Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 20.02.2008

LSG NRW: aufenthalt, ausnahmefall, leistungsausschluss, vollzug, anhörung, unterbringung, wohnung, beendigung, verfügung, erlass

Landessozialgericht NRW, L 7 B 271/07 AS
Datum:
20.02.2008
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
7. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 7 B 271/07 AS
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 14 AS 357/07
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 24.09.2007 wird
aufgehoben. Der Klägerin wird für die Durchführung des
Klageverfahrens Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt
Q aus H für die Zeit ab Antragstellung gewährt.
Gründe:
1
Die Beschwerde der Klägerin, der das Sozialgericht (SG) mit Beschluss vom
09.10.2007 nicht abgeholfen hat, ist zulässig und begründet. Denn die Rechtsverfolgung
der Klägerin, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten
der Prozessführung nicht aufbringen kann, bietet hinreichende Aussicht auf Erfolg und
erscheint nicht mutwillig (§ 73 a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 114
Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO)).
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Denn der Sachverhalt bedarf weiterer Aufklärung. Derzeit ist nicht abschließend zu
beurteilen, ob dem Begehren der Klägerin auf Gewährung von Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II)
der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 4 SGB II anspruchsvernichtend entgegensteht.
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1. Das SG hat in seinem angefochtenen Beschluss vom 24.09.2007 ausgeführt, die
tatbestandlichen Voraussetzungen des Leistungsausschlusses gemäß § 7 Abs. 4 SGB
II seien erfüllt. Ob dies zutrifft, kann ohne weitere Sachverhaltsermittlung nicht beurteilt
werden.
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a) Gemäß § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II erhält Leistungen nach dem SGB II nicht, wer in
einer stationären Einrichtung untergebracht ist. Dem Aufenthalt in einer stationären
Einrichtung ist der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlicher angeordneter
Freiheitsentziehung gleichgestellt (§ 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II). Die Regelung des § 7 Abs.
4 SGB II ist durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für
Arbeitsuchende vom 20.07.2006 (BGBl I S. 1706) mit Wirkung vom 01.08.2006
entsprechend geändert worden.
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b) Das SG wird aufzuklären haben, ob die Justizvollzugsanstalt eine "Einrichtung" im
Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II darstellt. Denn das Bundessozialgericht (BSG) hat
zwischenzeitlich entschieden, dass der Begriff der "Einrichtung" objektiv und funktional
zu bestimmen ist. Maßgebend ist danach, ob es dem Hilfebedürftigen auf Grund der
Struktur der Einrichtung möglich ist, drei Stunden täglich (bzw. 15 Stunden wöchentlich)
einer Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachzugehen (BSG, Urteil vom
06.09.2007, B 14/7b AS 16/07 R, Juris). Entscheidend sei, ob der in der Einrichtung
Verweilende auf Grund der Vollversorgung und auf Grund seiner Einbindung in die
Tagesabläufe der Einrichtung räumlich und zeitlich so weitgehend fremdbestimmt ist,
dass er für die für das SGB II im Vordergrund stehenden Integrationsbemühungen zur
Eingliederung in Arbeit (§§ 14 ff. SGB II) nicht oder nicht ausreichend zur Verfügung
steht (BSG a.a.O., Juris (Rn. 16)).
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Der Aufenthalt in einer Justizvollzugsanstalt soll "im Regelfall" die Unterbringung in
einer stationären "Einrichtung" darstellen (BSG a.a.O., Juris (Rn. 18)). Ob hier ein
Ausnahmefall vorliegt, bedarf weiterer Aufklärung. Anlass für weitere Ermittlungen
besteht deshalb, weil der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführerin mit
Schriftsatz vom 18.12.2007 auf Nachfrage des Senats mitteilte, die Klägerin könne sich
außerhalb der Justizvollzugsanstalt derzeit 15 Stunden pro Woche bewegen. Die
Erwiderung der Beklagten, es erschließe sich ihr nicht, "was eine derzeit evtl.
bestehende Ausgangsregelung mit der in 2007 gekündigten Wohnung zu tun hat"
(Schriftsatz vom 17.01.2008), verkennt, dass genau dieser Umstand angesichts der
Rechtsprechung des BSG der Aufklärung bedarf. Das SG wird also zu prüfen haben, ob
und ggf. in welchem Umfang sich die Klägerin bereits zu Beginn ihrer Haftzeit außerhalb
der Justizvollzugsanstalt bewegen durfte. Ein Ausnahmefall im erwähnten Sinn kann
ggf. etwa bei "Freigängern" vorliegen (BSG vom 06.09.2007, B 14/7b AS 60/06 R, Juris
m.w.N.; vgl. für den offenen Vollzug auch Valgolio in: Hauck/Noftz, SGB II, K § 7 Rn. 63
(Stand: II/2007)).
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c) Das SG wird für den Fall, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 4 SGB II nicht
greifen sollte, zu ermitteln haben, ob der Klägerin eine vorherige Beendigung ihres
Mietverhältnisses rechtlich oder tatsächlich nicht möglich war. Im Übrigen könnte sich
die Frage stellen, ob die begehrten Leistungen für Unterkunft "angemessen" i.S.d. § 22
Abs. 1 Satz 1 SGB II sind. Denn die Klägerin war im streitigen Zeitraum bereits inhaftiert
(vgl. zum Sozialhilferecht etwa SG Münster, Beschluss vom 02.05.2005, S 12 SO 31/05
ER, Juris).
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2. Aus der Verwaltungsakte ist nicht zu ersehen, ob die Beklage die Klägerin vor Erlass
des angefochtenen Teilaufhebungsbescheides vom 28.03.2007 die Gelegenheit gab,
sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern (§ 40 Abs. 1 Satz 1
SGB II i.V.m. § 24 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X)). Durch die
Möglichkeit, sich im Widerspruchsverfahren hierzu zu äußern, dürfte diese offenbar
unterbliebene Anhörung jedoch wirksam nachgeholt worden sein gemäß § 41 Abs. 1 Nr.
3 SGB X (vgl. von Wulffen in: ders., SGB X, 5. Aufl. 2005, § 41 Rn. 8 m.N. zur Rspr. des
BSG).
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3. Das SG wird schließlich zu prüfen haben, ob ein Sozialhilfeträger gemäß § 75 Abs. 2
SGG notwendig beizuladen ist (vgl. auch Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen,
Beschluss vom 10.10.2006, L 19 B 54/06 AS, Juris).
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4. Kosten werden im Beschwerdeverfahren nicht erstattet (§ 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG
i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO).
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Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
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