Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 24.10.2003
LSG NRW: vergleichbare leistung, soziale sicherheit, niederlande, eugh, erwerbstätigkeit, diskriminierung, verordnung, arbeitnehmereigenschaft, freizügigkeit, beschäftigungslandprinzip
Landessozialgericht NRW, L 13 EG 17/01
Datum:
24.10.2003
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
13. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 13 EG 17/01
Vorinstanz:
Sozialgericht Münster, S 3 EG 3/00
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 10 EG 1/04 R
Sachgebiet:
Kindergeld-/Erziehungsgeldrecht
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Münster
vom 18. Juli 2001 geändert. Das beklagte Land wird unter Aufhebung
des Bescheides vom 10.09.1999 und des Widerspruchsbescheides vom
29.11.1999 verurteilt, der Klägerin für das erste Lebensjahr ihres am
00.00.1999 geborenen Sohnes D Erziehungsgeld zu gewähren. Das
beklagte Land trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden
Rechtszügen. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Klägerin begehrt Erziehungsgeld für ihren Sohn D.
2
Die Klägerin und ihre Familie sind niederländische Staatsangehörige mit Wohnsitz in
der Niederlanden. Nach der Geburt von D am 00.00.1999 war die Klägerin ab dem
19.4.1999 mit einer Wochenarbeitszeit von 16 Stunden in den Niederlanden beschäftigt.
Ihr Ehemann ist Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland. Die Klägerin hat in
den Niederlanden für 16 Wochen Wochengeld erhalten, welches dem deutschen
Mutterschaftsgeld vergleichbar ist. Eine dem deutschen Erziehungsgeld vergleichbare
Familienleistung existiert in den Niederlanden nicht.
3
Am 15.07.1999 beantragte die Klägerin in Deutschland Erziehungsgeld. Das beklagte
Land lehnte diesen Antrag durch Bescheid vom 10.09.1999 (Widerspruchsbescheid
vom 29.11.1999) ab: Da die Klägerin ein Arbeitsverhältnis in den Niederlanden
habe,unterliege sie gemäß Art. 13 VO 1408/71 EG ausschließlich den
Rechtsvorschriften ihres Beschäftigungslandes. Ein Anspruch auf deutsches
Erziehungsgeld sei damit ausgeschlossen.
4
Mit der zum Sozialgericht Münster erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren
weiter verfolgt. Zur Begründung hat sie ausgeführt: Art. 13 der VO 1408/71 EG stehe
ihrem Anspruch nicht entgegen, denn sie leite ihren Anspruch auf die Familienleistung
5
Erziehungsgeld gem. Art. 73 der VO 1408/71 EG über ihren Ehemann ab, der in
Deutschland beschäftigter Arbeitnehmer und Grenzgänger sei und deshalb gem. Art. 13
der VO 1408/71 EG den deutschen Rechtsvorschriften unterliege. Ihre 16-Wochen-
stündige Beschäftigung schließe nach dem Bundeserziehungsgeldgesetz
(BErzGG)einen Erziehungsgeldanspruch nicht aus. Die Versagung von Erziehungsgeld
stelle eine versteckte Diskriminierung aufgrund des Beschäftigungslandes Niederlande
dar, denn bei einer Arbeit im demselben Umfang in der Bundesrepublik Deutschland
bestünde Anspruch auf Erziehungsgeld nach dem BErzGG.
Das Sozialgericht hat die Klage durch Urteil vom 18.07.2001 abgewiesen und zur
Begründung ausgeführt: Als in den Niederlanden beschäftigte Arbeitnehmerin
unterliege die Klägerin nach Art.13 der VO 1408/71 EG ausschließlich den
Rechtsvorschriften der Niederlande. Sie könne daher keinen über ihren Ehemann
ableiteten Anspruch auf deutsches Erziehungsgeld haben.
6
Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin, zu deren Begründung sie ihr Vorbringen
aus dem Klageverfahren wiederholt und ergänzend darauf hinweist, dass der
Europäische Gerichtshof (EuGH) bereits mit dem Urteil in der Sache N (C-119/91)
entschieden habe, dass der Grundsatz des Artikel 13 der VO 1408/71 EG, wonach ein
Arbeitnehmer den Rechtsvorschriften nur des Beschäftigungsstaates unterliege, nicht
ausschließe, dass für einzelne Leistungen besondere Vorschriften der VO 1408/71 EG
gelten. Ihr Anspruch sei daher nur nach den Antikumulierungs- vorschriften des Art. 16
VO 1408/71 EG und Art. 10 VO 574/72 EG zu beurteilen.
7
Die Klägerin beantragt,
8
das Urteil des Soziagerichts Münster vom 18.07.2001 zu ändern, den Bescheid vom
10.09.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.11.1999 aufzuheben
und das beklagte Land zu verurteilen, ihr Erziehungsgeld für das erste Lebensjahr des
am 18.01.1999 geborenen D dem Grunde nach zu bewilligen.
9
Das beklagte Land beantragt,
10
die Berufung zurückzuweisen.
11
Es hält das angefochtene Urteil und seine Bescheide für rechtmäßig. Für den hier
gegebenen Fall, dass neben dem über den Ehemann abgeleiteten Anspruch auf
Erziehungsgeld ein originärer Anspruch gegenüber den Niederlanden als Wohn- und
Beschäftigungsort der Klägerin bestehe, treffe Art. 13 VO Nr.1408/71 EG in Abs. 1 und
Abs. 2 Buchst. a)die eindeutige Anordnung, dass ausschließlich die Rechtsvorschriften
der Niederlande gelten könnten. Ansprüche gegen einen anderen EU/EWR - Staat
träten hinter dem eigenen Anspruch stets zurück. Die Antikumulierungsvorschriften
kämen also nicht zur Anwendung.
12
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Streitakten und der Verwaltungsakten des beklagten Landes, der Gegenstand der
mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
13
Entscheidungsgründe:
14
Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet.
15
Entgegen der Auffassung des Sozialgericht sind die angefochtenen Bescheide
rechtswidrig. Die Klägerin hat dem Grunde nach (§ 130 Abs. 1 Satz 1 1.Alternative SGG)
Anspruch auf deutsches Erziehungsgeld für das erste Lebensjahr ihres Sohnes D.
16
Die Klägerin erfüllt zwar unmittelbar und allein in ihrer Person nicht die
Voraussetzungen für einen Anspruch auf deutsches Erziehungsgeld. Sie hat aber auf
Grund der VO 1408/71 EG über ihren Ehemann Anspruch auf deutsches
Erziehungsgeld nach dem BErzGG, das hier in der vom 1.8.1998 bis 31.12.2000
geltenden Fassung (BErzGG a.F.) anwendbar ist. Der Ehemann der Klägerin als in der
Bundesrepublik Deutschland beschäftigter Arbeitnehmer im Sinne der Vorschriften der
VO 1408/71 EG über Familienleistungen vermittelt nämlich die Anwendbarkeit des
deutschen Erziehungsgeldrechts.
17
Nach der Rechtssprechung des EUGH (v. 10.10.1996 Rs. C-245 u.312/94 (Hoever und
Zachow))handelt es sich beim deutschen Erziehungsgeld um eine Familienleistung im
Sinne der VO 1408/71 EG. Freizügigkeitsbedingt gelangt das BErzGG über die
Arbeitnehmerstellung des Wanderarbeitnehmers zur Anwendung. Dieser wiederum
muss nicht die eigentlichen Anspruchsvoraussetzungen erfüllen. Er vermittelt lediglich
nach Art. 13 II Lit. a VO 1408/71 EG die Geltung des Gesetzes; über Art. 73 VO 1408/71
erhält dann dessen Familienangehöriger die Möglichkeit, die eigentlichen
Anspruchsvoraussetzungen zu erfüllen. Man kann also von einer auf zwei Personen
aufgespaltenen und kumulativ zu berücksichtigenden Erfüllung der
Anspruchsvoraussetzung sprechen(vgl. Becker, "Erziehungsgeld und
Gemeinschaftsrecht" in: SGb 1998, 553,558). Wegen des besonderen Charakters des
Erziehungsgeldes als Familienleistung ist deshalb nicht entscheidend, dass die Person,
die die Arbeitnehmereigenschaft erfüllt und die Anwendung der Verordnung vermittelt
und die Person, die das Kind erzieht, verschieden sind.
18
Danach ergibt sich dem Grunde nach ein Anspruch der Klägerin auf deutsches
Erziehungsgeld, weil ihr Ehemann Arbeitnehmer in Deutschland ist und sie selbst die
eigentlichen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt. Sie lebt mit D, für den ihr die
Personensorge zusteht, in einem Haushalt, betreut und erzieht dieses Kind selbst und
übt keine volle Erwerbstätigkeit (§ 2 BErzGG) aus. Dass die Familie in den
Niederlanden lebt, kann dem Anspruch nicht entgegengehalten werden. Der Wohnsitz
in den Niederlanden steht gemäß Art. 73 VO 1408/71 EG dem inländischen Wohnsitz
gleich(vgl. EuGH a.a.O. und BSG SozR 3-7833 § 8 Nr. 4).
19
Nach den aktenkundigen maßgeblichen Einkommensverhältnissen ergibt sich unter
Anwendung des § 6 BErzGG ein Zahlungsanspruch. Das von der Klägerin bezogene
niederländische Wochengeld schließt das deutsche Erziehungsgeld nicht aus, auch
wenn man es- wie des beklagte Land- für eine diesem vergleichbare Leistung hielte
(vgl. bei Becker, "Die Koordinierung von Familienleistungen - Praktische und rechtliche
Fragen der Anwendung der VO 1408/71" in: Schulte/ Barwig, "Freizügigkeit und Soziale
Sicherheit" S. 191, 225). Es ist vielmehr zur Vermeidung einer verdeckten
Diskriminierung lediglich anzurechen, weil es dem deutschen Mutterschaftsgeld
entspricht, welches nach § 7 BErzGG auf das Erziehungsgeld angerechnet wird. Andere
Familienleistungen, die nach Art. 10 der VO 574/72 EG oder Art.76 der VO 1408/71 EG
Priorität vor dem deutschen Erziehungsgeld haben könnten, existieren in den
Niederlanden nicht, wie die Ermittlungen des beklagten Landes ergeben haben.
20
Entgegen der Ansicht des beklagten Landes und des SG schließt der Umstand, dass
die Klägerin in den Niederlanden beschäftigt ist, den Anspruch auf deutsches
Erziehungsgeld hier nicht gemäß Art. 13 VO 1408/71 EG aus.
21
Gemäß Art. 13 Abs. 1 der VO 1408/71 EG unterliegen Personen, für die diese
Verordnung gilt, vorbehaltlich der Art. 14 c und 14 f, den Rechtsvorschriften nur eines
Mitgliedstaates. Die Art. 14 c und 14 f greifen hier nicht ein. Anzuwenden ist daher
grundsätzlich Art. 13 Abs. 2 in dessen Nr. 1 es heißt: Eine Person, die im Gebiet eines
Mitgliedstaates abhängig beschäftigt ist (hier: für die Klägerin die Niederlande) unterliegt
den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines
anderen Mitgliedstaates wohnt oder ihr Arbeitgeber oder das Unternehmen, das sie
beschäftigt, seinen Wohnsitz oder Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates
hat.
22
Die Klägerin ist Arbeitnehmerin in den Niederlanden, gleichwohl beruft sich das
beklagte Land zu Unrecht auf Art. 13 VO 1408/71 EG, denn die Anwendbarkeit der
Vorschriften des Erziehungsgeld- gesetzes wird hier über den Ehemann der Klägerin
vermittelt.
23
Das beklagte Land verweist zwar zutreffend darauf, dass es Ziel der genannten
Vorschrift ist, die betroffenen Personen dem System eines einzigen Mitgliedstaates zu
zuordnen. Das Beschäftigungslandprinzip wird aber in den Antikumulierungs-
vorschriften partiell durchbrochen(vgl. bei Haverkarte, Europäisches Sozialrecht S.221
Rdnr.345). Wenn etwa neben dem Anspruch des Arbeitnehmers auf Familienleistungen
im Beschäftigungsland ( z.B. Deutschland) ein zusätzlicher Anspruch auf
Familienleistungen im Wohnstaat des Familienangehörigen entsteht, weil z.B. der
Ehegatte des(Wander-) arbeitnehmers dort ebenfalls berufstätig ist, versteht es sich von
selbst, dass mit Hilfe der Antikumulierungsvorschriften einerseits ein Doppelbezug
ausgeschlossen werden muss und andererseits gewährleistet werden muss, dass die
im Ergebnis günstigste Leistung zur Auszahlung gelangt. In dem oben gebildeten
Beispiel würde Art. 13 VO 1408/71 EG sicher auch vom Standpunkt des beklagten
Landes ein Anspruch des Arbeitnehmers auf deutsches Erziehungsgeld nicht nach der
Kollisionsregelung des Art. 13 VO 1408/71 EG ausgeschlossen sein, weil zwei
Rechtssubjekte betroffen sind und diese unterschiedlichen Sozialsystemen zugeordnet
werden können. Das kann zur Überzeugung des Senats im Ergebnis auch vorliegend
nicht anders sein. Denn auch der Erziehungsgeldanspruch der Klägerin knüpft an die
Beschäftigung des Ehemannes in Deutschland an, sodass es auf dessen Zuordnung
nach Art. 13 VO 1408/71 EG ankommen muss und die von der durch die Beschäftigung
der Klägerin bedingte Zuordnung zum niederländischen Sozialsystem unberührt bleiben
muss. Anders ließe sich hier nicht realisieren, dass es nach der Rechtsprechung des
EuGH ohne Bedeutung sein soll, welcher Elternteil die Familienleistung Erziehungsgeld
in Anspruch nehmen will. Der Qualifizierung des Erziehungsgeldes als Familienleistung
(s. o.) würde es nicht gerecht werden, wenn ein über die Arbeitnehmereigenschaft des
Ehemannes begründeter Anspruch auf eine Familienleistung wegen einer nach dem
Maßstab des BErzGG nicht vollen Erwerbstätigkeit der Ehefrau im EG-Ausland
ausgeschlossen würde.
24
Zudem ist die typische mit Hilfe von Art 13 VO 1408/71 EG zu regelnde Kollision
zwischen dem Recht des Beschäftigungslandes und dem Recht des Wohnsitzlandes
hier nicht gegeben. Wohnsitz und Beschäftigung der Klägerin liegen beide in den
Niederlanden. Es geht hier vielmehr letztlich darum, dass es zwei
25
Beschäftigungsländer, das des Ehemannes-Deutschland- und das der Klägerin-
Niederlande - gibt. Art 13 VO EG 1408/71 regelt aber nicht die Frage, ob ein über den
Ehemann hergeleiteter Anspruch auf eine Familienleistung in dessen
Beschäftigungsland deshalb ausgeschlossen sein kann, weil die Ehefrau
Arbeitnehmerin einen anderen Beschäftigungsland ist. Das muss aber zur Überzeugung
des Senats unabhängig davon sein, welcher der Ehepartner die Familienleistung
geltend macht.
Die Klägerin hat nach allem dem Grunde nach Anspruch auf Erziehungsgeld für D.
26
Die Kostentscheidung beruht auf § 193 SGG.
27
Der Senat hat die Revision zugelassen, weil er ihr grundsätzliche Bedeutung beimisst.
28