Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 06.01.2005
LSG NRW: vergleich, wiederaufnahme des verfahrens, öffentliche urkunde, gütliche beilegung, vollmacht, kopie, anfechtung, vertreter, vorschlag, ersatzkasse
Landessozialgericht NRW, L 6 P 60/03
Datum:
06.01.2005
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
6. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 6 P 60/03
Vorinstanz:
Sozialgericht Münster, S 6 P 2/03
Sachgebiet:
Pflegeversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster
vom 10.10.2003 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch im zweiten
Rechtszug nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
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Der Kläger begehrt die Weiterführung eines durch gerichtlichen Vergleich beendeten
Verfahrens. In der Sache beansprucht er im Wesentlichen die Zahlung von Pflegegeld
nach Pflegestufe I für weitere vier Monate.
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Der 1948 geborene Kläger war in der Zeit vom 01.01.1998 bis 31.12.1999 bei der
Beklagten pflegeversichert. Zuvor war er Mitglied bei der Barmer Ersatzkasse und
anschließend bei der AOK Westfalen-Lippe.
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Die Beklagte lehnte mit Bescheiden vom 16.03.1999 und 13.07.2000 die Zahlung von
Pflegegeld ab, weil der Kläger die Pflege nicht in geeigneter Weise selbst sichergestellt
habe. Die Pflegeleistung könne nur als Sachleistung bewilligt werden. Hiergegen
wandte sich der Kläger mit der beim Sozialgericht Münster unter dem Az.: S 6 (15) P
2/00 geführten Klage.
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Mit weiteren Bescheiden vom 27.08.1999 und 19.04.2001 lehnte die Beklagte die
Erstattung von in Bulgarien entstandenen Pflegekosten ab. Hiergegen richtete sich die
beim Sozialgericht Münster unter dem Az.: S 6 (15) P 56/00 erhobene Klage.
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Das Sozialgericht erörterte beide Verfahren mit den Beteiligten am 15.11.2002. In der
vom Vorsitzenden und der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle gefertigten und
unterschriebenen Niederschrift über diesen Termin heißt es:
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"Im Termin zur Erörterung des Sachverhalts erscheinen: Der Kläger in Begleitung des
Herrn Rechtsanwalt Dr. T; für die Beklagte Herr I unter Bezugnahme auf die bei Gericht
hinterlegte Generalterminsvollmacht.
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Der Vorsitzende erörtert den Sachverhalt mit den Erschienenen. Der Kläger erteilt Herrn
Rechtsanwalt Dr. T Vollmacht auch für die Streitsache S 6 (15) P 56/00.
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Der Vorsitzende überreicht dem Vertreter der Beklagten sowie dem Bevollmächtigten
des Klägers eine Ablichtung der Niederschrift vom 21.12.2000 des LSG in der
Berufungssache L 16 P 3/00, eine Kopie des Aktenvermerks des Herrn A vom
02.01.2001 von der AOK Westfalen-Lippe sowie eine Kopie des
Bewilligungsbescheides vom 03.01.01. Der Vorsitzende regt die gütliche Beilegung des
Rechtsstreits an und schlägt der Beklagten vor, sich den Entscheidungen der
Pflegekasse der Barmer Ersatzkasse und der Pflegekasse der AOK Westfalen-Lippe
anzuschließen, die im Hinblick auf die im Termin am 21.12.2000 dargelegte Auffassung
des 16. Senats des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen für die Zeit
vor und nach dem hier streitigen Zeitraum vom 01.01.98 bis 31.12.99 eine fehlende
Sicherstellung der Pflege nicht mehr geltend gemacht haben. Nach dem Aktenvermerk
des Herrn A vom 02.01.2001 habe die Berichterstatterin des Senats die Auffassung
vertreten, dass die besonderen Umstände des Falles des Klägers entsprechend
gewürdigt werden sollten.
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Mit Rücksicht auf § 34 Abs. 1 Nr. 1 S. 2 SGB XI, wonach nur bei einem
vorübergehenden Auslandsaufenthalt von bis zu 6 Wochen im Kalenderjahr das
Pflegegeld weiter zu gewähren ist, dürfte allerdings im Hinblick auf die vom Kläger in
der Streitsache S 6 (15) P 56/00 mitgeteilten Auslandsaufenthalte der
Leistungsanspruch einzuschränken sein.
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Daraufhin schließen die Beteiligten auf Vorschlag des Vorsitzenden folgenden
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Vergleich:
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1. Die Beklagte verpflichtet sich, unter Abänderung des Bescheides vom 16.03.99 in der
Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13.07.2000 für die Zeit vom 01. Mai 1998
bis Ende 1999 dem Kläger Pflegegeld nach der Pflegestufe l zu zahlen.
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2. Der Kläger nimmt die gegen den Widerspruchsbescheid vom 19.04.2001 gerichtete
Klage (Az.: S 6 (15) P 56/00) zurück.
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3. Die Beteiligten sehen den unter dem Az. S 6 (15) P 2/00 geführten Rechtsstreit als
erledigt an.
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4. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
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5. Der Vertreter der Beklagten behält sich den Widerruf des Vergleichs für die Beklagte
durch schriftliche Erklärung zu den Gerichtsakten bis Ende des Jahres 2002 vor.
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vorgelesen und genehmigt
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gez. L gez. F
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Beginn des Termins: 11.00 h Ende des Termins: 11:45 h"
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Die Beklagte hat mitgeteilt, sie mache von ihrem Widerrufsrecht keinen Gebrauch
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(Schreiben vom 17.12.2002).
Der Kläger hat mit Schreiben vom 12.12.2002 und 23.12.2002 im Wesentlichen
vorgetragen, er verstehe nicht, weshalb das Pflegegeld erst ab 01.05.1998 gezahlt
werden solle. Schließlich sei er ab 01.01.1998 bei der Beklagten versichert gewesen.
Der Vergleich sei entprechend zu korrigieren. In dem Erörterungstermin sei zu keiner
Zeit im Gespräch gewesen, dass das Pflegegeld erst ab Mai 1998 gezahlt werden solle.
Die Klage mit dem Aktenzeichen S 6 (15) P 56/00 sei nicht von ihm zurück genommen
worden. Dies werde erst geschehen, wenn das Pflegegeld vom Beginn seiner
Mitgliedschaft an bei der Beklagten gezahlt werde. Mit Schreiben vom 12.01.2003 hat
der Kläger ausdrücklich den Vergleich widerrufen. Zur Begründung hat er sein
bisheriges Vorbringen wiederholt und vertieft sowie u.a. bestritten, Rechtsanwalt T
bevollmächtigt zu haben (Schreiben vom 23.01.2003).
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Das Sozialgericht hat die nunmehr unter dem Az: S 6 P 2/03 (vormals S 6 (15) P 56/00)
und S 6 P 3/03 (vormals S 6 (15) P 2/02) weiter geführten Klagen miteinander
verbunden (Beschluss vom 04.03.2003).
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Es hat mit Urteil vom 10.10.2003 festgestellt, dass die die Widerspruchsbescheide vom
13.07.2000 und 19.04.2001 betreffenden Verfahren durch den Abschluss des
Vergleichs vom 15.11.2002 erledigt sind. Die Beteiligten hätten auf Vorschlag des
Gerichts von der Möglichkeit, den Rechtsstreit vergleichsweise zu erledigen, Gebrauch
gemacht. Der Vergleich sei den Beteiligten vorgelesen und von Ihnen auch genehmigt
worden. Die Behauptungen des Klägers würden durch das Protokoll widerlegt. Der
Kläger müsse sich die in seiner Gegenwart abgegebenen Erklärungen seines
Bevollmächtigten zurechnen lassen. Anhaltspunkte dafür, dass der Vergleich aus
materiellrechtlichen oder aus prozessrechtlichen Gründen anfechtbar sein könnte, seien
nicht ersichtlich.
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Der Kläger hat gegen das ihm am 15.10.2003 zugestellte Urteil am 10.11.2003 Berufung
eingelegt. Das Urteil sei falsch. Er habe ausdrücklich die Anfechtung des Vergleichs
erklärt. Im Übrigen sei er der Auffassung, dass dieser Vergleich erst gar nicht zustande
gekommen sei. Er, wie auch Rechtsanwalt T hätten dem Vergleich nicht
ordnungsgemäß zugestimmt. Herr Rechtsanwalt Dr. T habe von ihm in der mündlichen
Verhandlung keine Vollmacht erhalten. Das Protokoll sei falsch. Eine schriftliche
Vollmacht liege auch nicht vor. Dies sei dem Gericht bekannt gewesen, so dass der
Vergleich nicht einmal wirksam zustande gekommen sei. Im Übrigen habe er den
Vergleich hilfsweise wegen Irrtums angefochten. Er hat in der Verhandlung ergänzend
angeführt, alle Feststellungen im Protokoll seien gelogen.
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Der Kläger beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 10.10.2003 zu ändern und die Beklagte zu
verurteilen, ihm 1. unter Abänderung des Bescheides vom 16.03.1999 in der Fassung
des Widerspruchsbescheides vom 13.07.2000 auch für die Zeit vom 01.01.1998 bis zum
30.04.1998 Pflegegeld nach der Pflegestufe l zu zahlen sowie 2. unter Abänderung des
Bescheides vom 27.08.1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
19.04.2001 in Bulgarien entstandene Pflegekosten zu erstatten.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Der für den Kläger überwiegend günstige
Vergleich sei wirksam zustande gekommen.
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Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakte sowie
auf den Inhalt der vom Beklagten beigezogenen Verwaltungsakten verwiesen. Diese
waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat mit dem
angefochtenen Urteil zu Recht festgestellt, dass die unter den Az.: S 6 P (15) 56/00 und
S 6 (15) P 2/00 geführten Rechtsstreitigkeiten durch Abschluss des im
Erörterungstermin vom 15.11.2002 geschlossenen Prozessvergleiches endgültig und
unwiderruflich erledigt sind.
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Der Vergleich ist formgerecht protokolliert worden (§§ 153 Abs. 1, 122
Sozialgerichtsgesetz -SGG- i. V. m. §§ 162 Abs. 1, 160 Abs. 3 Nr. 1 Zivilprozessordnung
-ZPO-) und aus dem Protokoll lässt sich etwas anderes als die Annahme des Vergleichs
auch nicht feststellen. Die Behauptung, der Vergleich sei entgegen dem
entsprechenden Vermerk in der Niederschrift nicht vorgelesen und genehmigt worden (§
162 Abs. 1 Satz 3 ZPO), wird durch das Protokoll, das der Richter und auch die
Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle unterzeichnet haben, widerlegt. Als öffentliche
Urkunde begründet das Sitzungsprotokoll Beweis für die Abgabe der darin
beurkundeten Erklärung, (§§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG, 415 Abs. 1 -ZPO-) und die
Beachtung der für die Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten kann auch nur
durch das Protokoll bewiesen werden (§ 160 Satz 1 ZPO).
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Es sind weder Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der in der Niederschrift
festgehaltene Vergleich nicht protokolliert, noch, dass der Vermerk nach § 162 Abs. 1
Satz 3 ZPO nachträglich in das Protokoll gesetzt wurde. Der Senat ist dem
Beweisantrag des Klägers, die in dem Erörterungstermin Anwesenden als Zeugen über
den Hergang des Erörterungstermins und zum Inhalt der protokollierten Feststellungen
zu hören, nicht gefolgt. Der emotional reagierende und auch schnell erregbare Kläger
bestreitet alle ins Protokoll aufgenommenen für ihn vermeintlich nachteiligen
Feststellungen und bezeichnet die protokollierten Feststellungen unsubtantiiert als
gelogen. Der Inhalt des Vergleichs verdeutlicht, dass dem Kläger gerade nicht die
Möglichkeit eingeräumt wurde, sich die Regelungen des Vergleichs noch zu überlegen.
Es wurde nämlich lediglich der Beklagten das Recht eingeräumt, den Vergleich zu
widerrufen. Der Kläger bzw. sein Bevollmächtigter haben angesichts der für sie
überwiegend positiven Regelung augenscheinlich auf die Widerrufsmöglichkeit auch
keinen Wert gelegt. Schließlich hat die Beklagte den in erster Linie für sie ungünstigen
Vergleich ausdrücklich nicht widerrufen und sie hat, wie auch der Bevollmächtigte des
Klägers, keine Einwände gegen die Richtigkeit des Protokolls erhoben. Im Übrigen
berührt ein Verstoß gegen die Anordnungen des § 162 Abs. 1 ZPO, hier insbesondere
das Unterbleiben des Verlesens, nicht die Wirksamkeit der festgestellten
Prozesshandlungen (BGH in MdR 1999, S. 1150 f). Beim Prozessvergleich gilt nur
deshalb Besonderes, weil er Prozesshandlung und zugleich materielles Rechtsgeschäft
ist (Doppelnatur). Die Beteiligten haben die im Protokoll festgehaltenen Erklärungen
auch gewollt. Der Kläger war in dem Erörterungstermin selbst anwesend und er war
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zudem auch anwaltlich vertreten. Für das Verfahren S 6 (15) P 2/03 liegt im Übrigen
eine vom Kläger am 02.01.2001 unterzeichnete Vollmacht vor, in der auch Rechtsanwalt
Dr. T als Bevollmächtigter aufgeführt ist. Für das Verfahren S 6 (15) P 56/00 hat der
Kläger Rechtsanwalt Dr. T die Vollmacht ausweislich der Niederschrift über den
Hergang des Erörterungstermins vom 15.11.2002 ausdrücklich erteilt. Ungeachtet des
vom Kläger in Frage gestellten Umfangs der Vollmacht (vgl. auch die Einschränkungen
der Vollmacht Bl. 122 GA), muss er sich nach Außen hin die Wirksamkeit der
Erklärungen seines Bevollmächtigten, die dieser in seiner Gegenwart gemacht und
denen er im Termin auch nicht erkennbar widersprochen hat, zurechnen lassen. Es ist
auch kein Anhalt dafür ersichtlich, dass der Kläger den Vergleichsgegenstand
möglicherweise infolge unzureichender Deutschkenntnisse nicht verstanden haben
könnte. Der Kläger verfügt über ausreichende Sprachkenntnisse und er ist diesem
Gedanken in der mündlichen Verhandlung auch ausdrücklich entgegengetreten.
Danach liegt es nahe, dass es sich der Kläger im Nachhinein einfach anders überlegt
hat. Ein Recht zum Widerruf steht dem Kläger allerdings nicht zu. Er kann seine
Erklärungen auch nicht anfechten. Die Vorschriften des bürgerlichen Rechts über die
Anfechtung von Willensmängeln finden keine Anwendung. Dies ist einhellige Meinung
in Rechtslehre und Rechtsprechung. Die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme des
Verfahrens (§ 179 SGG, §§ 579, 580 ZPO) liegen offensichtlich nicht vor.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Der Senat hat die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs.2 Nr.1
oder 2 SGG) nicht als gegeben angesehen.
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