Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 24.11.2010

LSG NRW (sgg, verfassungskonforme auslegung, beschwerde, bewilligung, antragsteller, sanktion, antrag, aussicht, auflage, kommentar)

Landessozialgericht NRW, L 7 AS 948/10 B
Datum:
24.11.2010
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
7. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 7 AS 948/10 B
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 33 AS 1439/10 ER
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des
Sozialgerichts Dortmund vom 04.05.2010 abgeändert. Dem Antragsteller
wird zur Durchführung des erstinstanzlichen einstweiligen
Rechtsschutzverfahrens Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt
Q aus H beigeordnet. Der Antrag auf Bewilligung von
Prozesskostenhilfe für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens im
einstweiligen Rechtsschutzverfahren unter Beiordnung von
Rechtsanwalt Q aus H wird abgelehnt. Kosten sind im
Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe:
1
Hinsichtlich des Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist die Beschwerde des
Antragstellers unabhängig vom Beschwerdewert zulässig. Die Neuregelung des § 172
Abs. 3 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.d.F. des Dritten Gesetzes zur Änderung des
Vierten Sozialgesetzbuches und anderer Gesetze (BGBl I S. 1132), nach der
Beschwerden auch für Entscheidungen über einen Prozesskostenhilfeantrag im
Rahmen des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes ausgeschlossen sind, wenn
in der Hauptsache die Berufung nicht zulässig wäre, wurde im Bundesgesetzblatt vom
10.08.2010 veröffentlicht und trat damit erst in Kraft, nachdem der Antragsteller mit bei
Gericht am 31.05.2010 eingegangenem Schriftsatz vom 27.05.2010 seine Beschwerde
erhoben hat. Eine Rückwirkung wurde vom Gesetzgeber nicht normiert. Die
Beschwerde ist auch begründet. Das Sozialgericht (SG) hat den Antrag auf Bewilligung
von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts zu Unrecht abgelehnt.
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Nach § 73a Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein
Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten
der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag
Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf
Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
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Der Antragsteller ist nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage, die
Kosten der Rechtsverfolgung aufzubringen. Die Rechtsverfolgung bot zum Zeitpunkt der
Antragstellung auch hinreichende Aussicht auf Erfolg.
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Erfolgsaussichten in diesem Sinn bestehen, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt
des Antragstellers aufgrund seiner Sachverhaltsschilderung und der vorliegenden
Unterlagen zumindest für vertretbar erachtet und in tatsächlicher Hinsicht eine
Beweisführung für möglich hält. Dabei muss die Chance, den Prozess zu gewinnen,
mindestens genauso groß sein, wie die, ihn zu verlieren. Dies ist grundsätzlich zu
bejahen, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von einer schwierigen, bisher
ungeklärten Rechtsfrage abhängt oder von Amts wegen weitere Ermittlungen gemäß §
103 SGG durchzuführen sind, bevor die streiterheblichen Fragen abschließend
beantwortet werden können (Bundesverfassungsgericht (BVerfG), NJW 1991, 413 ff;
BVerfG, NJW-RR 2002, 665 ff; Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG NRW),
Beschluss vom 29.06.2009, Az.: L 20 B 6/09 AS; Leitherer in: Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 9. Auflage 2008, § 73a, Rn. 7 ff; Düring
in: Jansen, Kommentar zum SGG, 3. Auflage 2009, § 73a Rn. 12 m.w.N). Dabei ist eine
schwierige Rechtsfrage nicht im Verfahren zur Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu
klären, sondern erst abschließend im Hauptsacheverfahren zu entscheiden (BVerfG,
Entscheidung vom 05.02.2003, Az.: 1 BvL 1526/02, FamRZ 2003, 833; Leitherer in:
Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., § 73 ab, Rn. 7 b m.w.N.); ist die
Rechtsauffassung des Klägers vertretbar, ist daher Prozesskostenhilfe zu gewähren
(Littmann in: Lüdtke, Kommentar zum SGG, 3. Auflage 2009, § 73a, Rn. 13 m.w.N.).
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Gemessen hieran waren die Erfolgsaussichten im vorliegenden Verfahren nicht zu
verneinen. Streitentscheidend war hier die Frage, ob auch in den Fällen, in denen das
Arbeitslosengeld II eines unter 25-jährigen Antragstellers auf die Leistungen für
Unterkunft und Heizung beschränkt werden, die zeitgleiche Entscheidung über
ergänzende Sachleistungen notwendig ist. Diese Rechtsfrage ist noch nicht
abschließend geklärt. Zwar hat das vom SG zitierte LSG Mecklenburg Vorpommern
(Urteil vom 03.08.2009, Az. L 8 B 216/09) die Auffassung vertreten, dass eine solche
Notwendigkeit nicht besteht. Das LSG Mecklenburg Vorpommern hat die Notwendigkeit
aber nicht deswegen verneint, weil die Leistungen für die Unterkunft von der Sanktion
unberührt geblieben sind. Vielmehr hat es seine Entscheidung auf den Gesichtspunkt
gestützt, dass eine von Verfassung wegen gebotene Betrachtung des Einzelfalls nur
dann möglich sei, wenn die Sanktion bereits angelaufen sei und die besonderen
Einzelfälle jedes Sachverhaltes von der Behörde mit in den Blick genommen worden
seien. Es kam daher zu dem Schluss, dass über die Aushändigung von
Warengutscheinen erst sukzessive und während des Laufs der Sanktion entschieden
werden könne (aaO, Rn. 11). Demgegenüber hat der erkennende Senat mit Beschluss
vom 09.09.2009 (Az. L 7 B 211/09 AS ER) entschieden, dass die nach dem Gesetz nur
lose Verknüpfung zwischen der Entscheidung über die Sanktion einerseits und die
Gewährung ergänzender Sachleistungen oder geldwerter Leistungen andererseits in
den Fällen, in denen der Grundsicherungsträger einen vollständigen Wegfall des
Arbeitslosengeldes II verfügt, durch eine verfassungskonforme Auslegung in der Weise
zu reduzieren ist, dass der Grundsicherungsträger mit der Sanktionsentscheidung
zeitgleich auch darüber entscheiden muss, ob im konkreten ergänzende Sachleistungen
oder geldwerte Leistungen zu erbringen sind. Hinsichtlich der Frage, ob dieses
Erfordernis vor dem Hintergrund der verfassungskonformen Auslegung auch dann
besteht, wenn nur die Regelleistung, nicht aber die Kosten für Unterkunft und Heizung,
nicht gewährt werden, liegt noch keine Entscheidung des Senats vor. Zwar hat der
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Senat in seiner Entscheidung vom 17.09.2010 (Az. L 7 B 267/09 AS ER) bei einem
Sachverhalt, in dem nur die Regelleistung abgesenkt und die Kosten für Unterkunft und
Heizung weiter gewährt wurden, die Notwendigkeit einer zeitgleichen Entscheidung
über ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen verneint. Anders als in
dem hier zu entscheidenden Sachverhalt hatte der Antragsteller in dem dortigen
Verfahren das 25. Lebensjahr bereits vollendet und die Regelleistung wurde zudem nur
für einen Monat gemindert.
Hinsichtlich des Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe in dem
Beschwerdeverfahren L 7 AS 947/10 B ER hat der Antrag des Antragstellers keine
hinreichende Aussicht auf Erfolg. Hinsichtlich des Beschlusses im einstweiligen
Rechtsschutzverfahren war die Beschwerde nicht statthaft. Sofern sich die Beschwerde
gegen die Ablehnung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung und die damit
verbundene Kostenentscheidung richtet, ist diese nur statthaft, wenn die angefochtene
Entscheidung die gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG in Verbindung mit § 144 Abs. 1 Satz 1
Nr. 1 SGG erforderliche Höhe von mehr als 750 Euro erreicht. Dies ist hier nicht der Fall.
Gegenstand des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens war nach der Beschränkung der
Sanktion mit Bescheid vom 17.05.2010 auf den Zeitraum vom 01.04.2010 bis
15.05.2010 nur noch die sechswöchige Absenkung der Regelleistung. Die
Regelleistung betrug 323 Euro monatlich. Für den Antragsteller ergab sich somit ein
Sanktionsbetrag in Höhe von insgesamt 484,50 Euro für sechs Wochen.
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Außergerichtliche Kosten sind im Prozesskostenhilfe-Beschwerdeverfahren nicht zu
erstatten (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO).
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Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
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