Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 24.11.2006
LSG NRW: taxi, nebenverdienst, entstehung, nebentätigkeit, auflage, arbeitsentgelt, bekanntgabe, anzeigepflicht, versäumnis, subjektiv
Landessozialgericht NRW, L 1 B 22/05 AL
Datum:
24.11.2006
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
1. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 1 B 22/05 AL
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 31 (29) AL 288/04
Sachgebiet:
Arbeitslosenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Sozialgerichts
Dortmund vom 01.07.2005 wird zurückgewiesen. Kosten sind im
Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe:
1
Die zulässige Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat
(Nichtabhilfebeschluss vom 01.09.2005), ist in der Sache nicht begründet.
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Nach § 73a Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit § 114 Satz 1
Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder
nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte
Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Für die Annahme einer hinreichenden Erfolgsaussicht genügt eine gewisse
Erfolgswahrscheinlichkeit (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar SGG, 8. Auflage
2005, § 73a Rdn. 7, m.w.N.). Danach ist eine hinreichende Erfolgsaussicht gegeben,
wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Antragstellers aufgrund der
Sachverhaltsschilderung und der vorliegenden Unterlagen für zutreffend oder zumindest
für vertretbar hält und/oder in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der
Beweisführung überzeugt ist (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer a.a.O. Rdn. 7a).
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Die vom Kläger angefochtenen Bescheide vom 19.02.2004 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 15.06.2004 und vom 19.02.2004 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 16.06.2004, mit denen die Beklagte Nebenverdienst auf
das dem Kläger zuerkannte ESF-Unterhaltsgeld (05.09.2001 bis 04.09.2002)
Arbeitslosengeld (05.09.2002 bis 01.06.2003) sowie Unterhaltsgeld (02.06.2003 bis
31.12.2003) angerechnet, die Bewilligungsbescheide vom 05.09.2001 und vom
19.09.2002 teilweise zurückgenommen sowie den Bescheid vom 22.05.2003 teilweise
aufgehoben und eine Erstattungsforderung in Höhe von insgesamt 2.917,40 Euro
geltend gemacht hat, sind rechtmäßig. Sie finden im Hinblick auf die Bescheide vom
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05.09.2001 und vom 19.09.2002 ihre Grundlage in § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und Nr. 3
des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuches (SGB X) in Verbindung mit § 330 Abs. 2
des Dritten Buchs des Sozialgesetzbuches (SGB III) sowie hinsichtlich des Bescheides
vom 22.05.2003 in § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und Nr. 3 SGB X in Verbindung mit § 330
Abs. 3 Satz 1 SGB III.
Sowohl der Bescheid vom 05.09.2001 (Gewährung von ESF-Unterhaltsgeld für die Zeit
vom 05.09.2001 bis 04.09.2002) als auch die Bescheide vom 19.09.2002 (Gewährung
von Arbeitslosengeld ab 05.09.2002) und vom 22.05.2003 (Zuerkennung von
Unterhaltsgeld ab 02.06.2003) waren im Hinblick auf die Leistungshöhe teilweise
zurückzunehmen bzw. aufzuheben. Denn der Kläger hat in den jeweiligen
Leistungszeiträumen anrechenbaren Nebenverdienst (§ 141 Abs. 1 SGB III) bezogen,
der zur teilweisen Rechtswidrigkeit der Bewilligungsbescheide im Sinne des § 45 Abs.
1 SGB X bzw. zu einer wesentlichen Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X
geführt hat.
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Nach § 141 Abs. 1 Satz 1 SGB III in der hier anwendbaren Fassung ist das
Arbeitsentgelt aus einer weniger als 15 Stunden wöchentlich ausgeübten Beschäftigung
nach Abzug der Steuern, der Sozialversicherungsbeiträge und der Werbungskosten
sowie eines Freibetrages in Höhe von 20 % des monatlichen Arbeitslosengeldes,
mindestens aber von 165 Euro auf das Arbeitslosengeld für den Kalendermonat, in dem
die Beschäftigung ausgeübt wird, anzurechnen. Der Kläger hat während des Bezuges
von ESF-Unterhaltsgeld, Arbeitslosengeld und Unterhaltsgeld eine Nebentätigkeit bei
der Fa. Taxi T ausgeübt. Dementsprechend waren die dort erzielten Verdienste
abzüglich der in § 141 Abs. 1 Satz 1 SGB III genannten Positionen auf die ihm
zuerkannten Entgeltersatzleistungen anzurechnen. Anhaltspunkte dafür, dass die
jeweiligen Anrechnungsbeträge rechnerisch fehlerhaft ermittelt worden sind, wurden
nicht vorgetragen und sind auch nicht ersichtlich.
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Entgegen der Auffassung des Klägers ist § 141 Abs. 2 SGB III a.F. hier nicht anwendbar.
Hat der Arbeitslose in den letzten zwölf Monaten vor Entstehung des Anspruchs neben
einem Versicherungspflichtverhältnis eine geringfügige Beschäftigung mindestens zehn
Monate lang ausgeübt, so bleibt das Arbeitsentgelt bis zu dem Betrag anrechnungsfrei,
der in den letzten zehn Monaten vor der Entstehung des Anspruchs aus einer
geringfügigen Beschäftigung durchschnittlich auf den Monat entfällt, mindestens jedoch
ein Betrag in Höhe des Freibetrages, der sich nach § 141 Abs. 1 SGB III ergeben würde.
Bei der Bestimmung der Geringfügigkeit der Beschäftigung ist auf § 8 des Vierten Buchs
des Sozialgesetzbuches (SGB IV) abzustellen (vgl. Brand in Niesel, SGB III, 3. Auflage
2005, § 141, Rn. 10).
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Der Kläger war zunächst in der Zeit vom 01.09.2000 bis zum 14.05.2001 bei der Fa. W
GmbH (Avis) versicherungspflichtig als Fahrer beschäftigt. Sodann war er vom
17.05.2001 bis 31.08.2001 bei der Fa. Taxi T versicherungspflichtig und ab 01.09.2001
geringfügig beschäftigt. Soweit er geltend macht, er habe neben seinen
versicherungspflichtigen Tätigkeiten gleichzeitig eine geringfügige Beschäftigung bei
der Fa. Taxi T ausgeübt, vermag dies nicht zu einer ihm günstigeren Entscheidung zu
führen. Wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt hat, kann die vor Entstehung des
Anspruchs auf ESF-Unterhaltsgeld verrichtete zusätzliche geringfügige Beschäftigung
bei der Fa. Taxi T nicht berücksichtigt werden, weil bei demselben Arbeitgeber nicht
zugleich eine versicherungspflichtige und eine geringfügige Beschäftigung ausgeübt
werden kann. In derartigen Konstellationen ist vielmehr regelmäßig von einem
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einheitlichen - versicherungspflichtigen - Beschäftigungsverhältnis auszugehen (vgl.
hierzu Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 16.02.1983 - Az.: 12 RK 26/81, BSGE 55,
1; Seewald in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 8 SGB IV, Rn. 29;
zum Nebeneinander von versicherungspflichtiger und "selbständiger" geringfügiger
Tätigkeit bei demselben Arbeitgeber vgl. Landessozialgericht [LSG] NRW, Urteil vom
16.03.2005 - Az.: L 11 [16] KR 46/02). Die vom Kläger während seiner Beschäftigung
bei der Fa. W GmbH vom 01.09.2000 bis 14.05.2001 ausgeübte geringfügige
Beschäftigung umfasst jedoch keinen Zeitraum von zehn Monaten.
Die Bewilligungsbescheide vom 05.09.2001 und vom 19.09.2002 waren mit Wirkung für
die Vergangenheit teilweise zurückzunehmen. Auf einen Vertrauensschutz kann sich
der Kläger nicht berufen, weil die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X
in Verbindung mit § 330 Abs. 2 SGB III erfüllt sind. Der Kläger hat seine Nebentätigkeit
nicht angezeigt, obwohl er hierzu gemäß § 60 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 des Ersten Buchs des
Sozialgesetzbuches (SGB I) verpflichtet war. Durch dieses Versäumnis war es der
Beklagten nicht möglich, die entsprechenden Anrechnungsbeträge zu ermitteln. Dass
entsprechende Anzeigepflichten bestehen, musste dem Kläger nicht nur durch die ihm
ausgehändigten Merkblätter bekannt geworden sein, deren Erhalt er anlässlich der
verschiedenen Antragstellungen unterschriftlich bestätigt hat, sondern auch durch den
Bußgeldbescheid vom 29.07.1999, in dem die Anzeigepflicht ausführlich erläutert
wurde. Durchgreifende Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger subjektiv nicht in der Lage
war, die Anzeigepflichten zu erfüllen, liegen nicht vor.
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Darüber hinaus sind die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X in
Verbindung mit § 330 Abs. 2 SGB III erfüllt. Denn der Kläger musste sich im Zeitpunkt
der Bekanntgabe der Bewilligungsbescheide vom 05.09.2001 und vom 19.09.2002
aufgrund seiner bereits vorhandenen Kenntnisse über die Anrechenbarkeit von
Nebeneinkommen bei einfachsten Überlegungen aufdrängen, dass ihm die zuerkannten
Leistungen der Höhe nach aufgrund des erzielten Nebenverdienstes nicht zustanden.
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Im Hinblick auf den Bewilligungsbescheid vom 22.05.2003 ist mit dem ab Juli 2003
erzielten Nebenverdienst eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1
SGB X eingetreten. Denn dem hätte Kläger Unterhaltsgeld nicht mehr in der
zuerkannten Höhe gezahlt werden dürfen. Da der Kläger nach Erlass des
Bewilligungsbescheides durch seinen Nebenverdienst Einkommen erzielt hat, das
wegen der bereits erörterten Anrechnung zur Minderung des Anspruchs auf
Unterhaltsgeld geführt hätte, war der Bewilligungsbescheid rückwirkend für die Zeit ab
01.07.2003 aufzuheben (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X). Die rückwirkende Aufhebung
stützt sich ferner auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X. Denn dem Kläger musste sich
aufdrängen, dass der Anspruch auf Unterhaltsgeld kraft Gesetzes - hier: § 141 Abs. 1
SGB III - der Höhe nach teilweise weggefallen ist.
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Ermessen hatte die Beklagte nicht auszuüben (vgl. § 330 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1 SGB
III); die Jahresfrist (§§ 45 Abs. 4 Satz 2, 48 Abs. 4 SGB X) ist gewahrt.
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Nachdem die Beklagte die vorgenannten Bewilligungsbescheide zu Recht teilweise
zurückgenommen bzw. aufgehoben hat, ist der Kläger gemäß § 50 Abs. 1 SGB X zur
Erstattung der überzahlten Beträge verpflichtet.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 127
Abs. 4 ZPO.
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Der Beschluss kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 177 SGG).
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