Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 25.03.2004
LSG NRW: medizinische rehabilitation, eltern, behinderung, rollstuhl, krankenversicherung, verfügung, fortbewegung, mitfahren, hebebühne, wohnung
Landessozialgericht NRW, L 5 KR 128/02
Datum:
25.03.2004
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
5. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 5 KR 128/02
Vorinstanz:
Sozialgericht Münster, S 8 KR 3/02
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts
Münster vom 03.06.2002 geändert und die Klage in vollem Umfang
abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird
zugelassen.
Tatbestand:
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Der Kläger begehrt die Ausstattung des Großraum-PKW seiner Eltern mit einer
automatischen Rollstuhlbefestigung.
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Der am 00.00.1991 geborene und bei der Beklagten krankenversicherte Kläger leidet
seit seiner Geburt an einer schweren cerebralen Dysfunktion mit sensomotorischen
Wahrnehmungsstörungen und einem cerebralen Anfallsleiden bei daraus
resultierenden erheblichen neurologisch bedingten Bewegungsstörungen mit
Paraspastik. Ferner liegen erhebliche Einschränkungen der Psyche, der Sinnesorgane
sowie der inneren Organe, des zentralen Nervensystems sowie des Stütz- und
Bewegungsapparates vor. Der Kläger ist bewegungsunfähig und dauerhaft auf die
Benutzung eines Rollstuhls angewiesen. Er erhält Leistungen nach der Pflegestufe III
i.S.d. Elften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB XI).
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Mit Schreiben vom 15.02.2001 beantragte der Kläger die Ausstattung des Großraum-
PKW seiner Eltern mit einer elektrischen Hebebühne und einer automatischen
Rollstuhlbefestigung. Zur Begründung gab er an, seine Eltern seien nicht mehr in der
Lage, ihn ohne diese Hilfsmittel zu befördern, insbesondere die verschiedenen
zahlreichen Arztbesuche durchzuführen.
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Die Beklagte lehnte die Gewährung der elektrischen Hebebühne und der automatischen
Rollstuhlbefestigung durch den Bescheid vom 18.04.2001 mit der Begründung ab, dass
es sich hierbei nicht um Hilfsmittel i.S.d. § 33 des Fünften Buches des
Sozialgesetzbuches (SGB V) handele. Den dagegen am 15.05.2001 eingelegten
Widerspruch wies die Beklagte durch den Widerspruchsbescheid vom 20.12.2001
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zurück.
Der Kläger hat am 16.01.2002 Klage vor dem Sozialgericht Münster erhoben. Zur
Begründung hat er vorgebracht, erst die automatische Rollstuhlbefestigung sowie die
elektrische Rollstuhlhebebühne ermöglichten ihm im Auto seiner Eltern transportiert zu
werden und so in Kontakt mit seiner Außenwelt zu treten. Dies müsse ihm die Beklagte
ermöglichen, weil er ansonsten ausschließlich auf den häuslichen Bereich beschränkt
sei.
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Der Kläger hat beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 18.04.2001 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 20.12.2001 zu verurteilen, ihm eine elektrische
Hebebühne und eine Rollstuhlbefestigung zu bewilligen.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hat entgegnet, dass ein Anspruch des Klägers auf Gewährung dieser Gegenstände
gemäß § 33 SGB V nicht bestehe.
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Durch Urteil vom 03.06.2002 hat das Sozialgericht Münster die Beklagte verurteilt, dem
Kläger eine automatische Rollstuhlbefestigung für den Großraum-PKW zu gewähren. Im
Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Wegen der Begründung im Einzelnen wird auf
die Entscheidungsgründe Bezug genommen.
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Gegen das ihr am 17.06.2002 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 05.07.2002
Berufung eingelegt.
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Zur Begründung bringt sie vor: Das Grundbedürfnis des Klägers auf Fortbewegung sei
durch die Versorgung mit dem von ihr gewährten Rollstuhl befriedigt worden. Die
Fähigkeit, ein Auto zu benutzen, stelle kein Grundbedürfnis i.S.d. Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts (BSG) zu den Hilfsmitteln i.S.d. § 33 SGB V dar. Hier gehe es
vielmehr um die soziale Eingliederung Behinderter, für die andere Sozialleistungsträger
zuständig seien.
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Die Beklagte beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 03.06.2002 zu ändern und die Klage
abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er hält das Urteil des Sozialgerichts Münster hinsichtlich der Gewährung der
automatischen Haltevorrichtung für seinen Rollstuhl für zutreffend.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird verwiesen auf den
übrigen Inhalt der Gerichtsakten sowie der Verwaltungsakten der Beklagten, der
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Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet, denn das Sozialgericht hat sie zu
Unrecht verurteilt, eine automatische Rollstuhlbefestigung als Hilfsmittel für den
Großraum-PKW der Eltern des Klägers zu gewähren.
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Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V (in der seit 01.07.2001 geltenden Fassung) haben
Versicherte Anspruch u.a. auf Hilfsmittel, die im Einzelfall erforderlich sind, den Erfolg
der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder
eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine
Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V
ausgeschlossen sind. Diese genannten Ausschlussgründe liegen nicht vor. Weder ist
eine automatische Rollstuhlbefestigung ein in der nach § 34 Abs. 2 SGB V erlassenen
Verordnung vom 13.12.1989 (Bundesgesetzblatt [BGBl.] I, 2237) ausgeschlossenes
Hilfsmittel noch handelt es sich offenkundig um einen Gebrauchsgegenstand des
täglichen Lebens.
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Die automatische Rollstuhlbefestigung ist jedoch nicht erforderlich, um eine
Behinderung auszugleichen, auch wenn man davon ausgeht, dass der Kläger ohne
diese im Großraum-PKW seiner Eltern nicht transportiert werden kann.
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Ein Hilfsmittel ist zum Ausgleich einer Behinderung nur dann erforderlich, wenn sein
Einsatz der Sicherstellung eines allgemeinen Grundbedürfnisses dient (vgl. zuletzt BSG
SozR 3-2500 § 33 Nr. 44). Davon kann grundsätzlich ausgegangen werden, wenn das
Hilfsmittel die beeinträchtigte Körperfunktion unmittelbar ermöglicht, ersetzt oder
erleichtert. Soweit dagegen - wie hier - das Hilfsmittel die ausgefallene oder
beeinträchtigte Organfunktion nur mittelbar ersetzt, muss besonders geprüft werden, in
welchen Lebensbereichen sich der Ausgleich auswirkt, ob also das Hilfsmittel zur
Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt wird. Zu
diesen Grundbedürfnissen gehören zum einen die körperlichen Grundfunktionen
(Gehen, Stehen und Treppensteigen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören,
Nahrungsaufnahme, Ausscheidung), darüber hinaus die elementare Körperpflege und
das selbständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und
geistigen Freiraums, der auch die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit
anderen zur Vermeidung von Vereinsamung sowie das Erlernen eines
lebensnotwendigen Grundwissens (Schulwissens) umfasst (vgl. dazu BSG SozR 3-
2500 § 33 Nr. 32 mit Nachweisen zur Rechtsprechung). Eine über die Befriedigung
eines solchen Grundbedürfnisses hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation
ist Aufgabe anderer Sozialleistungsträger (vgl. BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 29).
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Die automatische Rollstuhlbefestigung ist nicht erforderlich, um das elementare
Grundbedürfnis des Klägers im Rahmen der Fortbewegung zu gewährleisten. Das
Grundbedürfnis der Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraums ist nur i.S.
eines Basisausgleichs und nicht als ein vollständiges Gleichziehen mit den letztlich
unbegrenzten Mobilitätsmöglichkeiten des Gesunden zu verstehen. Dieser
Basisausgleich umfasst lediglich die Fähigkeit, sich in der Wohnung zu bewegen und
die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang an die frische Luft zu
gelangen (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 32). Der Mobilitätsausgleich ist in diesem Sinne
mittels des von der Beklagten zur Verfügung gestellten Rollstuhls sichergestellt.
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Die Benutzung eines PKW - sei es als Fahrer oder Mitfahrer - zählt nicht zu dem
Grundbedürfnis auf Mobilität. Zwar ist der 8. Senat des BSG in seinem Urteil vom
26.02.1991 (SozR 3-2500 § 33 Nr. 3) davon ausgegangen, dass auch das Mitfahren in
einem PKW zur Befriedigung des Grundbedürfnisses auf Fortbewegung benötigt
werden kann. In der weiteren Rechtsprechung des BSG ist allerdings das
Grundbedürfnis des Erschließens eines gewissen körperlichen Freiraums i.S. eines
Basisausgleichs der Behinderung verstanden worden. Das BSG hält es nunmehr für
ausreichend, wenn mit den zur Verfügung stehenden Mitteln (wie hier dem
Schieberollstuhl) die üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden Stellen
erreicht werden können, an denen Alltagsgeschäfte (wie etwa das Einkaufen von
Lebensmitteln, Gegenständen des täglichen Bedarfs) erledigt werden (vgl. BSG Urteil
vom 21.11.2002, Az.: B 3 KR 8/02 R mit Nachweisen zur Entwicklung der
Rechtsprechung). Da es insoweit auf die besonderen Verhältnisse des Wohnortes und
Wohngebietes nicht ankommt (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 31), sind der konkrete
Wohnort des Klägers und die von ihm konkret zurückzulegenden Wegstrecken
unbeachtlich. Da somit die Bewegungsfreiheit als Grundbedürfnis sich nur auf einen
begrenzten räumlichen Bereich bezieht, hat das BSG in der Entscheidung vom
06.08.1998 (SozR 3-2500 § 33 Nr. 29) folgerichtig das selbständige Führen eines PKW
nicht zu den Grundbedürfnissen gerechnet. Ebensowenig zählt das Mitfahren in einem
PKW zu den Grundbedürfnissen (so schon Senat Urteil vom 06.02.2001 - L 5 KR 156/00
-). Wenn der Mobilitätsausgleich auf den Nahbereich begrenzt ist, kann das Mitfahren in
einem PKW, dessen Einsatzbereich typischerweise außerhalb des räumlichen
Anspruchsbereichs i.S.v. § 33 SGB V liegt, nicht anders beurteilt werden als das
selbständige Führen eines PKW.
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Da der Kläger immer auf die Hilfe Dritter angewiesen ist, wird seiner Unfähigkeit zum
selbständigen Fortbewegen auch durch die automatische Rollstuhlbefestigung nicht
abgeholfen; den PKW kann er ebensowenig wie den Rollstuhl selbständig nutzen.
Unselbständig kann der Kläger dagegen mit Hilfe Dritter mit dem von der Beklagten zur
Verfügung gestellten Rollstuhl die i.S.v. § 33 SGB V maßgeblichen Entfernungen
bewältigen.
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Unerheblich ist auch, dass der Kläger von seinen Eltern mit dem PKW zu ärztlichen
Behandlungen gebracht wird. Das Aufsuchen von Ärzten und Therapeuten ist kein
selbständiges Grundbedürfnis, sondern ein konkreter Anwendungsfall des Bedürfnisses
nach Mobilität, das, wie dargelegt, von der gesetzlichen Krankenversicherung nur in
eingeschränktem Umfang gewährleistet wird. Die automatische Rollstuhlbefestigung ist
insoweit auch nicht erforderlich, um i.S.d. § 33 Abs. 1 Satz 1 1. Alternative SGB V den
Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern. Die genannte Alternative des § 33 Abs. 1
Satz 1 SGB V betrifft nur Gegenstände, die aufgrund ihrer Hilfsmitteleigenschaft
spezifisch im Rahmen der ärztlich verantworteten Krankenbehandlung eingesetzt
werden, um zu ihrem Erfolg beizutragen (Senat Urteil vom 11.09.2003 - L 5 KR 234/02 -
). Soweit es um die Ermöglichung des Aufsuchens von Therapeuten geht, wird in § 60
SGB V die Reichweite der Leistungspflicht der Krankenkassen geregelt; insoweit
kommen Hilfsmittel, die nur dazu dienen sollen, die Wege zu den Leistungserbringern
zurückzulegen, nicht in Betracht.
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Der Senat verkennt nicht, dass die automatische Rollstuhlbefestigung für den Kläger
und seine Eltern eine große Erleichterung bedeutet und sie es auch dem Kläger
ermöglicht, in größerem Umfang gesellschaftliche Kontakte zu pflegen. Der von den
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Krankenkassen zu gewährende Behinderungsausgleich bedeutet jedoch nicht, dass
damit auch sämtliche direkten und indirekten Folgen der Behinderung auszugleichen
wären. Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist alleine die medizinische
Rehabilitation, also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und
der Organfunktionen, um ein selbständiges Leben führen und die Anforderungen des
Alltags meistern zu können. Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale
Rehabilitation ist hingegen Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme. Da, wie dargelegt,
im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung das Erschließen eines körperlichen
Freiraums i.S. eines Basisausgleichs zu verstehen ist, betrifft die durch die Benutzung
eines PKW ermöglichte größere Mobilität Lebensbereiche, die der sozialen
Rehabilitation zuzurechnen sind, so dass insoweit eine Leistungspflicht nach § 33 Abs.
1 Satz 1 SGB V nicht besteht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
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Der Senat hat dem Rechtsstreit im Hinblick auf die Entscheidung des BSG vom
26.02.1991 (a.a.O.) grundsätzliche Bedeutung beigemessen und daher die Revision
zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG).
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