Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 13.12.1999

LSG NRW: eintritt des versicherungsfalls, rehabilitation, erwerbsfähigkeit, stationäre behandlung, rente, klinik, bad, wartezeit, heilbehandlung, gefährdung

Landessozialgericht NRW, L 16 KR 118/98
Datum:
13.12.1999
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
16. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 16 KR 118/98
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 26 (12) Kr 30/97
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 1 KR 18/00 R
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 10. September 1997 wird
geändert. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 7.735,35 DM zu
zahlen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten um die Erstattung von Kosten einer medizinischen
Rehabilitation, die der klagende Rentenversicherungsträger für einen bei der Beklagten
gegen Krankheit Versicherten aufgewendet hat.
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Der 1941 geborene Wxxxxx Fxxx (F.) war vom 01.04.1956 bis zum 31.12.1980
versicherungspflichtig beschäftigt. Ab dem 01.01.1981 war er als selbständiger
Lebensmittelkaufmann tätig. Nach 1989 und im August 1995 durchgeführten
Coronarangiographien erfolgte am 26.07.1995 eine operative Revascularisation und am
27.10.1995 wurde ein 3-facher aortocoronarer Venenbypass in der Klinik für
Herzchirurgie des Klinikums der P.-Universität M. gelegt.
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Vom 03.11.1995 bis zum 08.12.1995 erfolgte eine Anschlußheilbehandlung in der Herz-
und Kreislauf-Klinik Bad B. Die Beklagte zahlte für diesen Zeitraum Krankengeld. Den
Antrag des F. auf Übernahme der Kosten für letztere Behandlung, den die BfA
zuständigkeitshalber wegen Erfüllung der allgemeinen Wartezeit in der
knappschaftlichen Rentenversicherung der Klägerin übersandt hatte, lehnte letztere mit
Bescheid vom 19.03.1996 ab, weil F. seit dem 01.01.1981 nicht mehr
rentenversicherungspflichtig tätig gewesen sei und auch keine freiwilligen Beiträge
entrichtet habe; die Rehabilitation durch die Rentenversicherung könne aber nur zu dem
Zweck erfolgen, den Versicherten in das Arbeitsleben als Rentenbeitragszahler wieder
einzugliedern. F. legte am 02.04.1996 Widerspruch ein.
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Die Beklagte wies die Klägerin darauf hin, daß die Anspruchsvoraussetzungen für
medizinische Rehabilitationsmaßnahmen und für die Gewährung von Rente wegen
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geminderter Erwerbsfähigkeit nicht identisch seien und daher die Zuständigkeit der
Klägerin gegeben sei.
Mit Bescheid vom 12.06.1996 bewilligte die Klägerin F. für die Zeit vom 03.11. bis
08.12.1995 eine stationäre Behandlung in der Rehabilitationseinrichtung der Herz-
Kreislauf-Klinik Bad B. ohne Zuzahlung unter Rücknahme des Bescheides vom
19.03.1996. Eine Durchschrift dieses Bescheides übersandte sie der Beklagten,
versehen mit einem Aufkleber "Vorleistung", und meldete am 20.11.1996 einen
Erstattungsanspruch in Höhe von 7.735,35 DM (221,01 DM tägliche Pflegekosten für 35
Tage) bei der Beklagten an.
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Am 10.03.1997 hat die Klägerin vor dem Sozialgericht - SG - Dortmund Klage auf
diesen Betrag erhoben.
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Mit Urteil vom 10.09.1997 hat das SG die Klage abgewiesen. Auf die
Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.
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Gegen das ihr am 20.10.1997 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 17.11.1997
Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung eingelegt. Sie hat es als eine
grundsätzlich klärungsbedürftige Rechtsfrage angesehen, ob Rehabilitation durch den
Rentenversicherungsträger zu gewähren ist, unabhängig von dem Anspruch des
Versicherten auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Die Klägerin ist der
Auffassung, daß ihre Einstandspflicht nur in Betracht kommt, wenn der Eintritt von
Berufs- oder Erwerbsfähigkeit drohe, was aber bei einem selbständigen,
Nichtversicherten nicht der Fall sein könnte.
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Nachdem der Senat mit Beschluss vom 26.08.1998 die Berufung zugelassen hat,
beantragt die Klägerin,
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das Urteil des SG Dortmund vom 10.09.1997 abzuändern und die Beklagte zu
verurteilen, an sie 7.735,35 DM zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie ist der Ansicht, die Berufung müsse schon deshalb zurückgewiesen werden, weil
die Klägerin den Widerspruch des F. stattgegeben und damit ihre Leistungspflicht
anerkannt habe, was eine Vorleistung ausschließe. Im übrigen hält sie die
Rechtsauffassung der Beklagten als für unvereinbar mit den gesetzlichen
Bestimmungen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakten der Beteiligten Bezug
genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
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Entscheidungsgründe:
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Die kraft Zulassung statthafte Berufung ist begründet.
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Das SG hat die zulässigerweise als reine Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG) erhobene
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Klage zu Unrecht abgewiesen, denn der Klägerin steht der geltend gemachte
Erstattungsanspruch gemäß § 102 SGB X zu.
Hat ein Leistungsträger aufgrund gesetzlicher Vorschriften vorläufig Sozialleistungen
erbracht, so ist nach § 102 Abs. 1 SGB X der zur Leistung verpflichtete Leistungsträger
erstattungspflichtig. Nach § 6 Abs. 2 Nr. 1 RehaAnglG hat bei ungeklärter Zuständigkeit
des Rehabilitationsträgers in Fällen medizinischer Maßnahmen zur Rehabilitation der
Träger der gesetzlichen Rentenversicherung, bei dem der Behinderte versichert ist, im
übrigen die nach dem Wohnsitz des Behinderten zuständige
Landesversicherungsanstalt vorläufig Leistungen zu erbringen. Allerdings entrichtete F.
im Zeitpunkt der Durchführung der Anschlußheilbehandlung keine Beiträge zur
Klägerin; gleichwohl ist sie als zuständiger Rentenversicherungsträger und F. als bei ihr
versichert im Sinne des § 6 Abs. 2 Nr. 1 RehaAnglG anzusehen, weil in Fällen
ungeklärter Zuständigkeit der Rentenversicherungsträger vorleisten soll, dessen
Leistungspflicht in Betracht kommt (vgl. Verbandskommentar, Anm. 5.2 zu § 6
RehaAnglG). Einstandspflichtig konnten hier aber nur die Klägerin oder die Beklagte
sein.
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Die Klägerin hat entgegen der Auffassung der Beklagten keine endgültigen Leistungen
an F. erbringen wollen, auch wenn eine entsprechende Beschränkung unter Hinweis
auf die Vorläufigkeit der Leistung in dem F. erteilten Abhilfebescheid vom 12.06.1996
nicht enthalten gewesen ist. Durch die gleichzeitige Übersendung einer Abschrift des
Bescheides an die Beklagte, versehen mit dem Aufkleber "Vorleistung", hat sie aber
hinreichend zum Ausdruck gebracht, dass sie weiter an der Leistungspflicht der
Beklagten festhalte und im Verhältnis zu ihr in Vorleistung trete. Eine Verpflichtung der
Klägerin, diesen Hinweis auch dem Leistungsempfänger zu erteilen, besteht nicht -
wenn es auch üblich sein mag -, da dieser ohnehin unabhängig vom Streit der
Beteiligten einem Erstattungsanspruch selbst nicht ausgesetzt werden konnte und sich
für ihn je nach Zuständigkeit des Versicherungsträgers auch keine unterschiedlichen
Leistungsfolgen ergeben konnten, zumal die Beklagte in dem betreffenden Zeitraum
Krankengeld gezahlt hatte.
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Die Klägerin ist nicht der für die streitige Leistung zuständige Rehabilitations-Träger
gewesen. Allerdings hatte F. die versicherungsrechtliche Voraussetzung der Wartezeit
nach § 11 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI von 15 Jahren im Antragszeitpunkt zurückgelegt. Für
Leistungen zur Rehabilitation in der gesetzlichen Rentenversicherung haben
Versicherte die persönlichen Voraussetzungen nach § 10 SGB VI erfüllt,
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1. deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer
Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist und
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2. bei denen voraussichtlich durch die Leistungen a) bei erheblicher Gefährdung der
Erwebsfähigkeit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit abgewendet werden kann, b) bei
geminderter Erwerbsfähigkeit diese wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden
kann oder der Eintritt von Erwerbsunfähigkeit, Berufsunfähigkeit oder im Bergbau
verminderter Berufsfähigkeit abgewendet werden kann. Hieraus ergibt sich jedoch nicht
die Verpflichtung der Beklagten, in jedem Fall drohender oder bereits eingetretener
Erwerbsminderung, Leistungen zur medizinischen Rehabilitation zu gewähren. Diese
Aufgabe hat sie nur in dem Umfang zu übernehmen, soweit ihr eigener
Zuständigkeitsbereich reicht (BSG SozR 3-5765 § 1 Nr. 1 S. 3). Aus dem
Sinnzusammenhang der Regelung des § 10 SGB VI i.V.m. den Bestimmungen der §§ 7
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RehaAnglG und 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VI folgt, dass der Rentenversicherungsträger
Rehabilitationsleistungen mit dem Ziel zu erbringen hat, seine sonstige Einstandspflicht
- Rentenzahlung - abzuwenden (BSG SozR 3-2200 § 1237 Nr. 1 S. 5; BSG, Urt.v.
12.09.1990 - 5 RJ 42/89 - Umdr. S. 7).
Als selbständiger Unternehmer genießt F. keinen Schutz gegen den Versicherungsfall
der Erwerbsunfähigkeit (BSG SozR 3-5765 § 1 Nr. 1 S. 3). Der Eintritt des
Versicherungsfalls der Berufsunfähigkeit in der knappschaftlichen Rentenversicherung
(§ 45 SGB VI) kommt mangels Erfüllung der Pflichtbeitragszeiten in den letzten fünf
Jahren vor der durchgeführten Heilbehandlungsmaßnahme ebenfalls nicht mehr in
Betracht (§ 45 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI); schließlich hat F. auch die Wartezeit bezüglich
einer Rente für Bergleute mit Vollendung des 50. Lebensjahres (§ 45 Abs. 3 Nr. 2 SGB
VI) nicht erfüllt.
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§ 10 Nr. 2 SGB VI verknüpft allerdings den Anspruch auf Leistungen zur medizinischen
Rehabilitation nicht in allen Fällen mit der Abwendung der Rentenzahlungspflicht
wegen geminderter Erwerbsfähigkeit, sondern sieht solche Leistungen auch für den Fall
der Abwendung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit bei erheblicher Gefährdung der
Erwerbsfähigkeit (§ 10 Nr. 2a) sowie der wesentlichen Besserung oder
Wiederherstellung bei bereits geminderter Erwerbsfähigkeit (§ 10 Nr. 2b 1. Alt.) vor.
Diese Regelungen müssen jedoch einschränkend dahin ausgelegt werden, dass nur
solchen Erwerbsminderungen begegnet werden soll, die der zukünftigen Ausübung
einer versicherten Tätigkeit entgegenstehen und mit diesem Ziel vom Rehabilitanden in
Anspruch genommen werden, nicht aber für den hier vorliegenden Fall der
ausschließlich beabsichtigten Fortsetzung der unversicherten selbständigen Tätigkeit.
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Allerdings hat der Gesetzgeber nach entsprechender Diskussion im
Gesetzgebungsverfahren zur Verabschiedung des SGB VI davon Abstand genommen,
die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für den Anspruch auf
Rehabilitationsleistungen und Rente wegen Erwerbsminderung einheitlich zu gestalten
(vgl. Tiedt, DRV 1990, 313, 325).
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Dies ist aber gerade im Hinblick auf den Personenkreis unterblieben, der noch nicht
lange im (Versicherten)Erwerbsleben steht und daher nicht von
Rehabilitationsleistungen ausgegrenzt werden sollte (BT-Drucks. 12/3423 S. 60/61;
Tiedt a.a.O.). Dieser Personenkreis gehört aber anders als selbständige,
nichtversicherte Unternehmer grundsätzlich dem Versicherungssystem an und dessen
Rehabilitation liegt gerade auch im Hinblick auf künftige Beitragszahlungen im Interesse
der Versichertengemeinschaft. Demgegenüber steht der nichtversicherte Selbständige,
der Rehabilitationsleistungen ausschließlich dazu benötigt, seine selbständige Tätigkeit
fortzusetzen, außerhalb dieses Systems und der Einsatz von Leistungen zur
Rehabilitation bewirkt weder die Vermeidung der zukünftigen Einstandspflicht des
Rentenversicherungsträgers noch die Ermöglichung weiterer Beitragsleistungen. Unter
diesen Umständen gleichwohl zu Lasten des Rentenversicherungsträgers die
Rehabilitation des Unternehmers zu bewirken, verstieße daher gegen den schon seit
1957 das Rehabilitationsrecht beherrschenden Grundsatz "Rehabilitation vor Rente"
wie später auch in § 7 RehaAnglG nochmals seinen Ausdruck gefunden hat (vgl. dazu
auch Verbandskommentar, Anm. 2.2 zu § 1236 RVO).
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Da vorliegend keine Anhaltspunkte dafür gegeben sind, dass F. wieder die Aufnahme
einer unselbständigen Tätigkeit und Wiedereingliederung in das versicherte
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Erwerbsleben anstrebte, war vorliegend nicht die Zuständigkeit der Klägerin sondern
der Beklagten nach § 40 Abs. 2 SGB V gegeben.
Dass die Gewährung der durchgefühten Anschlußheilbehandlungsmaßnahme nach
dieser Vorschrift im Ermessen der Beklagten stand, ist für deren Einstandspflicht
unbeachtlich, da die Beklagte jedenfalls keine Gesichtspunkte aufgezeigt hat, die eine
Versagung der Maßnahme hätte rechtfertigen können (vgl. BSG, SozR 1300 § 105 Nr.
1).
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Dies gilt ebenso hinsichtlich der Dauer der Maßnahme, die die nach § 40 Abs. 3 Satz 1
SGB V (ebenso § 15 Abs. 3 Satz 1 SGB VI) bestimmte Regelzeit von drei Wochen
überschritten hat. Nach den gemäß § 102 Abs. 2 SGB X maßgeblichen Bestimmungen
des Erstattungsberechtigten können medizinische Rehaleistungen für einen längeren
Zeitraum erbracht werden, wenn dies erforderlich ist, um das Rehabilitationsziel zu
erreichen (§ 15 Abs. 3 Satz 2 SGB VI). Es sind nach den Befunden, der Schwere des
operativen Eingriffs sowie des Entlassungsberichts der Herz-Kreislauf-Klinik Bad B.
keine Hinweise dafür gegeben, dass die Verlängerung der Anschlußheilbehandlung um
14 Tage nicht in diesem Sinne notwendig gewesen ist, was auch von der Beklagten
nicht geltend gemacht worden ist.
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Schließlich liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Klägerin F. zu Unrecht
von der Zuzahlungspflicht (§ 32 SGB VI) befreit hat.
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Der Erstattungsanspruch der Klägerin ist auch innerhalb der Jahresfrist des § 111 Satz 1
SGB X angemeldet worden, da die hier streitige Leistung eine einheitliche darstellt und
der Lauf der Jahresfrist daher erst mit Ende der Maßnahme im Dezember 1995
beginnen konnte (zum Problem des maßgeblichen Ereignisses für den Fristbeginn vgl.
BSG, Urt. v. 23.02.1999 - B 1 Kr 6/97 R -).
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Das Urteil des SG war demnach abzuändern und die Beklagte antragsgemäß zur
Erstattung der durch die Anschlußheilbehandlungsmaßnahme entstandenen Kosten in
Höhe von 7.735,35 DM zu verpflichten.
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Der Senat hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Angelegenheiten die Revision
zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
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