Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 15.10.1996
LSG NRW: ärztliche untersuchung, belastung, zahl, berufskrankheit, merkblatt, konkretisierung, alter, entschädigung, anteil, verordnung
Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Vorinstanz:
Sachgebiet:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Rechtskraft:
Landessozialgericht NRW, L 5 U 34/96
15.10.1996
Landessozialgericht NRW
5. Senat
Urteil
L 5 U 34/96
Sozialgericht Gelsenkirchen, S 13 (10) U 67/95
Unfallversicherung
rechtskräftig
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts
Gelsenkirchen vom 20.06.1996 aufgehoben. Die Sache wird an das
Sozialgericht zurückverwiesen. Die Kostenentscheidung bleibt der
Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten.
Tatbestand:
Streitig ist die Entschädigung einer Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO.
Der 1946 geborene Kläger türkischer Staatsangehörigkeit war von 1961 bis 1966 nach
seinen Angaben ohne Arbeit, leistete vom 23.09.1966 bis 23.09.1968 Wehrdienst, war
anschließend bis zum 28.08.1969 arbeitslos, vom 14.10.1969 bis zum 28.06.1971 Maurer
in Frankreich, vom 13.07. bis 15.10.1971 Kühlschrankmonteur, Prüfer und
Maschinenarbeiter, vom 18.10.1971 bis 03.11.1972 Hilfsarbeiter und Schlosser, vom
13.11.1972 bis zum 06.10.1973 Autogenschweißer, vom 11.10.1973 bis zum 30.11.1974
Maschinenarbeiter (Schleifen an der Schleifmaschine) und vom 03.06.1975 bis zum
30.09.1993 Arbeiter bei der O. AG in Bochum. Er war vom 12.12.1989 bis zum 16.01.1990
wegen Lumbalsyndrom, vom 09.02. bis 30.03.1993 wegen LWS-Syndrom, Ischialgie und
Verdacht auf Bandscheibenschaden sowie ab 30.12.1993 wegen LWS-Syndrom
arbeitsunfähig. Zur Begründung seines Antrags auf Entschädigung seines
Wirbelsäulenleidens als BK Nr. 2108 (2/94) gab der Kläger an, allein während seiner Zeit
bei der O. AG schädigenden Einwirkungen ausgesetzt gewesen zu sein. Er habe ca. 50 kg
schwere Kisten auf Wagen aufgeladen und den Inhalt an die Arbeiter verteilt, danach die
Arbeiter während ihrer Pausen am Band abgelöst. Die ca. 50 kg schweren Kisten seien mit
Schrauben, Stangen, Kabeln und Getriebeteilen gefüllt und auf Wagen gestapelt gewesen,
bevor der Inhalt an die Arbeiter verteilt worden sei. Ab 30.03.1993 habe er
wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten unter lassen. Auf der Grundlage der BK-Anzeige von
Dr. (Univ. R. ) D. , der Angaben der O. AG, der Untersuchung und Beurteilung des
Technischen Aufsichtsdienstes sowie der Stellungnahme des Staatlichen Gewerbearztes
lehnte die Beklagte den Antrag ab, da die arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht erfüllt
gewesen seien (Bescheid vom 07.11.1994; zurückweisender Widerspruchsbescheid vom
17.02.1995).
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Zur Begründung seiner Klage zum SG Gelsenkirchen hat der Kläger vorgetragen, die
Materialkisten hätten nicht nur durchschnittlich 15 bis 30 kg, sondern 40 bis 50 kg gewogen
und er habe die Materialkisten in der überwiegenden Zahl der Arbeitsschichten häufiger als
nur ca. zehnmal pro Schicht getragen.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 07.11.1994 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 17.02.1995 zu verurteilen, die Berufskrankheit Nr. 2108
anzuerkennen und Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu
gewähren.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat die Zeugen Y. und U. uneidlich vernommen und die Klage abgewiesen
(Urteil vom 20.06.1996), da nicht erwiesen sei, daß eine langjährige, d.h. zehnjährige
Hebe-, Trage- oder Rumpfbeugebelastung vorgelegen habe, die schwer gewesen sei, was
bei Männern im Alter zwischen 10 und 39 Jahren das Tragen von Gewichten von
mindestens 25 kg und bei einem Alter von 40 Jahren Gewichten von mindestens 20 kg
bedeute oder Arbeiten im Rumpfbeugewinkel von mehr als 90 Grad und was zusätzlich
erfordere, daß es sich um eine überdurchschnittliche Belastung gehandelt habe im Sinne
eines mindestens dreißigprozentigen Anteils pro Schicht in der überwiegenden Zahl der
Arbeitsschichten.
Zur Begründung seiner Berufung trägt der Kläger vor, er habe die 40 bis 50 kg schweren
Materialkisten immer wieder heben müssen, entsprechend einer vierstündigen Belastung
durch Heben und Tragen.
Die Prozeßbevollmächtigte des Klägers beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur weiteren Sachaufklärung an das
Sozialgericht zurückzuverweisen, hilfsweise, das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen
vom 20.06.1969 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom
07.11.1994 und 17.02.1995 zu verurteilen, dem Kläger wegen der Berufskrankheit Nr. 2108
der Anlage 1 zur BKVO Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu
gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Für die Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist im Sinne der Zurückverweisung (§ 159 SGG) begründet. Das
Interesse am Erhalt einer Instanz überwiegt das Interesse an der Prozeßökonomie. Das
Verfahren vor dem SG leidet an einem wesentlichen Mangel, da es die
Amtsermittlungspflicht verletzt hat (§ 159 Abs. 1 Nr. 2 und § 103 SGG). Das SG hat zur
Konkretisierung der Voraussetzungen der Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur
BKVO den medizinischen Erfahrungssatz zugrundegelegt, das langjährige Heben oder
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Tragen schwerer Lasten setze ein mehr als zehnjähriges Heben oder Tragen von
Gewichten ab 25 kg bei Männern im Alter zwischen 10 und 39 Jahren und von wenigstens
20 kg bei Männern ab dem vollendeten 40. Lebensjahr sowie eine überdurchschnittliche
Belastung, mindestens 30 % Anteil pro Schicht in der überwiegenden Zahl der
Arbeitsschichten voraus. Aus welchen Quellen das SG diesen Erfahrungssatz abgeleitet
hat, ist nicht ersichtlich. Das Gericht hat weder Beweis durch Sachverständige erhoben
noch eine eigene besondere Sachkunde und deren Gründe dargelegt. Der Senat vermag
nicht ohne eingehende weitere Ermittlungen über die Sache zu entscheiden.
Bei seiner Entscheidung wird das SG folgendes zu beachten haben: Zur Auslegung der
unbestimmten Rechtsbegriffe "langjährig" und "schwere Lasten" kann nicht
unberücksichtigt bleiben, daß der Verordnungsgeber bewußt unbestimmte Rechtsbegriffe
verwendet hat, um die Berücksichtigung neuerer medizinischer Kenntnisse nach Erlaß der
Norm im Rahmen ihrer Konkretisierung zu ermöglichen (vgl. hierzu auch BSG, Beschluss
vom 31.05.1996, 2 BU 237/95, S. 4 f.). Im Hinblick darauf und unter Berücksichtigung des
von 551 Abs. 1 RVO vorgegebenen Zwecks der Verordnung, Krankheiten als
Berufskrankheit zu bezeichnen, die nach Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft
durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch
ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind, wird
das Sozialgericht unter Berücksichtigung der Gesetzesmaterialien (Bundesratsdrucksache
773/92) und medizinischen Sachverstands nicht nur zu ermitteln haben, welche
Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft den Verordnungsgeber geleitet haben,
sondern auch, ob und welche medizinischen Erfahrungssätze seit Erlaß der zweiten
Änderungsverordnung sich zur Konkretisierung der Begriffe "langjährig" und "schwere
Lasten" entwickelt haben. Ergänzend ist das Merkblatt für die ärztliche Untersuchung des
Bundesministers für Arbeit heranzuziehen (vgl. Bundesarbeitsblatt 3/1993, S. 50). Es stellt
selbst aber keine verbindliche, im Range der Verordnung stehende Erläuterung dar,
sondern gibt lediglich Hinweise für die Beurteilung von möglichen Zusammen hängen aus
arbeitsmedizinischer Sicht und wendet sich in erster Linie an die Ärzteschaft als wertvolles
Hilfsmittel für das Erkennen von Berufskrankheiten (vgl. LSG NW, BG 1964, S. 375; HVBG,
VB Rundschreiben 7/93 vom 08.01.1993, S. 5, m.w.N.). Das SG wird zu berücksichtigen
haben, daß dem genannten Merkblatt ein medizinischer Erfahrungssatz, wie ihn das SG
zugrundegelegt hat, nicht zu entnehmen ist. Es beschränkt sich (a.a.O., IV) lediglich auf die
Wiedergabe von Anhaltspunkten für den Begriff "schwere Lasten", differenziert nach
Geschlecht und Altersgruppen (u.a. Männer von 18 bis 39 Jahren und ab 40 Jahre) mit der
Einschränkung, daß die Werte für Lastgewichte gelten, die eng am Körper getragen
werden, verknüpft mit dem Hinweis, daß bei weit vom Körper entfernt getragenen
Gewichten auch geringere Last gewichte mit einem Risiko für die Entwicklung von
bandscheibenbedingten Erkrankungen der Wirbelsäule verbunden sein können. Der
Begriff "Anhaltspunkte" ist dabei bewußt zurückhaltend formuliert, um weiteren
Differenzierungskriterien wie etwa dem jeweiligen Konstitutionstyp, der Größe und dem
Gewicht gegenüber offen zu sein. Der Berücksichtigung der unterschiedlichen
Körperhaltungen bei der Qualifikation einer Last als "schwer" entspricht die Erkenntnis des
Verordnungsgebers (a.a.O., S. 7), daß Rumpfbeuge- und Verdrehungshaltungen als
zusätzliche Risikofaktoren für mechanische Schädigungen des Bandscheibengewebes zu
bewerten sind.
Im Rahmen der Konkretisierung des Begriffs "langjährig" wird das SG zu beachten haben,
daß nach dem o.g. Merkblatt nicht eine starre Grenze von 10 Berufsjahren mit
entsprechender Exposition gefordert werden kann, sondern in begründeten Einzelfällen es
möglich ist, daß bereits eine kürzere, aber intensivere Belastung eine
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bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule verursachen kann.
Expositionszeiten mit dem Heben und Tragen schwerer Lasten sowie Zeiten mit Arbeiten in
extremer Rumpfbeugehaltung können danach für die Berechnung der
Gesamtexpositionsdauer addiert werden, auch unterbrochene Tätigkeiten sind dabei zu
berücksichtigen. Eine überdurchschnittliche Belastung von mindestens 30 % Anteil pro
Schicht in der über wiegenden Zahl der Arbeitsschichten verlangt das Merkblatt nicht. Es
fordert - auch insoweit nur als ergänzender Anhaltspunkt -, daß die Lastgewichte mit einer
gewissen Regelmäßigkeit und Häufigkeit in der überwiegenden Zahl der Arbeitsschichten
gehoben oder getragen worden sind, um als Ursache von bandscheibenbedingten
Erkrankungen der Lendenwirbelsäule in Frage zu kommen. Beispielhaft nennt es
Untersuchungen, nach denen Schwesternhelferinnen zu ca. 12 % der Schicht Arbeiten mit
Heben oder Tragen von schweren Lasten zu verrichten hatten, sowie Stahlbetonarbeiter,
die ca. vierzigmal pro Schicht Gewichte von mehr als 20 kg zu heben oder zu tragen hatten.
Im Hinblick auf die, wie dargelegt, zu konkretisierenden Anforderungen an die Exposition
wird das SG - ggf. unter Einbeziehung des Technischen Aufsichtsdienstes der Beklagten
oder von Sachverständigen - aufzuklären haben, in welcher Körperhaltung der Kläger
welche Gewichte mit welcher Häufigkeit regelmäßig gehoben und getragen hat und ggf.
(vgl. oben), welche spezifischen Konstitutionsmerkmale der Kläger aufweist.
Einzubeziehen sind auch die Tätigkeiten als Maurer in Frankreich, unabhängig von der
nicht fachkundigen Eigeneinschätzung des Klägers. Schließlich wird das Sozialgericht
unter Nutzung medizinischen Sachverstands abzuklären haben, ob aufgrund eines
spezifischen Schädigungsmusters an der Lendenwirbelsäule auf das langjährige Heben
und Tragen schwerer Lasten zurückgeschlossen werden kann. Sollte sich danach ergeben,
daß der Kläger bei versicherter Tätigkeit langjährig schwere Lasten gehoben oder getragen
hat, wird das Sozialgericht aufgrund eingehender medizinischer Aufklärung unter
Würdigung aller zu erhebenden Vorbefunde und sachverständiger Begutachtung
abzuklären haben, ob zumindest mit Wahrscheinlichkeit wesentlich mitbedingt durch die
genannte Exposition es zu bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule
gekommen ist, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die
Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich
waren oder sein können.
Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).