bestimmte Verrichtungen des § 14 Abs. 4 SGB
XI erreicht. Dieser gesetzgeberisch eingeschlagene Weg, die Beitragsbelastung auch
mit Hilfe der Definition der Pflegebedürftigkeit selbst in Grenzen zu halten, liegt im
Rahmen seines verfassungsrechtlich unantastbaren politischen
Gestaltungsspielraumes (BVerfGE 96, 330, 342, zuletzt zum Ausschluss des
Mehrbedarfes durch demenzbedingte Fähigkeitsstörungen, geistige Behinderungen
oder psychische Erkrankungen: Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom
22.05.2003 - 1 BvR 1077/00 -, NZS 2003, 535 ff.). Vor diesem Hintergrund kann bei der
Bemessung des zulässigen Zeitansatzes für die jeweilige Einzelverrichtung nicht allen
Wünschen und Bedürfnissen der zu Pflegenden wie auch der Pflegepersonen
entsprochen werden. Das zulässige Ausmaß des Zeitansatzes ist vielmehr auch mit
dem Ziel zu bestimmen, in möglichst vielen Fällen mit dem beschränkten
Finanzvolumen die Ziele der Versicherungen nach dem SGB XI, nämlich den Erhalt des
selbständigen und weitestgehend selbst bestimmten Lebens im häuslichen Umfeld (§§
2,3 SGB XI) effektiv zu fördern. Hiermit ist es unvertretbar, im Einzelfall die von der
19
Klägerin gewünschten 35 bis 45 Minuten an Haarpflege zu berücksichtigen. Wie bei
anderen Grundpflegeunterstützungen ist vielmehr auch beim Haarekämmen nur das
Zeitmaß berücksichtigungsfähig, das zum Erhalt des möglichst selbständigen und
selbstbestimmten Lebens, das der Würde des Menschen entspricht (§ 2 Abs. 1 Satz 1
SGB XI), dient. Der vom Sachverständigen Dr. E gewählte Zeitansatz von 3 x täglich je
4 Minuten für die Haarpflege trägt diesen Vorgaben großzügig Rechnung. Darüber
hinausgehender Bedarf ist nicht berücksichtigungsfähig; er mag besonderen
emotionalen oder ästhetischen Bedürfnissen der Klägerin bzw. ihrer sie pflegenden
Mutter entspringen, verlässt aber den Rahmen des SGB XI.
Ein Mehransatz für die Nahrungszubereitung ist gleichfalls nicht möglich. Die der
Berufung zugrundeliegende Argumentation zeigt das Missverständnis auf, dass
sämtliche der Nahrungsaufnahme vorangehenden Arbeiten Grundpflegeverrichtungen
seien. Dies ist nicht der Fall. Zur als Grundpflegeverrichtung berücksichtigungsfähigen
mundgerechten Zubereitung der Nahrung (§ 14 Abs. 4 Nr. 2 SGB XI) zählen vielmehr
nur die letzten der Nahrungsaufnahme vorhergehenden Maßnahmen wie Zerkleinern,
Trennen nicht essbarer Bestandteile, Herauslösen von Knochen und Ähnliches (Urteile
des BSG vom 19.02.1998 - B 3 P 5/97 R -; vom 31.08.2000 - B 3 P 14/99 R -). Alle
vorhergehenden Zubereitungsstadien, auch wenn sie auf einen aus Diätnahrung
folgenden Mehraufwand zurückzuführen sind, rechnen zum Kochen als Bestandteil der
hauswirtschaftlichen Versorgung (Udsching, SGB XI, 2. Auflage 2000, Rdnr. 30 zu § 14
m.w.N.).
20
Auch bei dem von Dr. E für vertretbar gehaltenen Gesamtaufwand von Unterstützungen
im Bereich der Grundpflege von 308 Minuten täglich durchschnittlich wird das untere
Maß für den Anspruch auf Leistungen nach Pflegestufe III zu keinem Zeitpunkt innerhalb
des entscheidungserheblichen Zeitraumes erreicht, da insoweit nicht der bei der
Klägerin vorliegende Gesamtbedarf den Umfang der Pflegebedürftigkeit bestimmt,
sondern nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes nur der im Verhältnis zu einem
gesunden gleichaltrigen Kind gegebene zusätzliche Hilfebedarf (§ 15 Abs. 2 SGB XI).
21
Die hierzu erforderliche Bestimmung des Normalbedarfes altersgleicher Kinder kann
nicht alleine durch Messung oder Einschätzung des Sachverständigen vorgenommen
werden:
22
Soweit an Stelle konkreter Zeitmessungen Schätzungen vorgenommen werden, liegt
dieses grundsätzlich noch im Rahmen zulässiger richterlicher Beweiserhebung,
jedenfalls solange die Schätzung nicht über das "Ob", sondern nur über die Höhe der
Leistung entscheidet. Im Zivilprozessrecht ist die gerichtliche Schätzung in erster Linie
bei der Ermittlung der Schadenshöhe von Bedeutung, vor allem wenn nach dem - näher
darzulegenden - pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts voraussichtlich auch eine
Beweisaufnahme keine eindeutige Klärung bringen würde; in einem derartigen Fall ist
aber zunächst die Grundlage der Schätzung sorgfältig zu ermitteln und dann eine
Schätzung anzustellen, die auf sachlichen und zutreffenden Erwägungen und
Abwägungen beruhen muss. Nach § 202 SGG i.V.m. § 287 Zivilprozessordnung (ZPO)
ist die Schätzung eines Schadensumfangs auch im Sozialgerichtsprozess zulässig
(BSG, Urteil vom 28.05.2003 - B 3 P 6/02 R - m.w.N.). Insbesondere ist es auch bereits
als zulässig angesehen worden, - auf anderem Wege ordnungsgemäß festgestellten -
Pflegebedarf kranker und behinderter Kinder demjenigen gesunder Kinder
gegenüberzustellen und dabei den - nach § 15 Abs. 2 SGB XI für die Pflegestufe allein
maßgeblichen - Mehrbedarf zu schätzen (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 9 und 10; BSG
23
SozR 3-2500 § 53 Nr. 7). Der Senat sieht jedoch davon ab, von dieser Möglichkeit
eigener Schätzung Gebrauch zu machen und zieht die Tabellenwerte der
Begutachtungsrichtlinien (a.a.O.) heran, nicht dagegen die mit der
Berufungsbegründung postulierten Ermittlungsergebnisse des SG Dortmund, a.a.O ...
Die in den Begutachtungsrichtlinien enthaltenen, nicht endgültig evaluierten
Erfahrungswerte können vorerst mangels besserer Erkenntisse ohne Rechtsfehler
angewendet werden, wobei in geeigneten Fällen, insbesondere bei geistig gesunden
Kindern, eine konkrete Schätzung alleine des jeweiligen Mehrbedarfs nicht
ausgeschlossen ist (BSG, Urteile vom 29. April 1999 - B 3 P 7/98 R -, vom 26.11.1998 -
B 3 P 20/97 R - SozR 3 3300, § 14 Nr.9). Der Abzug beträgt hiernach zu Beginn des
streitigen Zeitraumes im Oktober 2000 für die damals 5 1/2 jährige Klägerin zwischen 90
und 105 Minuten, für den Zeitpunkt der Verkündung des angefochtenen Urteiles für die
damals gut 6 1/2 jährige Klägerin etwa 85 Minuten und gegenwärtig für die nun 7 1/2
jährige Klägerin immer noch 75 Minuten. Die Rahmenwerte ergeben sich hierbei nach
der Tabelle aus der Addition der für die Bereiche Körperpflege, Ernährung und Mobilität
jeweils vorgesehenen Einzelrahmen, nicht, wie es offensichtlich die Klägerin
unternommen hat, aus dem Ablesen eines Einzelwertes für einen
Unterstützungsbereich. Den für die Gruppe der 6 - 12 jährigen Kinder vorgesehene
Rahmen von 105 bis 0 Minuten durch Interpolation auszufüllen, erscheint dem Senat
angebracht im Interesse der bundesweiten Gleichbehandlung aller Pflegebedürftigen.
Zur konkreten Ermittlung der Zwischenwerte bieten sich neben der vom Sozialgericht
unternommenen graphischen Ermittlungen namentlich die arithmetische Aufteilung in 6
bzw. 7 Jahrgangsgruppen mit dem Ausgangswert von 105 Minuten für 6 jährige und
dem Endwert von 0 bzw. 15 Minuten für 12 jährige Kinder an, je nachdem, ob man die
Tabelle so versteht, dass bei Erreichung des 12. oder aber des 13. Lebensjahres kein
Regelbedarf mehr vorliegt. Welcher Ermittlungsweise der Vorzug zu geben ist, kann
allerdings dahinstehen, da zum Einen nach allen Ermittlungsmethoden ein Abzug von
mehr als 68 Minuten (82, 87,5, 90 Minuten) vorzunehmen ist, was jeweils zur
Unterschreitung des Untermaßes für den Mindestbedarf im Bereich der
Grundpflegeverrichtungen von 240 Minuten führt (308 - x Minuten) und zum Anderen
auch die Summe des sonach berücksichtigungsfähigen Grundpflegebedarfes und des
Mehrbedarfes im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung nicht die gleichfalls
maßgebliche Schwelle des Gesamtpflegebedarfes von 300 Minuten überschreitet.
Hierbei ist - § 15 Abs. 2 SGB XI - wiederum nur der im Verhältnis zu einem
altersentsprechend gesund entwickelten Kind feststellbare Mehrbedarf an
hauswirtschaftlicher Versorgung, nach den Ermittlungen von Dr. E also bei der Klägerin
etwa 30 Minuten, in Ansatz zu bringen. Der Pauschalansatz nach den Richtlinien für
Kinder bis zum vollendeten 8. Lebensjahr (a.a.O.) ist nach der auch vom Senat
zugrunde gelegten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nicht zulässig (BSG
SozR 3 3300 § 14 Nr. 10).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
24
Ein Grund zur Zulassung der Revision nach § 160 SGG besteht nicht.
25