Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 05.06.2008

LSG NRW: merkblatt, anschrift, grobe fahrlässigkeit, adresse, verfügung, umzug, werktag, wechsel, verwaltungsakt, ortsabwesenheit

Landessozialgericht NRW, L 9 AL 46/07
Datum:
05.06.2008
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
9. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 9 AL 46/07
Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 14 AL 157/05
Sachgebiet:
Arbeitslosenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom
07.02.2007 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die
Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
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Die Klägerin wendet sich gegen die rückwirkende Aufhebung der Bewilligung von
Arbeitslosengeld für die Zeit vom 08.06.2005 bis 18.09.2005.
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Die Klägerin ist von Beruf Pferdewirtin. Sie stand bis zum 31.05.2005 in einem
Arbeitsverhältnis in C. Am 28.04.2005 meldete sie sich bei der Beklagten arbeitslos zum
01.06.2005. Im Antragsformular gab die Klägerin eine Wohnanschrift in C an. Der Antrag
wurde von der Klägerin am 04.08.2005 unterzeichnet und von der Beklagten
angenommen. Am 19.05.2005 fand ein Beratungsgespräch mit einem Mitarbeiter der
Beklagten statt. Im Bewavermerk über dieses Gespräch heißt es wörtlich: "Kümmert sich
intensiv allein über viele Beziehungen um einen neuen Arbeitsplatz. Einschaltung AA
nicht notwendig". Für die Zeit ab dem 08.06.2005 stellte die Klägerin einen
Nachsendeantrag bei der Deutschen Post. Als Grund für die Nachsendung ist im
Antragsformular "Umzug" angekreuzt. Als neue Adresse gab sie die Anschrift "X Weg
00" in I an. Die Klägerin erhielt zunächst von ihrem letzten Arbeitgeber keine
Arbeitsbescheinigung. In diesem Zusammenhang führte sie mit diesem im Juli 2005
Schriftverkehr unter der Adresse in I. Auch eine spätere gerichtliche
Auseinandersetzung im August 2005 fand unter Angabe der Adresse in I statt. Mit
Bescheid vom 31.08.2005 bewilligte die Beklagte der Klägerin Arbeitslosengeld in
Höhe von 17,72 Euro täglich vorläufig ab dem 24.08.2005 für längstens 270 Tage. Nach
Eingang der Arbeitsbescheinigung bewilligte die Beklagte der Klägerin durch Bescheid
vom 09.09.2005 Arbeitslosengeld auch für die Zeit vom 01.06. bis 23.08.2005.
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Am 05.09.2005 und 07.09.2005 erhielt die Beklagte vom Nachsendezentrum der
Deutschen Post die Mitteilung, dass die Klägerin nach I verzogen sei. Zum 01.09.2005
stellte die Beklagte die Zahlung von Arbeitslosengeld ein und informierte die Klägerin
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hierüber mit als "Leistungsnachweis/ Entgeltbescheinigung" bezeichneten Schreiben
vom 07.09.2005 und 09.09.2005. Sie bescheinigte einen Leistungsbezug in Höhe von
141,76 Euro für die Zeit vom 24. bis 31.08.2005 bzw. 1465,78 Euro für die Zeit vom
01.06. bis 23.08.2005. Mit Schreiben vom 08.09.2005 wies die Beklagte die Klägerin
darauf hin, dass infolge ihres Umzugs "an sich" nunmehr die Arbeitsagentur in E örtlich
für die Gewährung von Leistungen bei Arbeitslosigkeit zuständig sei und empfahl der
Klägerin, diese Agentur für Arbeit für zuständig zu erklären.
Mit Schreiben vom 16.09.2005 wandte die Klägerin sich gegen die Einstellung der
Zahlung von Arbeitslosengeld ab dem 01.09.2005. Sie gab an, dass sie nicht nach I
umgezogen sei. Ihr sei vielmehr eine neue Arbeitsstelle auf einem Gestüt in E für den
01.08.2005 angeboten worden. Um sich ein genaueres Bild zu machen, habe sie dort
ein Praktikum absolviert. Da eine Freundin in der Nähe des neuen Arbeitsplatzes
wohne, habe sie vorübergehend bei dieser Freundin übernachtet, um Fahrtkosten zu
sparen. Auf Grund einer zwischenzeitlich festgestellten Schwangerschaft sei ein
Arbeitsvertrag aber nicht zustande gekommen. Um über die eingehende Post in C
informiert zu sein, habe sie einen Nachsendeauftrag gestellt. Ihre Wohnung in C habe
sie erst mit Wirkung vom 16.09.2005 aufgelöst und sei nach L gezogen.
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Am 19.09.2005 meldete sich die Klägerin persönlich bei der für ihren neuen Wohnort L
zuständigen Arbeitsagentur. Diese bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 04.10.2005
vom 19.09.2005 bis 24.09.2005 Arbeitslosengeld. Ab dem 25.09.2005 hatte die Klägerin
aufgrund ihrer Schwangerschaft Anspruch auf Mutterschaftsgeld und ab dem
27.10.2005 auf Erziehungsgeld.
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Am 18.11.2005 erließ die Beklagte einen Widerspruchsbescheid, mit dem sie einen
Widerspruch der Klägerin gegen einen Bescheid vom 07.09.2005 (bzw. in der
Begründung des Bescheides auch als Bescheid vom 08.09.2005 bezeichnet) als
unbegründet zurückwies. Die Klägerin habe nicht sichergestellt, dass die Beklagte sie
an jedem Werktag unter der von ihr benannten Anschrift durch Briefpost erreichen
könne. Deshalb habe sie den Vermittlungsbemühungen ab dem 01.09.2005 nicht zur
Verfügung gestanden. Sie habe keinen Leistungsanspruch und sei nicht arbeitslos im
Sinne des § 118 Abs. 1 SGB III. Etwas anderes ergebe sich auch nicht dadurch, dass
die Klägerin mitgeteilt habe, dass sie nicht umgezogen sei, sondern nur vorübergehend
wegen eines Praktikums bei einer Freundin in I gewohnt habe. Auch dann entfalle zum
einen die Erreichbarkeit, zum anderen habe sie wegen des Praktikums den
Vermittlungsbemühungen nicht zur Verfügung gestanden.
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Die Klägerin hat am 09.12.2005 gegen diesen Bescheid Klage erhoben. Zur
Begründung hat sie vorgetragen, dass bei einem persönlichen Gespräch zwischen ihr
und dem für sie zuständigen Sachbearbeiter am 19.05.2005 vereinbart worden sei, dass
sie sich persönlich um einen neuen Arbeitsplatz bemühen werde und eine Einschaltung
der Beklagten nicht erforderlich sei. Auf dem Arbeitsmarkt für ausgebildete Pferdewirte
sei es üblich, dass freie Arbeitsstellen aufgrund von Beziehungen angetreten würden.
Ihr sei für den 01.08.2005 eine Arbeitsstelle auf dem Gestüt der Frau A in E fest
zugesagt worden. Während der Zeit ihrer Arbeitslosigkeit habe sie ein kostenloses
Praktikum bei diesem Gestüt absolviert. Sie sei insoweit keine vertragliche Bindung
eingegangen und habe diese freiwillige Arbeit jederzeit beenden können. Ein Entgelt
habe sie für diese Tätigkeit nicht erhalten. Sie habe bei ihrer Freundin übernachtet, weil
sie die hohen Benzinkosten für eine fast tägliche Fahrt von C nach E nicht habe
aufbringen können. Ihre Freundin habe sie auch verköstigt. Sie sei auf deren finanzielle
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Hilfe angewiesen gewesen, weil sie wegen der fehlenden Arbeitsbescheinigung zwei
Monate ohne Einkommen gewesen sei. Die Beklagte sei irrtümlich von einem Umzug
und einem neuen Wohnort ausgegangen. Sie habe sich in I nur vorübergehend
aufgehalten. Sie habe einen Nachsendeantrag gestellt, um die in C eingehende Post zu
erhalten.
Die Beklagte hat die Klägerin am 09.02.2006 zu einer Überzahlung von
Arbeitslosengeld ab dem 01.06.2005 angehört. Mit Bescheid vom 09.03.2006 hat die
Beklagte die Bewilligung von Arbeitslosengeld ab dem 01.06.2005 gemäß § 45 Abs. 2
Satz 2 Nr. 3 SGB X zurückgenommen, weil die Klägerin ab diesem Zeitpunkt der
Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung gestanden habe. Die Klägerin habe sich von
ihrem Wohnsitz entfernt und der Beklagten ihre neue Anschrift nicht mitgeteilt. Ihr sei
auch bekannt gewesen, dass die Bewilligung fehlerhaft gewesen sei, weil das
ausgehändigte Merkblatt entsprechende Hinweise enthalten habe. Die Beklagte hat in
diesem Bescheid die Erstattung von Leistungen für den Zeitraum vom 01.06. bis
23.08.2005 in Höhe von insgesamt 1.871,10 EUR (inklusive Kranken- und
Pflegeversicherungsbeiträge) gefordert. Den hiergegen eingelegten Widerspruch hat die
Beklagte mit Bescheid vom 15.05.2006 zurückgewiesen. Die Klägerin hat auch gegen
diesen Widerspruchsbescheid Klage erhoben (Az. S 14 AL 99/06). Das Sozialgericht
hat beide Klageverfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.
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Im Klageverfahren hat die Beklagte unter Hinweis auf eine dienstliche Stellungnahme
des zuständigen Sachbearbeiters darauf verwiesen, dass am 19.05.2005 mit der
Klägerin lediglich abgesprochen worden sei, dass die Beklagte auf weitergehende
Vermittlungsbemühungen durch die Einschaltung anderer Agenturen und des
Fachvermittlungsdienstes in W zunächst verzichte, weil sich die Klägerin aufgrund ihrer
persönlichen Kontakte um eine Stelle bemühen wolle. Sie habe damit nicht aus der
Verfügbarkeit entlassen werden sollen mit der Folge, dass sie auch einen
Wohnortwechsel nicht mitzuteilen brauche. Dies habe sie auch nicht ernsthaft so
verstehen können. Eine bloße Beschäftigungssuche sei nicht mit einem Wechsel des
Wohn- oder Aufenthaltsortes verbunden, falls nicht eben dort ein Praktikum absolviert
werde. Dass die Klägerin monatelang in der Nähe des Gestüts gewohnt habe, bei dem
ihr ein Arbeitsplatz angeboten worden sei, spreche dafür, dass dort auch ein reguläres
Praktikum abgeleistet worden sei.
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In der mündlichen Verhandlung vom 07.02.2007 hat die Beklagte den
Aufhebungsbescheid vom 09.03.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
15.05.2006 dahingehend abgeändert, dass der Aufhebungszeitraum erst ab dem
08.06.2005 beginnt.
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Mit Urteil vom 07.02.2007 hat das Sozialgericht die Klage für die Zeit vom 09.06. bis
18.09.2005 abgewiesen. Die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld für die
Zeit ab dem 08.06.2005 bis einschließlich 18.09.2005 sei rechtmäßig. Die Klägerin
habe ab dem 08.06.2005 der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung gestanden und sei
nicht verfügbar gewesen, weil sie in der Zeit vom 08.06. bis 18.09.2005 nicht unter der
gegenüber der Beklagten angegebenen Anschrift in Borken aufgehalten habe, sondern
in I. Sie habe selbst für die Zeit ab dem 08.06.2005 einen Nachsendeantrag gestellt. Der
längerfristige Aufenthalt der Klägerin in I sei neben ihren eigenen Einlassungen auch
dadurch belegt, dass sie einen Rechtsstreit gegen ihre frühere Arbeitgeberin geführt
habe, in dem sie in der Klageschrift die Anschrift in I angegeben habe. Es gehöre zu den
wesentlichen Obliegenheiten arbeitsloser Leistungsbezieher, der zuständigen
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Arbeitsagentur einen Wohnungswechsel persönlich und unverzüglich anzuzeigen,
weshalb ein Postnachsendeantrag regelmäßig nicht genüge. Die Beklagte sei
berechtigt gewesen, die Arbeitslosengeldbewilligung mit Wirkung für die Vergangenheit
aufzuheben, weil die Leistungsbewilligung auf Angaben beruhe, die die Klägerin
zumindest grob fahrlässig unvollständig gemacht habe. Die Klägerin habe bei ihrer
Arbeitslosmeldung am 28. April 2005 als Anschrift ihre Wohnung in Borken angegeben.
Sie habe es unterlassen, die Beklagte über den Wechsel ihres Aufenthaltsortes zu
informieren. Auch bei Abgabe des Arbeitslosengeldantrags am 04.08.2005 habe die
Klägerin über ihren veränderten Aufenthaltsstatus keine Angaben gemacht. Aufgrund
des allgemeinen Merkblatts für Arbeitslose, dessen Erhalt die Klägerin unterschriftlich
bestätigt habe, habe ihr die Bedeutung des tatsächlichen Wohn- bzw. Aufenthaltsorts
eines Arbeitslosen für die Arbeitsvermittlung bekannt sein müssen. Auch aus dem
Vermerk über das Beratungsgespräch am 19.05.2005 ergebe sich nicht, dass auf
zutreffende Angaben hinsichtlich des tatsächlichen Aufenthaltsorts verzichtet werde. Es
sei grob fahrlässig, wenn die Klägerin dies angenommen hat, weil sie auf
Vermittlungvorschläge verzichtet habe. Das Merkblatt enthalte den ausdrücklichen
Hinweis, dass jede Ortsabwesenheit vorher von der Beklagten zu genehmigen sei.
Leistungen seien von der Klägerin für die Zeit vom 08.06. bis einschließlich 18.09.2005
zu erstatten. Da die Beklagte Arbeitslosengeld nur bis zum 31.08.2005 gezahlt habe,
seien von der Klägerin nur die Beträge für die Zeit vom 08.06. bis 31.08.2005 zurück zu
zahlen. Die Beklagte habe bisher für die Zeit ab dem 24.08.2005 keine gesonderte
Erstattung geltend gemacht. Durch die rechtmäßige Aufhebung auch für diesen
Leistungszeitraum sei sie dazu aber berechtigt. Die Gesamterstattungsforderung in
Höhe von insgesamt 1.871,10 Euro, die auch die für den Aufhebungszeitraum
entrichteten Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung umfasse, bleibe auch nach
Änderung des Beginns des Aufhebungszeitraums rechtmäßig.
Gegen das am 25.04.2007 zugestellte Urteil richtet sich die am 25.04.2007 eingelegte
Berufung. Die Klägerin trägt vor, dass die konkrete mündliche Belehrung durch den
zuständigen Sachbearbeiter der allgemeinen Rechtsbelehrung durch ein Merkblatt
vorgehe. Es sei lebensfremd, wenn das Sozialgericht davon ausgehe, dass die Klägerin
aus der Vereinbarung nicht den Schluss habe ziehen dürfen, dass auf die zutreffenden
Angaben hinsichtlich des Aufenthaltsortes verzichtet werde. Zumindest sei eine
entsprechende Bewertung durch die Klägerin nicht als grob fahrlässig anzusehen.
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Im Termin zur mündlichen Verhandlung, zu dem die Klägerin mit dem Hinweis geladen
worden ist, dass auch im Falle ihres Nichterscheinens verhandelt und entschieden
werden könne, ist die Klägerin nicht erschienen. Sie war in diesem Termin auch nicht
vertreten.
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Die Klägerin und Berufungsklägerin beantragt schriftsätzlich,
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das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 07.02.2007 sowie den Widerspruchsbescheid
vom 18.11.2005 und den Bescheid vom 09.03.2006 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 19.05.2006 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen,
ihr Arbeitslosengeld für die Zeit vom 01. bis einschließlich 18.09.2005 zu zahlen.
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Die Beklagte und Berufungsbeklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie hält die angefochtene Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach - und Streitstandes wird auf den Inhalt
der Gerichtsakten sowie der Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen, die
Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
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Entscheidungsgründe:
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Der Senat konnte gemäß §§ 153 Abs. 1, 110 Abs. 1 Satz 2, § 126 SGG die Streitsache
im Termin in Abwesenheit der Klägerin und ihres Prozessbevollmächtigten entscheiden.
Diese Möglichkeit besteht auch bei Anordnung des persönlichen Erscheinens der
Klägerin (Leitherer in Meyer-Ladewig, SGG, 8. Auflage, 2005, Rn. 6 d zu § 111 SGG),
das vorliegend nur deswegen erfolgt war, um ihr die Richtigkeit der Aufhebung der
Leistungsbewilligung durch die Beklagte zu erläutern. Die Klägerin ist mit der Ladung
auch auf diese Möglichkeit hingewiesen worden.
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Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
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Rechtsgrundlage für eine Rücknahme der Bescheide vom 31.08.2005 und 09.09.2005
mit Wirkung für die Vergangenheit ist § 45 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 und Nr. 3, Abs. 4 SGB X, i.
V. m. § 330 Abs. 2 SGB III. Nach § 45 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2, Abs. 4 SGB X ist ein
rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit
zurückzunehmen, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte
vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig
gemacht hat. Nach § 45 Abs. 2 Satz Nr. 3 SGB X ist der Verwaltungsakt
zurückzunehmen, wenn der Begünstigte die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes
kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Diese Voraussetzungen liegen
vor.
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Die Bescheide waren bereits zum Zeitpunkt ihres Erlasses rechtswidrig, weil die
Voraussetzungen für den Bezug von Arbeitslosengeld weder zum Zeitpunkt der
Erteilung des Bescheides am 31.08.2005 für die Zeit ab dem 24.08.2005 noch zum
Zeitpunkt der Erteilung des Bescheides vom 09.09.2005 für die Zeit vom 08.06.2005 bis
zum 23.08.2005 vorgelegen haben. Die Klägerin war ab dem 08.06.2005 nicht mehr
arbeitslos.
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Wer arbeitslos ist, hat bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen nach § 118 Abs. 1
SGB III (Meldung bei der Agentur für Arbeit und Erfüllung der Anwartschaftszeit)
Anspruch auf Arbeitslosengeld. Arbeitslos ist nach § 119 Abs 1 SGB III ein
Arbeitnehmer, der 1. vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht
(Beschäftigungslosigkeit) und 2. sich bemüht, seine Beschäftigungslosigkeit zu
beenden (Eigenbemühungen) und 3. den Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes
zur Verfügung steht (Verfügbarkeit). Den Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes
steht gemäß § 119 Abs. 5 SGB III zur Verfügung, wer u. a. eine versicherungspflichtige,
mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende zumutbare Beschäftigung unter den
üblichen Bedingungen des für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmaktes ausüben kann
und darf (Nr. 1) und Vorschlägen der Agentur für Arbeit zur beruflichen Eingliederung
zeit- und ortsnah Folge leisten kann (Nr. 2).
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Die Klägerin war nicht arbeitslos. Sie war nicht im Sinne von § 119 Abs. 1 Nr. 3 SGB III
verfügbar, weil sie nicht den Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes zur Verfügung
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stand.
Der Verwaltungsrat der Beklagten hat durch die Erreichsbarkeitanordnung (EAO)
Näheres über die Pflichten des Arbeitslosen bestimmt (§ 152 Abs. 2 SGB III i. V. m. §
376 Abs. 1 Satz 1 SGB III). Nach § 1 Abs. 1 EAO kann ein Arbeitsloser Vorschlägen der
Beklagten zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten, wenn er in der
Lage ist, unverzüglich 1. Mitteilungen der Agentur für Arbeit persönlich zur Kenntnis zu
nehmen, 2. die Agentur für Arbeit aufzusuchen, 3. mit einem möglichen Arbeitgeber oder
Träger einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme in Verbindung zu treten und bei
Bedarf persönlich mit diesem zusammenzutreffen und 4. eine vorgeschlagene Arbeit
anzunehmen oder an einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme teilzunehmen.
Deshalb muss der Arbeitslose sicherstellen, dass die Beklagte ihn persönlich an jedem
Werktag an seinem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt unter der von ihm
genannten Anschrift (Wohnung) durch Briefpost erreichen kann, § 1 Abs. 1 Satz 2 EAO.
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Diese Voraussetzungen waren bei der Klägerin ab dem 08.06.2005 nicht mehr erfüllt.
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Es bestehen für den Senat keine Zweifel daran, dass die Klägerin sich dauerhaft nicht in
C aufgehalten und damit unter der der Beklagten mitgeteilten Adresse nicht an jedem
Werktag per Briefpost zu erreichen war. Eine andere Schlussfolgerung lässt sich aus
der Erteilung des Nachsendeauftrages mit erfolgter Markierung des Kästchens "Umzug"
nicht ziehen. Die Klägerin hat bislang auch keine andere nachvollziehbare Erklärung für
die Erteilung des Nachsendeauftrags geliefert. Auch der Umstand, dass die Klägerin im
fraglichen Zeitraum Schriftverkehr und sogar eine gerichtliche Auseinandersetzungen
unter der Anschrift in I geführt hat, lässt keinen anderen Schluss zu als den, dass sich
die Klägerin dauerhaft nicht unter ihrer Anschrift in C aufgehalten hat.
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Ihre Verfügbarkeit konnte die Klägerin auch nicht durch die Erteilung des
Postnachsendeauftrages aufrecht erhalten. Die Stellung eines Nachsendeauftrag reicht
grundsätzlich nicht aus, um eine Verfügbarkeit bejahen zu können. Dies gilt selbst dann,
wenn sich aus dem Nachsendeantrag keine zeitliche Verzögerung ergibt. Denn die
Voraussetzungen der Leistungen wegen Arbeitslosigkeit sollen nicht von den
Zufälligkeiten der Postzustellung abhängig sein, sondern beruhen vielmehr auf der
Möglichkeit des persönlichen Kontaktes unter der dem Arbeitsamt mitgeteilten Adresse
(BSG, Urt. v. 09.08.2001, Az. B 11 AL 17/01 R; Urt. v. 30.06.2005, Az. B 7a/7 AL 98/04
R).
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Die Beklagte durfte die Bescheide auch mit Wirkung für die Vergangenheit
zurücknehmen, weil die rechtswidrigen Bewilligungsbescheide vom 31.08.2005 und
09.09.2005 auf Angaben beruhen, die die Klägerin vorsätzlich oder grob fahrlässig in
wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (§ 45 Abs. 2 Satz 2
Nr. 2, Abs. 4 SGB X, i. V. m. § 330 Abs. 2 SGB III). Der aktiven Angabe von Umständen
steht das Verschweigen von Umständen gleich, wenn eine Mitteilungspflicht nach § 60
Abs. 1 Nr. 1 SGB I deshalb bestand, weil die Umstände für die fragliche Leistung
rechtlich erheblich waren und dies dem Betroffenen auch bekannt war oder sein musste
(Schütze in von Wulffen, SGB X, 6. Aufl., § 45 Rn. 49).
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Es bestand für die Klägerin eine Verpflichtung, ihren Umzug bzw. ihre längerfristige
Abwesenheit von der der Beklagten mitgeteilten Wohnadresse mitzuteilen. Die Pflicht
zur Mitteilung der Änderung des Aufenthaltsortes ergibt sich schon aus der allgemeinen
Mitwirkungsverpflichtung nach § 60 SGB I. Danach hat derjenige, der Sozialleistungen
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erhält, alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich sind. Insbesondere hat
er Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind, unverzüglich
mitzuteilen (§ 60 Abs. 1 Nr. 2 SGB I). Ein solch maßgebliches Ereignis ist die Änderung
des Aufenthaltsortes, weil sie Auswirkungen auf die Bewilligung des Arbeitslosengeldes
haben kann und auf Grund dieser möglichen Auswirkungen einer Prüfung durch die
Beklagte zugänglich gemacht werden muss. Darüber hinaus ist diese Obliegenheit von
der Beklagten auch dadurch konkretisiert worden, dass sie der Klägerin ein Merkblatt für
Arbeitslose ausgehändigt hat, dessen Erhalt und Kenntnis diese in ihrem Antrag mit
ihrer Unterschrift am 04.08.2005 bestätigt hat. Das Merkblatt enthält die
unmissverständliche Aufforderung, dass jeder Wechsel des Aufenthaltsortes der
Beklagten sofort mitzuteilen ist (Abschnitt 2.5 "Umzug/ Ortsabwesenheit"). Das Merkblatt
enthält zudem den Hinweis, dass eine Zustimmung des Arbeitsvermittlers bereits dann
erforderlich ist, wenn der Leistungsempfänger an einem Werktag ganztags unter der der
Agentur bekannten Adresse nicht zu erreichen ist. Auch im Abschnitt 8.2 "Mitwirkungs-
und Mitteilungspflicht" wird darauf hingewiesen, dass die Agentur für Arbeit sofort zu
benachrichtigen ist wenn der Leistungsempfänger seinen Wohnort verlässt (Nr. 8) oder
sich die Anschrift ändert (Nr. 9).
Das Unterlassen der Mitteilung ihrer Ortsabwesenheit ist der Klägerin auch vorwerfbar,
weil sie zumindest grob fahrlässig gehandelt hat. Die Nichtbeachtung eines
nachweislich ausgehändigten und zur Kenntnis genommenen Merkblattes zu einem
konkreten Leistungstatbestand begründet im Allgemeinen grobe Fahrlässigkeit, wenn
dieses so abgefasst war, dass der Begünstigte seinen Inhalt unter Berücksichtigung der
Verhältnisse im Einzelfall ohne weiteres erkennen konnte (BSG, Urt. v. 24.04.1997, Az.
11 RAr 89/96).
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Es sind keine Umstände ersichtlich, auf Grund derer es der Klägerin unter
Berücksichtigung ihres individuellen Verständnishorizontes nicht möglich gewesen ist,
den Inhalt des Merkblattes zu verstehen. Die Klägerin kann sich auch nicht darauf
berufen, dass sie mit ihrem Sachbearbeiter am 19.05.2005 vereinbart habe, dass sie
den Anforderungen der Verfügbarkeit nicht mehr genügen müsse und infolge dessen
auch nicht verpflichtet gewesen sei, einen Wechsel ihres Aufenthaltsortes mitzuteilen.
Ein solcher Verzicht lässt sich der Absprache nicht entnehmen. Im aktenkundigen
Vermerk über das Beratungsgespräch findet sich lediglich die Bemerkung, dass die
Einschaltung des Arbeitsamtes "nicht notwendig" sei. Dies ist offenbar vor dem
Hintergrund erfolgt, dass es im erlernten Beruf der Klägerin möglicherweise üblich ist,
dass neue Arbeitsstellen auf Grund von persönlichen Beziehungen angetreten werden.
Die Klägerin durfte dieser Absprache aber nicht entnehmen, dass die Verfügbarkeits-
und Mitteilungspflichten für sie insgesamt nicht mehr gelten würden. Zumal unter
Berücksichtigung des Merkblattes stellt sich eine solche Annahme als grob fahrlässig
dar. Denn das Merkblatt enthielt nicht nur mehrfach den Hinweis auf die Verpflichtung,
jeden Ortswechsel mitzuteilen (s.o.). Darüber hinaus konnte die Klägerin dem Merkblatt
außerdem entnehmen, dass die Vermittlungsbemühungen nicht auf die bisherige
Tätigkeit bzw. die Tätigkeit, in der die Ausbildung absolviert wurde, beschränkt sind
(Abschnitt 2.5 " Verfügbar sein"). Schon deswegen konnte die Vereinbarung mit dem
Sachbearbeiter auch von der Klägerin nur so verstanden werden, dass lediglich
Bemühungen im Ausbildungsberuf der Klägerin von Seiten des Arbeitsamtes
vorgenommen werden sollten. Etwas anderes trägt auch die Klägerin nicht vor, da sich
ihre Beziehungen und Bemühungen ja nur auf den Markt der Pferdepfleger bezogen
haben. Zudem ergibt sich aus dem Merkblatt, dass eine Verfügbarkeit neben der
Aufnahme einer Beschäftigung auch dazu dient, Vorschlägen zur Teilnahme an
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Maßnahmen der beruflichen Eingliederung nachzukommen. Einen Ausschluß solcher
Maßnahmen enthält der Vermerk ebenfalls nicht, da er nur auf die fehlende
Notwendigkeit von Vermittlungsbemühungen abstellt. Vor allem aber stellt das Merkblatt
klar, dass in erster Linie immer der Arbeitslose selbst gefordert ist, seine
Beschäftigungslosigkeit zu beenden und der Arbeitsvermittler lediglich bei der Suche
und Auswahl möglicher Eigenbemühungen beratend und unterstützend tätig wird
(Abschnitt 2.4 "Eigenbemühungen unternehmen"). Gerade auf Grund dieses Hinweises
durfte die Klägerin nicht davon ausgehen, dass allein auf Grund ihrer grundsätzlich von
jedem Arbeitslosen geforderten Eigenbemühungen die Verfügbarkeitsanforderungen für
sie nicht mehr gelten sollten.
Unabhängig davon kann sich die Klägerin zumindest für die Zeit ab Antragsabgabe am
04.08.2005 auf den Ausschluss von Vermittlungsbemühungen von Seiten des
Arbeitsamtes ohnehin nicht mehr berufen. Denn zu diesem Zeitpunkt war die Grundlage
für diese Absprache entfallen, weil die Klägerin nach ihren Angaben eine Tätigkeit auf
dem Arbeitsmarkt als Pferdewirtin auf Grund ihrer Schwangerschaft nicht mehr
verrichten konnte.
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Die Beklagte durfte die Bescheide darüber hinaus auch mit Wirkung für die
Vergangenheit zurücknehmen, weil die Klägerin die Rechtswidrigkeit des
Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (§ 45 Abs. 2
Satz 2 Nr. 3, Abs. 4 SGB X, i. V. m. § 330 Abs. 2 SGB III). Die Klägerin musste die
Rechtswidrigkeit der Bewilligungsbescheide erkennen. Dem ihr am 28.04.2005
ausgehändigten Merkblatt konnte die Klägerin die Bedeutung des Aufenthaltsortes für
die Leistungsbewilligung erkennen. Da die Klägerin eine entsprechende Unterrichtung
der Beklagten Anfang Juni unterlassen hat, musste ihr bewusst sein, dass ihr das
Arbeitslosengeld zu Unrecht bewilligt wurde, weil sie sich nicht unter der von ihr
angegebenen Adresse aufhielt und damit die Voraussetzungen für den Bezug von
Arbeitslosengeld ab diesem Zeitpunkt nicht mehr vorlagen. Sofern sie dies nicht getan
hat, beruht dies ebenso wie das Unterlassen der Mitteilung ihrer Ortsabwesenheit auf
grober Fahrlässigkeit.
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Eine Ermessensausübung der Beklagten war nicht erforderlich, da nach § 330 Abs. 3
SGB III ein Verwaltungsakt stets mit Wirkung vom Zeitpunkt der Veränderung der
Verhältnisse aufzuheben ist, wenn die in § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X genannten
Voraussetzungen für die Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung
vorliegen. Die Bewilligung war daher ab dem 08.06.2005 aufzuheben.
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Nach § 50 Abs. 1 SGB X hat die Klägerin die überzahlten Beträge zu erstatten. Bei der
Errechnung des genauen Erstattungsbeitrages wird die Beklagte zu beachten haben,
dass der im Bescheid vom 09.03.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
15.05.2006 geltend gemachte Erstattungsbetrag in Höhe von 1871,10 Euro noch um
das für die Zeit vom 01.06.2006 bis zum 07.06.2006 gezahlte Arbeitslosengeld sowie
die für diesen Zeitraum geleisteten Beiträge für die Kranken- und Pflegeversicherung zu
reduzieren ist. Denn in den genannten Bescheiden hat die Beklagte die Erstattung - im
Gegensatz zu der auch über den 23.08.2006 hinaus erfolgten Rücknahme der
Bewilligungsbescheide - ausdrücklich auf die Zeit vom 01.06.2006 bis zum 23.08.2005
beschränkt. Eine Erstattung für die Zeit vom 01.06.2006 bis zum 08.06.2006 kann die
Beklagte auf Grund des Teilanerkenntnisses vom 07.02.2007, mit den sie die
Rücknahme der Arbeitslosengeldbewilligung auf die Zeit ab dem 08.06.2006
beschränkt hat, aber nicht mehr verlangen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn.
1 und 2 SGG).
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