Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 10.10.2006

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Landessozialgericht NRW, L 16 B 64/06 KR
Datum:
10.10.2006
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
16. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 16 B 64/06 KR
Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 5 KR 45/06
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts
Köln vom 14. August 2006 wird zurückgewiesen.
Gründe:
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I.
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Streitig ist ein Anspruch der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH).
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Die am 00.00.1978 geborene Klägerin beantragte am 11.02.2005 bei der Beklagten die
Kostenübernahme (KÜ) für das apotheken-, aber nicht verschreibungspflichtige
Arzneimittel "Pentosanplysulfat SP 54 Dragees". Sie fügte eine Apothekenrechnung
vom 26.10.2004 bei. Danach betrug der Kaufpreis für 100 Stück 27,13 EUR. Mit
Bescheid vom 07.03.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.02.2006
lehnte die Beklagte nach Einholen zweier Stellungnahmen des Medizinischen Dienstes
der Krankenversicherung (MDK) Nordrhein die KÜ mit der Begründung ab, dass seit
dem 01.01.2004 nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel gemäß § 34 Abs. 1
Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) von der Versorgung nach § 31 SGB V
ausgeschlossen seien. Eine Ausnahme vom Ausschluss stellten nicht
verschreibungspflichtige Arzneimittel dar, die bei der Behandlung schwerwiegender
Erkrankungen als Therapiestandard gelten würden. "Pentosanplysulfat SP 54 Dragees"
seien jedoch nicht in die Ausnahmeliste des Gemeinsamen Bundesausschusses
aufgenommen worden. Im Übrigen sei das Arzneimittel für die Erkrankung der Klägerin
gar nicht zugelassen.
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Zur Begründung ihrer am 16.02.2006 zum Sozialgericht Köln erhobenen Klage hat die
Klägerin geltend gemacht, die Behandlung mit "Pentosanplysulfat SP 54 Dragees" sei
notwendig, um die - bei ihr fehlende - Blasenschleimhaut zu regenieren. Jede
Blasenentleerung, die krankheitsbedingt ca. sechzig Mal am Tag erfolge, sei derzeit mit
erheblichen Schmerzen verbunden. Unter dem Gesichtspunkt des "Off-Label-Use" sei
eine KÜ seitens der Beklagten geschuldet. Das Mittel werde vor allem in den USA und
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Kanada bei der Behandlung der interstitiellen Cystitis eingesetzt. Es gebe bezüglich der
Wirksamkeit und des Nutzens inzwischen mehrere wissenschaftliche Studien. Auch
stütze der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 06.12.2005 (Az.: 1
BvR 347/98, Sozialrecht -SozR- 4-2500 § 27 Nr. 5) den geltend gemachten Anspruch;
denn die Entscheidung sei über lebensbedrohliche Erkrankungen hinaus auf
Krankheitsbilder mit erheblichen Schmerzen zu übertragen.
Parallel dazu beantragte die Klägerin am 07.12.2004 die ärztlich verordnete Versorgung
mit einer elektromotiven Medikamentenapplikation für die intravesikale Verabreichung
von Medikamenten (EMDA-Behandlung) bei interstitieller Cystitis. Die voraussichtlichen
Kosten lagen bei 1.602,30 EUR zzgl. MWSt. Auch diesen Antrag lehnte die Beklagte ab,
und zwar mit Bescheid vom 25.02.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 18.01.2006: Die elektromotive Medikamenten-Applikation stelle eine
außervertragliche bzw. neue Behandlungsmethode dar. Der Gemeinsame
Bundesausschuss sei damit noch nicht befasst gewesen. Ebenfalls liege kein
sogenannter Systemmangel vor; denn nach den Recherchen des MDK Nordrhein seien
Nutzen und Wirksamkeit der Methode nicht in ausreichendem Maße wissenschaftlich
nachgewiesen. Es stünden aber auch ausreichende konservative medikamentöse und
operative Behandlungsmethoden zur Verfügung. Ein lebensbedrohlicher Zustand sei
bei der Klägerin nicht feststellbar.
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In dieser Sache hat die Klägerin am 09.02.2006 Klage zum Sozialgericht Köln erhoben
und geltend gemacht, die EMDA-Behandlung diene der Verhinderung einer
fortschreitenden Schrumpfung der Blasenkapazität und sei international anerkannt. Auf
Nachfrage des Sozialgerichts hat der Gemeinsame Bundesausschuss durch den
Unterausschuss "Ärztliche Behandlung" unter dem 16.05.2006 mitgeteilt, er habe sich
mit der EMDA-Methode bisher nicht befasst. Auch seien ihm keine wissenschaftlich
nachvollziehbaren klinischen Studien zugeleitet worden, die nahe legten, dass die
Methode nach dem allgemein anerkannten Standard als wirksam angesehen werden
könne. Beigefügt hat der Ausschuss als Ergebnis einer Internetrecherche einen Bericht
über eine Studie von Dr. T, St. F-Krankenhaus in N, aus März 2001, betreffend 17
Patienten.
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Das Sozialgericht hat die beiden Rechtsstreitigkeiten zur gemeinsamen Verhandlung
und Entscheidung verbunden. Die Anträge der Klägerin in beiden ursprünglichen
Verfahren,
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ihr unter Beiordnung von Rechtsanwalt M aus I PKH zu gewähren,
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hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 14.08.2006 abgelehnt. Zur Begründung hat es
sich auf die zutreffenden angefochtenen Bescheide bezogen. Die Rechtsverfolgung
biete keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.
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Gegen den ihrem Prozessbevollmächtigten am 22.08.2006 zugestellten Beschluss hat
die Klägerin am 14.09.2006 Beschwerde erhoben, der das Sozialgericht nicht
abgeholfen hat. Sie trägt vor, Entscheidungsreife habe der Antrag auf Bewilligung von
PKH bereits im März 2006 erlangt, nachdem die wirtschaftlichen Voraussetzungen
abschließend geklärt gewesen seien. Abzustellen sei insoweit auf den Zeitpunkt des
wechselseitig erfolgten ersten Vortrages. Damit werde dem Gebot der Zügigkeit des
Verfahrens, aber auch der Notwendigkeit einer sorgfältigen großzügigen Prüfung der
Erfolgsaussichten gerecht. Das Sozialgericht habe jedoch seine Entscheidung zu
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Unrecht von dem Ergebnis der danach eingeholten Auskunft des Gemeinsamen
Bundesausschusses und damit vom faktischen Obsiegen abhängig gemacht.
Die Beklagte vertritt dagegen die Auffassung, die Entscheidung im
Hauptsacheverfahren sei nicht von der Klärung einer schwierigen Rechtsfrage
abhängig. Das Sozialgericht habe die Bewilligung von PKH zu Recht abgelehnt, denn
ein Erfolg sei zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, aber doch fern liegend.
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Wegen der weiteren Einzelheit der Sach- und Rechtslage und des Vorbringens der
Beteiligten im Einzelnen wird auf den Inhalt der Prozess- und der Verwaltungsakte der
Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der Beratung und Entscheidung
gewesen sind.
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II.
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Die zulässige, insbesondere fristgerecht erhobene Beschwerde der Klägerin ist nicht
begründet. Das Sozialgericht hat zu Recht mit Beschluss vom 14.08.2006 den Antrag
der Klägerin auf Bewilligung von PKH und Beiordnung von Rechtsanwalt M abgelehnt.
Die Voraussetzungen für eine Bewilligung von PKH gemäß §§ 114 S. 1
Zivilprozessordnung (ZPO) i. V. m. § 73 a Abs. 1 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) liegen
nicht vor. Danach erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen
Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten
aufbringen kann, auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder
Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Wie das Sozialgericht zutreffend festgestellt hat, fehlt es trotz Vorliegens der
wirtschaftlichen Voraussetzungen an der hinreichenden Erfolgsaussicht der Klage.
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Bei der Beurteilung, ob eine hinreichende Erfolgsaussicht besteht, muss der
verfassungsrechtliche Rahmen von Art. 3 Abs. 1, 20 Abs. 3, 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG)
berücksichtigt werden. Die Prüfung der Erfolgsaussichten darf nicht dazu dienen, die
Rechtsverfolgung oder -verteidigung selbst in das PKH-Verfahren vorzuverlegen. Die
Anforderungen an die hinreichenden Erfolgsaussichten dürfen deshalb nicht überzogen
werden (BVerfGE 81, 347, 356 ff, BVerfG SozR 4-1500 § 73a Nr. 1). Diese sind daher
gegeben, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Klägers auf Grund der
Sachverhaltsschilderung und der vorliegenden Unterlagen für zutreffend oder zumindest
für vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht von der Beweisführung überzeugt ist
(Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl. 2005, § 73a RdNr. 7a m. w. N.). Zum
Zeitpunkt der Entscheidung des Sozialgerichts über den Antrag auf Bewilligung von
PKH, der im Regelfall für die Beurteilung der Erfolgsaussichten maßgeblich ist (Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer, a. a. O., § 73a RdNr. 7c), hat die Klägerin nicht einmal einen
vertretbaren Rechtsstandpunkt eingenommen. Bezüglich der erstrebten KÜ für das
Arzneimittel "Pentosanplysulfat SP 54 Dragees" ist bereits fraglich, ob die Klägerin den
sogenannten Beschaffungsweg eingehalten hat. Lediglich in dem Fall, dass die
Klägerin von der Möglichkeit des § 13 Abs. 2 SGB V Gebrauch gemacht hat, besteht
kein Erfordernis, dass der Versicherte vor der Beschaffung von Leistungen eine
Entscheidung der gesetzlichen Krankenkasse einzuholen hat, wie dies bei § 13 Abs. 3
SGB V regelmäßig der Fall ist. Die Klägerin hat nämlich eine Entscheidung der
Beklagten erst Monate nach der Beschaffung des Arzneimittels beantragt. Ihr können
dadurch, dass die Krankenkasse die Leistung zu Unrecht ablehnt hat, keine Kosten für
eine selbstbeschaffte Leistung entstanden sein. Darüber hinaus hat die Beklagte und
mit ihr das Sozialgericht die Rechtslage zutreffend dargestellt. Es besteht nicht einmal
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eine arzneimittelrechtliche Zulassung für die Indikation einer interstitiellen Cystitis. Der
von der Klägerin benannte Beschluss des BVerfG vom 06.12.2005 (a. a. O.) bezieht sich
im Übrigen lediglich auf neue Behandlungs- und Untersuchungsmethoden, nicht aber
auf die Versorgung mit Arzneimitteln. Zwar hat das Bundessozialgericht (BSG)
inzwischen entschieden (Beschl. vom 04.04.2006, Az.: B 1 KR 7/05 R,
www.bundessozialgericht.de - Entscheidungen), dass die verfassungsrechtliche
Konkretisierung der Leistungsansprüche von Versicherten der gesetzlichen
Krankenversicherung bei lebensbedrohenden, tödlich verlaufenden Erkrankungen
entsprechend der Rechtsprechung des BVerfG (Beschluss vom 6.12.2005 (a. a. O.)
sinngemäß auch für die Versorgung mit Arzneimitteln gilt. Dass bei der Klägerin eine
lebensbedrohliche Erkrankung vorliegt, behauptet aber nicht einmal diese selbst. Im
Hinblick darauf, dass das BVerfG in dem o. g. Beschluss die bestehenden Strukturen in
der gesetzlichen Krankenversicherung ausdrücklich anerkannt hat, hält der Senat mit
dem Sozialgericht eine Ausweitung der Rechtsprechung auf schmerzhafte, aber nicht
lebensbedrohliche Erkrankungen für kaum denkbar. Darauf lassen sich jedenfalls keine
Erfolgsaussichten des Verfahrens stützen.
Auch bezüglich der Versorgung mit einer elektromotiven Medikamentenapplikation für
die intravesikale Verabreichung von Medikamenten hat das Sozialgericht zu Recht
Erfolgsaussichten der Klage verneint. Es handelt sich um eine neue Untersuchungs-
und Behandlungsmethode, bezüglich derer der Gemeinsame Bundesausschuss noch
keine Empfehlung ausgesprochen hat und im Hinblick auf die dürftige wissenschaftliche
Evaluierung der Methode auch nicht aussprechen musste. Dies ergibt sich aus dem -
soweit ersichtlich - zutreffenden Ergebnis der Ermittlungen des MDK. PKH ist auch nicht
deshalb zu gewähren, weil das Sozialgericht - so der Vortrag der Klägerin - die
Entscheidung über die PKH zu spät getroffen hätte. Auf einen früheren Zeitpunkt als
denjenigen der Entscheidung des Gerichts ist allenfalls abzustellen, wenn sich die
Entscheidung über den Antrag verzögert hat und die Änderung zum Nachteil des
Antragstellers eingetreten ist (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a. a. O., § 73a RdNr. 7c
m. w. N.). Jedenfalls fehlt es an der zweiten Voraussetzung. Der Gemeinsame
Bundesausschuss hat lediglich bestätigt, was die Beklagte unter Einbeziehung des
MDK bereits zum tragenden Argument ihrer Entscheidung gemacht hat. Das
Sozialgericht hätte im Übrigen auch über eine Internetrecherche vom dienstlichen
Arbeitsplatz aus zu denselben Erkenntnissen gelangen können. Eine ohne jeden
Aufwand mögliche Abfrage - per Internet oder per individueller Nachfrage - zum
aktuellen Stand der Entscheidungslage beim Gemeinsamen Bundesausschuss aber
hält der Senat für sachdienlich im Rahmen der Entscheidung über einen PKH-Antrag
(vgl. § 118 Abs. 2, insbesondere Sätze 2 und 3 ZPO). Die Sachlage hat sich dadurch
nicht zum Nachteil der Klägerin verändert, sondern dem Sozialgericht lediglich
allerletzte Gewissheit verschafft, dass im Hauptsacheverfahren allenfalls geringe
Erfolgsaussichten bestehen. Eine Bejahung der Erfolgsaussichten allein unter dem
Gesichtspunkt, dass eine Rückfrage beim Gemeinsamen Bundesausschuss erfolgen
solle, grenzte für den Senat an einen Verstoß gegen die einem Richter obliegende
Verpflichtung zum sorgfältigen Umgang mit Finanzmitteln des Staates, die er im
Rahmen seiner richterlichen Unabhängigkeit mit einzubeziehen hat.
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Der Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das BSG anfechtbar, vgl. § 177 SGG.
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