Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 31.08.1999
LSG NRW: rollstuhl, versorgung, spina bifida, innere medizin, krankenversicherung, behinderung, fahrrad, skoliose, gebrauchsgegenstand, kreis
Landessozialgericht NRW, L 5 KR 58/99
Datum:
31.08.1999
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
5. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 5 KR 58/99
Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 9 KR 137/97
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 3 B 29/99 KR R
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln
vom 11.05.1999 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die
außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch im Berufungsverfahren.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, die Klägerin mit einem
handbetriebenen Rollstuhleinhängefahrrad zu versorgen.
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Die 19 ... geborene Klägerin ist bei der Beklagten krankenversichert. Die die Klägerin
behandelnde Fachärztin für innere Medizin Dr. F. verordnete unter dem 12.09.1996 ein
Rollstuhleinhängefahrrad. Diese Verordnung wurde damit begründet, daß die Klägerin
seit ihrer Geburt an einer Spina bifida leide. Infolgedessen bestehe eine
Querschnittslähmung mit kompletter schlaffer Parese beider Beine. Außerdem bestehe
eine erhebliche Skoliose. Durch die permanent gebeugte Haltung im Rollstuhl bestehe
eine progrediente Fehlhaltung der Wirbelsäule. Schließlich würde durch die Versorgung
mit einem Rollstuhleinhängefahrrad dem Grundbedürfnis der Klägerin Rechnung
getragen, Entfernungen, die ein nicht Behinderter zu Fuß zurücklege, überhaupt
absolvieren zu können.
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Es wurde ein Kostenvoranschlag vom 21.10.1996 vorgelegt, der für ein
Rollstuhleinhängefahrrad nebst diverser Zusatzausstattung einen Endbetrag von
insgesamt 7.324,86 DM ausweist.
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Die Beklagte holte ein MDK-Gutachten ein. Dr. G. führte unter dem 17.12.1996 aus,
durch das verordnete Rollstuhleinhängefahrrad könne es zu keinem zusätzlichen
Behinderungsausgleich kommen. Die ausgefallene Gehfunktion sei im Sinne von § 33
SGB V durch den vorhandenen Rollstuhl ausreichend ausgeglichen.
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Mit Bescheid vom 27.01.1997 lehnte es die Beklagte demgemäß ab, die Klägerin mit
einem Rollstuhleinhängefahrrad zu versorgen.
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Am 06.03.1997 erhob die Klägerin mit der Begründung Widerspruch, ein herkömmlicher
Rollstuhl sei bei ihr nicht als Ausgleich für die ausgefallene Gehfunktion anzusehen,
weil es durch den Gebrauch dieses Hilfsmittels immer wieder zu Beschwerden im
Schulter- und Halswirbelbereich komme. Das Bundessozialgericht habe bereits
entschieden, daß zwischen dem durch einen Selbstfahrerrollstuhl regelmäßig eröffneten
Freiraum und den Entfernungen, die ein Gesunder bzw. nicht Behinderter zu Fuß
zurücklege, eine Lücke bestehe, die ebenfalls noch den Grundbedürfnissen
zuzurechnen sei.
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Die Beklagte veranlaßte ein weiteres MDK-Gutachten. Unter dem 28.07.1997 führte
Frau Dr. P. aus, außer durch den bereits vorhandenen Rollstuhl werde die bei der
Klägerin bestehende Behinderung durch einen behindertengerecht umgebauten Pkw
ausgeglichen.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 06.10.1997 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Zur Begründung wurde ausgeführt, dem von der Klägerin erwähnten Urteil des
Bundessozialgerichts habe ein anderer Sachverhalt zugrunde gelegen. In jenem Falle
sei es um die Versorgung mit einer Rollstuhl-Fahrrad-Kombination gegangen, bei der
der Rollstuhl in ein Fahrrad ohne Vorderrad eingehängt werde und die Funktion des
fehlenden Vorderrades übernehme. Eine Hilfsperson auf dem Sattel des Fahrrades
treibe die Konstruktion an und lenke sie. Bei diesem Gerät handele es sich dann um ein
Hilfsmittel im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung, wenn der Versicherte nicht
in der Lage sei, einen manuell betriebenen Rollstuhl oder einen Elektrorollstuhl zu
bedienen.
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Am 17.10.1997 hat die Klägerin Klage erhoben. Zur Begründung legte sie eine
Stellungnahme von Dr. C., Kinderkrankenhaus der Stadt K., vom 04.05.1998 vor, auf die
genauso Bezug genommen wird wie auf eine von der Klägerin außerdem vorgelegte
Bescheinigung von Dr. M.-St., Chefarzt der W.-W.-Klinik, Zentrum für
Wirbelsäulenchirurgie "Deutsches Skoliose-Zentrum", vom 26.05.1998. Darüber hinaus
stützte sich die Klägerin auf ein Urteil des Bundessozialgerichts vom 16.04.1998, Az. B
3 KR 9/97 R. In jenem Falle sei entschieden worden, daß ein querschnittsgelähmter
Versicherter von der Krankenkasse die Versorgung mit einem handbetriebenen
Rollstuhleinhängefahrrad verlangen könne. Ob ein Rollstuhleinhängefahrrad
gleichzeitig die Funktion eines Fahrrades erfülle, könne dahingestellt bleiben. Die
Klägerin erkläre nämlich ihre Bereitschaft, gemäß der Argumentation des
Bundessozialgerichts in seinem Urteil vom 16.04.1998 einen Eigenanteil in Höhe von
700,-- DM zu leisten.
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Die Klägerin hat beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 27.01.1997 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 06.10.1997 zu verurteilen, der Klägerin ein Rollstuhl-Bike
zu gewähren.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie führte zur Begründung aus, das von der Klägerin erwähnte Urteil des
Bundessozialgerichts vom 16.04.1998 sei auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar.
In jenem Falle sei lediglich entschieden worden, daß ein Rollstuhleinhängefahrrad als
Hilfsmittel im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung anzusehen sei, weil es bei
einem Kind bzw. Jugendlichen umfassend zur Integration in den Kreis etwa
gleichaltriger Kinder und Jugendlicher beitrage. Diese Integration in den Kreis
Gleichaltriger habe das Bundessozialgericht als allgemeines Grundbedürfnis
angesehen. Ob auch bei einem erwachsenen Versicherten, der seinen Rollstuhl im
üblichen Umfang mit den Händen bewegen könne, der durch ein
Rollstuhleinhängefahrrad eröffnete größere Bewegungsfreiraum noch zu den
allgemeinen Grundbedürfnissen zähle, habe das Bundessozialgericht aber ausdrücklich
offen gelassen. Zwar bestehe zwischen dem durch einen manuell betriebenen Rollstuhl
regelmäßig eröffneten Freiraum und den Entfernungen, die ein Gesunder vor allem im
ländlichen Bereich zu Fuß zurücklege, eine Lücke; genauso wie mit einem
Rollstuhleinhängefahrrad könne diese Lücke jedoch mit einem Rollstuhl mit
Hebelmechanik geschlossen werden.
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Mit Urteil vom 11.05.1999 hat das Sozialgericht der Klage mit der Begründung
stattgegeben, die Versorgung mit einem Rollstuhleinhängefahrrad erweitere den
Bewegungsfreiraum der Klägerin wesentlich. Der bereits vorhandene manuell zu
betreibende Rollstuhl sei zum Zurücklegen größerer Entfernungen nicht geeignet.
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Gegen das ihr am 17.06.1999 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 06.07.1999
Berufung eingelegt. Zur Begründung wird ergänzend vorgetragen, es könne nicht
Aufgabe der Krankenversicherung sein, die Gehbehinderung der Klägerin in allen
Entfernungen/Lebensbereichen auszugleichen. Auch ältere Versicherte oder
Versicherte mit geringfügigeren Behinderungen, für die ein Krankenfahrstuhl (noch)
nicht benötigt werde, könnten anspruchsvollere Strecken oder längere Wege nicht zu
Fuß zurücklegen. Dies bedeute jedoch nicht, daß die gesetzliche Krankenversicherung
hierfür einen Ausgleich schaffen müsse. Es stelle sich nach wie vor die Frage, ob es
Aufgabe der Krankenversicherung sei, eine Gehbehinderung in einem Maße bzw. für
eine Entfernung auszugleichen, die auch von nicht Behinderten nicht zu Fuß
zurückgelegt werden könne.
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Die Beklagte beantragt,
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unter Änderung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie bezieht sich auf ihre bisherigen Ausführungen sowie auf das angefochtene Urteil
des Sozialgerichts.
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Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten
wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten, die
Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat der Klage zu Recht
stattgegeben. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig.
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Die Klägerin hat einen Anspruch auf Versorgung mit einem Rollstuhleinhängefahrrad
aus § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Danach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit
Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die
im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder
eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine
Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V
ausgeschlossen sind.
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Ein Ausschluss gemäß § 34 Abs. 4 SGB V liegt offensichtlich nicht vor; da auch keiner
der Beteiligten diese Auffassung vertritt, erübrigen sich weitere Ausführungen hierzu.
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Ferner handelt es sich bei dem begehrten Rollstuhleinhängefahrrad nicht um einen
allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Hierzu gehören nur solche
Gegenstände, die allgemein im täglichen Leben verwendet, d.h. üblicherweise von einer
großen Zahl von Personen regelmäßig benutzt werden. Das ist bei einem
Rollstuhleinhängefahrrad nicht der Fall, weil dieses Gerät bauartbedingt nur in der
Kombination mit einem Rollstuhl benutzt werden kann. Es kommt mithin für Gesunde
nicht in Betracht. Daß es seiner Funktion nach einem Fahrrad vergleichbar ist, das auch
von Gesunden benutzt zu werden pflegt, ist rechtlich unerheblich, weil es allein auf die
besondere bauartbedingte Funktion ankommt (vgl. ebenso zur Fahrrad-Rollstuhl-
Kombination bzw. zum Rollstuhlboy bzw. zum Rollfiets BSG, Urteil vom 08.06.1994, Az.
3/1 RK 13/93 = SozR 3-2500 § 33 Nr. 7 und zum Rollstuhleinhängefahrrad bzw.
Rollstuhl-Bike BSG, Urteil vom 16.04.1998, Az. B 3 KR 9/97 R = SozR 3-2500 § 33 Nr.
27).
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Schließlich ist das von der Klägerin begehrte Rollstuhleinhängefahrrad erforderlich im
Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGG V. Sie benötigt dieses Hilfsmittel zwecks Ausgleichs
ihrer Behinderung. Zu einer solchen Behinderung zählen primär die ausgefallenen
natürlichen Funktionen (vgl. etwa BSGE 37, 138, 141). Es kann dahingestellt bleiben,
ob es für einen Ausgleich der bei der Klägerin nicht mehr bestehenden Funktion der
Beine ausreicht, daß sie einen manuell betriebenen Rollstuhl mit Hilfe ihrer oberen
Extremitäten fortbewegen kann. Jedenfalls sind Teil der auszugleichenden Behinderung
ferner auch weitergehende Folgen, soweit diese lebensnotwendige Grundbedürfnisse
betreffen. Ein solches lebensnotwendiges Grundbedürfnis stellt im vorliegenden Falle
ein hinreichender körperlicher Freiraum dar (vgl. in diesem rechtlichen Zusammenhang
etwa BSG SozR 2200 § 182 b Nr. 34; SozR 3-2500 § 33 Nr. 7).
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Bei der Schaffung eines hinreichenden körperlichen Freiraumes ist als Zielvorgabe
derjenige eines Gesunden maßgebend. Dies folgt letztlich aus einer Interpretation des §
27 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Nach dieser Vorschrift haben Versicherte Anspruch auf
Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen,
ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die
Krankenbehandlung umfaßt u.a. die Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und
Hilfsmitteln, § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V. Vor diesem rechtlichen Hintergrund ist kein
vernünftiges Argument dafür ersichtlich, einem gehbehinderten Versicherten ein
geringeres lebensnotwendiges Grundbedürfnis nach einem körperlichen Freiraum
zuzugestehen als einem nicht Gehbehinderten.
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Überträgt man diese rechtlichen Kriterien auf den vorliegenden Fall, so kann im Sinne
des Wirtschaftlichkeitsgebots des § 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V allein ein
Rollstuhleinhängefahrrad das Mittel der Wahl sein. Es verschafft der Klägerin einen viel
weiteren körperlichen Freiraum als bei einer Versorgung durch den vorhandenen
Rollstuhl, aber auch durch den von der Beklagten mit Rücksicht auf die Skoliose
angebotenen Handhebelrollstuhl. Dies folgt daraus, daß ein Rollstuhleinhängefahrrad
dank mehrstufiger Schaltung durch Handkurbeln viel leichter angetrieben werden kann.
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Dabei sieht der Senat die über die bloße Gehunfähigkeit hinausgehenden
Gesundheitsstörungen der Klägerin - z.B. Kombination von kongenitaler und
Lähmungsskoliose, Blasen- und Mastdarmlähmung - als unerheblich für die
Beantwortung der Frage der Hilfsmittelversorgung an. Unter Berücksichtigung der
konkreten Betreuungssituation im vorliegende Falle (zum Erfordernis der individuellen
Bedarfsprüfung bei der Hilfsmittelversorgung vgl. etwa BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 7)
zeigt sich nämlich bereits in allgemeinkundiger Weise, daß die Kraft der Klägerin nicht
dazu auseichen würde, sowohl per manuell betriebenem Rollstuhl als auch per
Handhebelrollstuhl in der hügeligen Gegend, in der die Klägerin wohnt, nennenswerte
Strecken allein zurücklegen zu können. Von daher hat die Klägerin schon in
quantitativer Hinsicht zumindest ein allgemeines Grundbedürfnis nach einem
körperlichen Freiraum, der in der Regel durch einen handbetriebenen Rollstuhl in
ebenem Gelände eröffnet wird, so daß es insoweit auch in diesem Falle auf sich
beruhen kann, ob zwischen dem durch einen manuell betriebenen Rollstuhl regelmäßig
eröffneten Freiraum und den Entfernungen, die ein Gesunder auch bei eingeschränktem
Gesundheitszustand vor allem im ländlichen Bereich zu Fuß zurücklegt, eine Lücke
besteht, die ebenfalls noch den Grundbedürfnissen zuzurechnen ist (vgl. in diesem
Zusammenhang das eine solche Bedarfslücke wohl bejahende obiter dictum im Urteil
des BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 7).
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Demgegenüber vermag der Senat die Auffassung der Beklagten, wonach die Klägerin
für das Zurücklegen von Wegstrecken außerhalb ihrer Wohnung mit dem vorhandenen
behindertengerecht ausgestatteten Auto ausreichend versorgt sein soll, nicht zu teilen
(vgl. im Sinne der Beklagten ebenso die nicht bzw. nicht hinreichend - so
Landessozialgericht Baden-Württemberg - nach quantitativem und qualitativem Aspekt
des Grundbedürfnisses eines körperlichen Freiraumes differenzierenden Urteile des
Bayerischen LSG vom 17.09.1998, Az. L 4 KR 96/96, beim BSG anhängig unter Az. B 3
KR 10/99 R, LSG Baden-Württemberg vom 22.01.1999, Az. L 4 KR 291/98, beim BSG
anhängig unter Az. B 3 KR 2/99 R, und LSG für das Saarland vom 02.03.1999, Az. L 2 K
24/97, beim BSG anhängig unter Az. B 3 KR 13/99 R). Anders als das
Landessozialgericht Niedersachsen in einem obiter dictum seines rechtskräftig
gewordenen Urteils vom 27.05.1998, Az. L 4 KR 235/96, hält der Senat etwaige
Beschwernisse beim Ein- und Aussteigen während der Benutzung eines
behindertengerecht ausgestatteten Autos mit Rücksicht auf eine wegen des
Wirtschaftlichkeitsgebots gemäß § 12 SGB V nicht zu erfolgende Optimalversorgung
allerdings für unerheblich. Indessen birgt das Grundbedürfnis eines körperlichen
Freiraumes in für die Hilfsmittelversorgung relevanter Weise außer dem quantitativen
einen qualitativen Aspekt, dem die Beklagte nicht hinreichend Rechnung getragen hat.
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Dieser qualitative Aspekt des Grundbedürfnisses eines körperlichen Freiraumes besteht
in der Möglichkeit des unmittelbaren körperlichen Fortbewegens mit all seinen audio-
visuellen und kommunikativen Möglichkeiten. Der Qualität einer solchen körperlichen
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Fortbewegung vermag ein nur mittelbares Fortbewegen im Auto bei weitem nicht
gerecht zu werden. Darüber hinaus hat die Klägerin im Verhandlungstermin in genauso
glaubhafter wie für den Senat anschaulichen Weise dargestellt, mit welchen Defiziten
die Benutzung ihres behindertengerecht ausgestatteten Autos für ihre körperliche
Fortbewegung behaftet ist. Dabei stellen sich der Klägerin unüberwindbare Hindernisse
etwa beim Aufsuchen von Geschäften, Arztpraxen, Fußgängerzonen in den Weg, die sie
in den Fällen nicht vorhandener ortsnaher Parkplätze auch nicht durch die Benutzung
sowohl des bereits vorhandenen Rollstuhls als auch des von der Beklagten
angebotenen Handhebelrollstuhls, sondern nur unter Zuhilfenahme des begehrten
Rollstuhleinhängefahrrades zu überwinden in der Lage ist.
Der Beklagten ist immerhin zuzugeben, daß die Klägerin durch die Versorgung mit
einem Rollstuhleinhängefahrrad in die Lage versetzt werden wird, solche Entfernungen
zurückzulegen, die auch von nicht Behinderten nicht zu Fuß zurückgelegt werden
können oder zumindest auf bequemere Weise unter Zuhilfenahme eines Fahrrades
absolviert werden. In diesem Zusammenhang ist dem Rollstuhleinhängefahrrad eine
gewisse Doppelfunktion - Ausgleich der Gehbehinderung/Fahrrad - eigen. Dieser die
Hilfsmittelversorgung gleichsam überschießenden Doppelfunktion wird jedoch
Rechnung getragen, indem die Beklagte nicht gehindert sein wird, von der Klägerin den
sogar von deren Seite freiwillig erbotenen Eigenanteil zu verlangen. Unter dem
Gesichtspunkt ersparter Aufwendungen kann vom Versicherten nämlich eine
Eigenbeteiligung dann verlangt werden, wenn anzunehmen ist, daß er ohne die
Behinderung einen allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens - hier
Fahrrad - angeschafft hätte. Dabei geht der Senat davon aus, daß ein solcher
Eigenanteil auch derzeit noch bei 700,-- DM liegen dürfte (vgl. hierzu ebenso BSG SozR
3-2500 § 33 Nr. 27).
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Der Senat weicht mit seiner Entscheidung nicht von der höchstrichterlichen
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ab, weil eine dieser Entscheidung
entgegenstehende Rechtsprechung ersichtlicher weise nicht vorhanden ist. Das Urteil
des Bundessozialgerichts vom 06.08.1998, Az. B 3 KR 14/97 R (= SozR 3-2500 § 33 Nr.
29) verhält sich gerade nicht zu der streitbefangenen, sondern in spiegelbildlicher Weise
zu der ganz anders gelagerten Problematik, ob eine behindertengerechte Ausstattung
eines Kraftfahrzeuges ein Hilfsmittel im Sinne von § 33 SGB V sein kann. Im übrigen hat
das Bundessozialgericht in diesem Urteil immerhin Stellung dahin bezogen, daß es
beim Grundbedürfnis eines körperlichen Freiraumes nur um einen Basisausgleich einer
nicht vorhandenen Gehfähigkeit gehen kann, so daß ein "vollständiges Gleichziehen mit
den letztlich unbegrenzten Mobilitätsmöglichkeiten" eines gesunden Versicherten als
Zielvorgabe der Hilfsmittelversorgung nicht in Betracht kommen kann. Im vorliegenden
Falle geht es indessen lediglich um eine uneingeschränkte - mit Ausnahme der oben
erwähnten Doppelfunktion, für die die Beklagte einen Eigenanteil verlangen darf - dem
Basisausgleich der Organfunktion des Gehens dienende Hilfsmittelversorgung.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
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Die Zulassung der Revision folgt aus § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG. Die vom Senat zu
beantwortende Rechtsfrage der Reichweite des allgemeinen Grundbedürfnisses nach
körperlichem Freiraum eines erwachsenen Versicherten ist bislang höchstrichterlich
noch nicht geklärt und hat grundsätzliche Bedeutung.
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