Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 05.11.2007
LSG NRW: diabetes mellitus, vorläufiger rechtsschutz, hauptsache, ernährung, diät, auflage, glaubhaftmachung, behandlung, gewährleistung, erlass
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss vom 05.11.2007 (rechtskräftig)
Sozialgericht Köln S 22 AS 76/07 ER
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen L 20 B 148/07 AS ER
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 15.06.07 wird
zurückgewiesen. Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten. Der Antrag auf Bewilligung von
Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung von Rechtsanwältin N aus Q wird abgelehnt.
Gründe:
Die zulässige Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat (Beschluss vom 23.07.2007), ist nicht
begründet.
Das Sozialgericht hat es mit dem angefochtenen Beschluss zu Recht abgelehnt, die Antragsgegnerin im Wege der
einstweiligen Anordnung zu verpflichten, im Rahmen der Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch
Zweites Buch (SGB II) Mehrbedarf für aus medizinischen Gründen kostenaufwändigere Ernährung zu gewähren.
Nach § 86b Abs.2 S.2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine
einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen,
wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen
Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger
Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit voraus, bei
Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten.
Der geltend gemachte Hilfeanspruch (Anordnungsanspruch) und die besonderen Gründe für die Notwendigkeit der
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund), die Eilbedürftigkeit, sind glaubhaft zu machen (§§ 86b
Abs.2 S.4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO] ). Können ohne den vorläufigen Rechtsschutz
schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das
Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache nicht nur
summarisch sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage aus,
ist auf der Grundlage einer an der Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu
entscheiden. Die grundrechtlichen Belange der Antragsteller sind dabei umfassend in die Abwägung einzustellen
(BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05- NVwZ 2005, 927).
Auch unter Berücksichtigung dieser Vorgaben können die Voraussetzungen eines Anordnungsanspruches derzeit
nicht als glaubhaft gemacht angesehen werden. Zu Unrecht beruft sich der Antragsteller für die Behauptung, die
Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge hinsichtlich der Gewährung von
Krankenkostzulagen bei Diabetes seien nach wie vor verbindlich, auf die Entscheidung des Senates vom 23.06.2006
(L 20 B 109/06). In diesem Beschluss hat der Senat vielmehr dargelegt, dass aufgrund neuerer wissenschaftlicher
Erkenntnisse erhebliche Zweifel daran aufgekommen seien, ob bei einer Diabetes-Erkrankung vom Typ II Mehrkosten
aufgrund einer notwendigen besonderen Ernährung bestünden. Zwar stellten die Empfehlungen des Deutschen
Vereins nach weit verbreiteter Auffassung antizipierte Sachverständigengutachten dar, die verlässliche Informationen
zwecks einheitlicher Verwaltungshandhabung gäben. Von diesen könne aber abgewichen werden, wenn die dort
zugrunde gelegten Annahmen durch neuere Erkenntnisse erschüttert oder die dort festgelegten Mehrbeträge aufgrund
der Preisentwicklung überholt seien. Vor dem Hintergrund zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen spreche vieles
dafür, dass ein krankheitsbedingter Mehraufwand für unter Diabetes Mellitus IIa leidende Leistungsempfänger nicht
mehr bestehe. Der Senat hat in dem damals entschiedenen Fall entgegen der Vorinstanz mit der Begründung
Prozesskostenhilfe gewährt, dass im Hauptsacheverfahren noch Ermittlungen geboten seien. Er hat hingegen nicht
entschieden, dass die Empfehlungen des Deutschen Vereins, die in der Rechtsprechung im Übrigen uneinheitlich
beurteilt werden (vgl die Nachweise bei Münder, SGB II, 2. Auflage 2007, § 21 Rn. 28), im Sinne eines antizipierten
Sachverständigengutachtens weiter verbindlich anzuwenden sind.
Hiergegen dürfte bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Betrachtung auch sprechen, dass den zuletzt im
Jahre 1997 überarbeiteten Empfehlungen nunmehr die notwendige Aktualität fehlen dürfte (so auch LSG NW,
Beschluss vom 08.11.2006, L 19 B 83/06 AS ER).
Zweifelhaft erscheint zudem, ob der Antragsteller tatsächlich dem Diabetes Typus IIa zuzuordnen ist. Hiergegen
könnte das erhebliche Übergewicht von 109 kg bei 173 cm (Juni 2005) bzw 103 kg (Juni 2006) sprechen, das häufiger
mit einer Erkrankung des Typs IIb in Verbindung gebracht werden dürfte.
Zudem hat der Antragsteller nicht konkret vorgetragen, für welche Nahrungsmittel der geltend gemachte Mehrbedarf
bestimmt sein soll, und sich vielmehr auf die Behauptung beschränkt, etwa 28 EUR monatlich für Insulin und
Bluthochdruckmedikamente, sowie weitere 10 EUR zur Behandlung der Füße durch einen Pedologen zu verwenden.
Ein ernährungsbedingter Mehrbedarf kann mit diesen Behauptungen nicht glaubhaft gemacht werden. Zur
Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruches müßte hingegen zumindest substantiiert dargelegt werden, welche
Diät tatsächlich eingehalten wird und inwiefern diese erhebliche Mehrkosten verursacht (LSG NW, Beschluss vom
08.11.2006, L 19 B 83/06 AS ER). Daran fehlt es.
Bei dieser Sachlage muss die genaue Klärung der von den Antragstellern aufgeworfenen tatsächlichen und rechtlichen
Fragen dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Aus den vorgenannten Gründen war die Bewilligung der Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren zu versagen
(§§ 73a SGG, 114 ZPO).
Die Beschwerde gegen den die Prozesskostenhilfe ablehnenden Beschluss war ebenfalls zurückzuweisen.
Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar, § 177 SGG.