Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 04.07.1997

LSG NRW (kläger, muttersprache, deutsch, überwiegende wahrscheinlichkeit, 1995, zeitpunkt, sgg, ungarisch, bezug, auskunft)

Landessozialgericht NRW, L 3 J 1/96
Datum:
04.07.1997
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
3. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 3 J 1/96
Vorinstanz:
Sozialgericht Düsseldorf, S 11 J 211/94
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts
Düsseldorf vom 7. November 1995 wird zurückgewiesen. Kosten sind
auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
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Der Kläger begehrt Altersruhegeld, insbesondere die Anerkennung der Zugehörigkeit
zum deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK).
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Der am ... 1926 in R ... (sächsisch R ...) Rumänien geborene Kläger ist Jude und
anerkannter Verfolgter. Seit 1948 lebt er in P .../Israel, dessen Staatsangehöriger er ist.
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Er beantragte am 20. Dezember 1990 die Gewährung von Altersruhegeld. Dazu gab er
unter Vorlage der schriftlichen Erklärungen von S ... B ... und A ... S ..., jeweils vom 21.
April 1991, sowie von S ... B ... und M ... F ..., jeweils vom 12. Dezember 1992 an, von
Mai 1943 bis Mai 1944 Anstreicherlehrling gewesen zu sein, Deutsch als seine
Muttersprache im persönlichen Bereich und entweder Ungarisch oder Rumänisch im
Beruf gesprochen zu haben. Die Beklagte holte eine Auskunft vom 18. September 1991
von der Heimatauskunftsstelle Rumänien beim Landesausgleichsamt Bayern ein. Sie
befragte ferner das israelische Finanzministerium darüber, welche Angaben der Kläger
zu seinem Sprachgebrauch bei dem Amt für Invalidenrehabilitation gemacht habe. In der
Auskunft vom 08. Dezember 1991 wird dargelegt, daß der Kläger unter dem 09. Juli
1982 erklärt habe, seine Muttersprache sei Ungarisch. Bei der von der Beklagten
veranlaßten Sprachprüfung erklärte der Kläger am 09. März 1992 dem israelischen
Finanzministerium, von 1933 bis 1939 eine Volksschule mit rumänischer
Unterrichtssprache und zweijährigem Deutschunterricht besucht zu haben und von 1942
bis 1943 Anstreicherlehrling gewesen zu sein. Mit den Eltern habe er sich deutsch, mit
den Geschwistern auch ungarisch und rumänisch verständigt. Nach dem
Sprachprüfungsbericht vom 12. März 1992 konnte der Kläger Deutsch wie eine
Muttersprache sprechen, langsam, mit vollem Verständnis lesen und mit Fehlern
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schreiben. Er habe zum Zeitpunkt der Auswanderung nach Meinung des Sprachprüfers
dem deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK) angehört.
Die Beklagte zog ferner, wie das Sozialgericht und der erkennende Senat, die
Entschädigungsakte des Klägers bei. Mit Bescheid vom 23. August 1993 lehnte sie den
Antrag des Klägers wegen der unterschiedlichen Angaben im israelischen und diesem
Rentenverfahren sowie der Bevölkerungs- und Sprachstruktur im Herkunftsgebiet des
Klägers ab.
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Mit dem am 08. September 1993 erhobenen Widerspruch machte der Kläger geltend,
daß die Angaben bei der Beantragung von Leistungen nach dem israelischen Gesez für
Invaliden der NS-Verfolgung von den israelischen Behörden seinerzeit nicht überprüft
worden seien. Da man für die beantragte Leistung nur dann berechtigt gewesen sei,
wenn man nicht deutscher Muttersprache war, seien seinerzeit reihenweise falsche
Angaben gemacht worden, um eine Leistung zu erhalten. Diese Tatsache könne
höchstens die Glaubwürdigkeit des Klägers in Frage stellen, auf die es bei der Prüfung
der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis nicht ankomme. Hierbei seien
die Ergebnisse, insbesondere der Sprachprüfung allein von Ausschlag gebender
Bedeutung. Diese Sprachprüfung sei überdurchschnittlich ausgefallen.
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Die Beklagte wies den Widerspruch durch Bescheid vom 11. Oktober 1994 im
wesentlichen mit der bereits dargelegten Begründung zurück.
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Mit der am 02. Dezember 1994 erhobenen Klage hat der Kläger sein Rentenbegehren
weiterverfolgt und dazu im wesentlichen sein bisheriges Vorbringen wiederholt. Das
Sozialgericht hat vom internationalen Suchdienst die Auskunft vom 26. Juli 1995
eingeholt und die Akten der Schwester des Klägers, S ... G ..., geborene M ..., sowohl
von der Beklagten als auch vom Amt für Wiedergutmachung in Saarburg beigezogen.
Es hat ferner die in dem Verfahren S 11 (8) J 13/94 dem Sozialgericht Düsseldorf vom
israelischen Finanzministerium unter dem 01. November 1994 und 25. Januar 1995
abgegebenen Erklärungen nebst Anlage den Beteiligten zur Kenntnis gebracht. Unter
Bezugnahme auf diese Erklärungen des israelischen Finanzministeriums hat der Kläger
schriftsätzlich beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 26. August 1993 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 11. Oktober 1994 zu verurteilen, ihm Altersruhegeld zu
gewähren.
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Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
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Durch Urteil vom 07. November 1995 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Auf
Tatbestand und Entscheidungsgründe des Urteils wird Bezug genommen.
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Der Kläger hat am 02. Januar 1996 gegen das ihm am 08. Dezember 1995 zugestellte
Urteil Berufung eingelegt. Mit ihr begehrt er vornehmlich unter Hinweis auf die
überdurch schnittlich gute Sprachprüfung bei dem israelischen Finanzministerium
weiterhin Altersruhegeld von der Beklagten. Er meint, den damals gemachten falschen
Angaben beim israelischen Finanzministerium komme kein sehr großes Gewicht zu, da
er dazu von israelischen Beamten des Finanzministeriums verleitet worden sei. Ob er
Grund dazu gehabt habe, falsche Angaben zu machen oder nicht, möge dahingestellt
bleiben, da ihm zu der von ihm gemachten Angabe geraten worden sei.
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Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers ist zu dem Verhandlungstermin mit
Empfangsbekenntnis am 12. Juni 1997 geladen worden. Weder er noch der Kläger sind
im Termin erschienen oder vertreten gewesen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
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Der weiteren Einzelheiten wegen wird Bezug genommen auf den Inhalt der Streitakte
und der den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten, sowie der Akte des
Amtes für Wiedergutmachung in Koblenz Az.: ..., der Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen ist.
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Entscheidungsgründe:
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Der Senat hat in Abwesenheit des Klägers verhandeln und entscheiden dürfen. Auf
diese Möglichkeit, die sich aus der in den §§ 124 Abs. 1, 126, 127 Sozialgerichtsgesetz
(SGG) getroffenen Regelung ergibt, ist der Prozeßbevollmächtigte des Klägers in der
ihm ordnungsgemäß zugestellten Ladung hingewiesen worden.
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Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht
die Klage abgewiesen. Der die Gewährung eines Altersruhegeldes ablehnende
Bescheid vom 26. August 1993 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.
Oktober 1994 ist rechtmäßig. Der Kläger ist durch diese Verwaltungsentscheidungen
nicht beschwert.
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Ein Anspruch auf Altersruhegeld nach § 1248 Reichsversicherungsordnung (RVO) hat
der Kläger nicht. Diese Regelung ist nach § 300 Abs. 2 des Sechsten Buches des
Sozialgesetzbuches (SGB VI), wie das Sozialgericht zutreffend entschieden hat, noch
anzuwenden, obwohl diese Regelung ab 31. Dezember 1991 außer Kraft getreten ist,
weil der Kläger Leistungen für die Zeit vor dem 01. Januar 1992 (Inkrafttreten des SGB
VI) begehrt und den entsprechenden Antrag auch bereits vor diesem Zeitpunkt gestellt
hat. Diese Leistung könnte der Kläger nur dann erhalten, wenn die vorgeschriebene
Wartezeit von 60 Kalendermonaten erfüllt ist. Dies könnte nur dann der Fall sein, wenn
der Kläger in Rumänien Versicherungszeiten zu rückgelegt hat, die nach dem
Fremdrentengesetz (FRG) anzuerkennen wären. Dies könnte nur dann geschehen,
wenn die Zugehörigkeit des Klägers zum dSK nachgewiesen oder zumindest glaubhaft
gemacht worden wäre (§ 17 a FRG i.d.F. des Rentenreformgesetzes 1992 i.V.m. §§ 20,
3 Abs. 1 Satz 3 WGSVG). Der Senat hält es - ebenso wie das Sozialgericht - nicht für
überwiegend wahrscheinlich, auch nicht im Sinne einer "guten Möglichkeit", daß der
Kläger im Zeitraum des Ausdehnens des nationalsozialistischen Einflußbereiches auf
sein Heimatgebiet dem dSK angehört hat. Nach dem Ergebnis der am 09. März 1992
beim israelischen Finanzministerium durchgeführten Sprachprüfung sprach der Kläger
nach Einschätzung des Prüfers zwar Deutsch wie eine Muttersprache, las es langsam,
mit vollem Verständnis und schrieb es, wenn auch mit Fehlern. Zu Recht meint der
Kläger zwar, ein gutes Prüfungsergebnis erzielt zu haben. Das aber läßt zur
Überzeugung des Senats jedoch noch nicht den Schluß zu, daß er zum
entscheidungserheblichen Zeitpunkt auch zum dSK gehört hat. Denn eine Sprache
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kann auch in Wort und Schrift erlernt werden, ohne daß es die Muttersprache ist.
Zur Überzeugung des Senats ist nach den eigenen Angaben des Klägers durchaus
nicht glaubhaft, daß Deutsch seine Muttersprache gewesen ist, die er in seinem
persönlichen Lebensbereich auch überwiegend verwendet hat. So hat er z.B. keine
Schule mit deutscher Unterrichtssprache besucht. Er hat allerdings während des
Schulbesuches eigenen Angaben zufolge während zweier Schuljahre Deutsch als
Unterrichtsfach gehabt. Mit seinen Geschwistern hat er nicht nur Deutsch, sondern auch
Ungarisch und/oder Rumänisch gesprochen. Demgegenüber steht nach seinen
Erklärungen fest, daß er mit seinen Eltern überwiegend sich in deutscher Sprache
unterhalten hat. Besonderes Gewicht kommt in diesem Zusammenhang seiner am 09.
Juli 1982 in dem israelischen Rentenverfahren abgegebenen Erklärung zu. Damals hat
er Ungarisch als seine Muttersprache bezeichnet. Daß dies auch tatsächlich so
gewesen sein könnte und welche Gründe dafür sprechen könnten, hat das Sozialgericht
in den Gründen des angefochtenen Urteils, auf das der Senat nach eigener Prüfung der
Sach- und Rechtslage Bezug nimmt (§ 153 Abs. 2 SGG), dargelegt.
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Daraus, daß der Kläger seinen heutigen Angaben zufolge, im israelischen
Rentenverfahren - vielleicht - falsche Angaben gemacht hat, können in diesem
Rentenverfahren entgegen seiner Meinung keine für ihn günstigen Schlüsse gezogen
werden. Wenn er damals im Jahre 1982 eine andere Sprache als Deutsch als seine
Muttersprache bezeichnet hat, dann hat er das sogar seinen eigenen Angaben zufolge
getan, um eine ihm eigentlich (möglicherweise) nicht zustehende Sozialleistung zu
erhalten. Wenn er dazu - aus welchen Gründen auch immer - von ihm als sachkundig
eingeschätzten Personen angehalten oder verleitet worden ist, dann ist jedenfalls nicht
die deutsche Rentenversicherung in Gestalt der Beklagten derjenige, der diesen
"Fehler" gut zu machen hätte. Allenfalls die Personen, die in diesem Zusammenhang
falsche, der Rechtslage jedenfalls nicht entsprechende Ratschläge oder wie diese
Äußerungen auch immer zu bezeichnen sein mögen, erteilt haben, könnten dazu
aufgerufen sein, den Kläger zu entschädigen. Besonders fragwürdig erscheint die
entsprechende Einlassung des Klägers hierzu deshalb, weil diese Erklärung gegenüber
dem israelischen Finanzministerium im Jahre 1982 abgegeben worden ist, zu einem
Zeitpunkt, zu dem "geschönte" Angaben unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt auch
nur andeutungsweise hätten angezeigt gewesen sein können. Zu diesem Zeitpunkt war
die möglicherweise von Anfang an mißverständliche Formulierung des Gesetzes,
nachdem in Israel ns-verfolgte Opfer entschädigt wurden, seit langer Zeit, nämlich dem
Jahre 1969, unmißverständlich formuliert worden war. Ergänzend weist der Senat
insofern auf die Gründe des angefochtenen Urteils des Sozialgerichts Düsseldorf vom
07. November 1995 hin (§ 153 Abs. 2 SGG).
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Es mag zwar richtig sein, daß der Kläger damals falsche und jetzt die richtigen Angaben
gemacht hat. Diese Angaben hat er jedenfalls eigenen Bekundungen zufolge gemacht,
um eine Besserstellung zu erreichen. Das wirft die Frage auf, welche Gründe dafür
sprechen, daß den in diesem Rentenverfahren gemachten Angaben ein höherer
Wahrhaftigkeitswert zukommen soll als den im Entschädigungsverfahren in Israel
dokumentierten Erklärungen. In diesem wie in jenem Verfahren wollte bzw. will der
Kläger etwas erreichen, das ihm möglicherweise nicht zugestanden hat respektive nicht
zusteht.
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Wegen dieser insgesamt so widersprüchlichen Angaben des Klägers, der allein zur
Überzeugung des Senats weiß, wie sein Leben in der damaligen Zeit abgelaufen und
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gestaltet gewesen ist, bleiben bei Abwägung aller Umstände so viele Zweifel, daß der
Senat eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, daß der Kläger zum fraglichen
Zeitpunkt dem dSK angehört hat, auch nicht im Sinne einer "guten Möglichkeit" hat
festgestellt werden können. Daran ändert auch nichts, das relativ gute Ergebnis der
Sprachprüfung im Jahre 1992 beim israelischen Finanzministerium.
Wie das Sozialgericht bereits zutreffend entschieden hat, können Ersatzzeiten nach §
1251 RVO nicht berücksichtigt werden, da für den Kläger Versicherungszeiten nicht
anerkannt werden können.
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Da das angefochtene Urteil nach allem der Sach- und Rechtslage entspricht, hat der
Kläger mit seiner Berufung keinen Erfolg haben können.
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Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.
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Es hat kein Anlaß bestanden, die Revision zuzulassen; denn die Voraussetzungen des
§ 160 Abs. 2 SGG sind nicht erfüllt.
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