Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 22.11.2006

LSG NRW: arbeitsentgelt, verrechnung, gehalt, auflage, arbeitslosenhilfe, kreditinstitut, gleichbehandlung, gestaltungsspielraum, fürsorge, rechtskraft

Landessozialgericht NRW, L 1 B 40/05 AS
Datum:
22.11.2006
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
1. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 1 B 40/05 AS
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 30 AS 310/05
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Sozialgerichts
Dortmund vom 28.11.2005 wird zurückgewiesen. Kosten sind im
Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe:
1
Die zulässige Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat
(Nichtabhilfebeschluss vom 14.12.2005), hat keinen Erfolg. Denn das Sozialgericht hat
die Gewährung von Prozesskostenhilfe zu Recht mit dem angefochtenen Beschluss
abgelehnt, da die vom Kläger beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende
Aussicht auf Erfolg im Sinne des § 73a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in
Verbindung mit § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) hat.
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Der angefochtene Bescheid vom 10.06.2005 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 29.08.2005, mit dem die Beklagte dem Kläger unter
anderem für den Monat Mai 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes
nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II) unter Anrechnung des vom
Kläger im Monat April 2005 erarbeiteten, jedoch erst am 17.05.2005 zugeflossenen
Arbeitseinkommens gewährt hat, erweist sich nach der gebotenen summarischen
Prüfung als rechtmäßig. Ebenso wenig steht der Rechtmäßigkeit des angefochtenen
Bescheides entgegen, dass der Kläger mit dem Arbeitsentgelt einen Dispositionskredit
(teilweise) zurück geführt hat.
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Auch nach Einschätzung des Senats hat der Kläger im Monat Mai 2005 Einkommen im
Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II erzielt, das auf die ihm zustehenden Leistungen
anzurechnen war. Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind als Einkommen zu
berücksichtigen alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert mit Ausnahme der dort sowie
in § 11 Abs. 3 SGB II und in § 1 der Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie
zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld
II/Sozialgeld (Alg II-V) genannten Leistungen und Zuwendungen. Hierbei ist - wie es § 2
Abs. 2 Satz 1 Alg II-V zum Ausdruck bringt - grundsätzlich vom tatsächlichen Zufluss
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auszugehen. Demgegenüber ist nicht darauf abzustellen, ob Einkommen der
Bedarfsdeckung eines Hilfebedürftigen während eines bestimmten - ggf. abgelaufenen -
Zeitraums dienen soll (sog. "Zeitraumidentität"). Voraussetzung für den Einsatz von
Einkommen und Vermögen ist vielmehr deren bedarfsbezogene
Verwendungsmöglichkeit. Damit ist grundsätzlich bei der Prüfung der Bedürftigkeit einer
aktuellen Notlage ein aktuelles Einkommen gegenüberzustellen. Maßgeblich ist also,
ob der Lebensunterhalt in dem Zeitraum gedeckt ist, für den Leistungen beansprucht
werden (Bundesverwaltungsgericht - BVerwG, Urteil vom 18.02.1999 - Az.: 5 C 35/97,
NJW 1999, 416-417 zu § 76 Bundessozialhilfegesetz - BSHG -; vgl. auch
Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 09.08.2001 - Az.: B 11 AL 15/01 R, BSGE 88,
258-262 zu §§ 193, 194 des Dritten Buchs des Sozialgesetzbuches - SGB III - und Urteil
vom 18.02.1982 - Az.: 7 RAr 91/81, BSGE 53, 115-117 zu § 138 Abs. 1 Nr. 1
Arbeitsförderungsgesetz - AFG - sowie Berlit, juris-PR-SozR 3/2005, Anm. 2, m.w.N.).
Diese zu §§ 76 BSHG, 138 Abs. 1 Nr. 1 AFG und §§ 193, 194 SGB III entwickelten
Grundsätze sind auch im Rahmen des § 11 SGB II bzw. § 2 Abs. 2 Alg II-V (und ebenso
des § 82 SGB XII) anwendbar, da der Gesetz- bzw. Verordnungsgeber mit den
genannten Regelungen die Zuflusstheorie des BVerwG und des BSG festgeschrieben
hat (vgl. Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XI, 1. Auflage 2005, § 11 SGB II, Rn. 5
und § 13 SGB II, Rn.8).
Unter Berücksichtigung dieser Maßgaben war das am 17.05.2005 dem Konto der
Ehefrau des Klägers gutgeschriebene Arbeitsentgelt nicht deshalb vom
Einkommenseinsatz ausgenommen, weil damit eine Gehaltsforderung für den Monat
April 2005 erfüllt wurde. Ebenso wenig stellt sich die verspätete Zahlung als eine
Kompensation einer zuvor erfolgten Schlechterstellung dar, die infolge einer
zwischenzeitlichen Einkommenslosigkeit des Klägers und der hiermit verbundenen
Kontoüberziehung erfolgt ist. Maßgeblich ist vielmehr, dass einem im Monat Mai 2005
entstandenen Bedarf ein konkretes Einkommen gegenüber stand.
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Einer Anrechnung des Einkommens steht nicht entgegen, dass der Kläger das dem
Konto seiner Ehefrau zugeflossene Arbeitsentgelt dazu verwendet hat, um den dort
bestehenden Überziehungskredit (Soll am 16.05.2005: 2.472,29 Euro) teilweise
zurückzuführen. Insoweit handelt es sich lediglich um eine bestimmte Form der
Einkommensverwendung. Hierdurch verliert das Arbeitsentgelt nicht seinen Charakter
als Einkommen. Solange im Übrigen - trotz einer solchen Verrechnung - die
Überziehung eines Kontos möglich ist, muss sich ein Hilfesuchender die überwiesenen
Gelder als Einkommen anrechnen lassen (Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, a.a.O., §
82 SGB XII, Rn. 11; vgl. auch Sozialgericht - SG - Detmold, Beschluss vom 10.04.2006 -
Az.: S 10 AS 68/06 ER). Hier war trotz Verrechnung eine weitere Überziehung möglich.
Denn das Gehalt von 1.800,00 Euro und eine weitere Gutschrift von 300,00 Euro
konnten nicht zu einem vollständigen Ausgleich des bestehenden Solls führen.
Gleichwohl hat das Kreditinstitut weitere Abbuchungen geduldet (zwei Lastschriften zu
61,00 Euro und 105,00 Euro). Dieser Umstand zeigt, dass für den Kläger bzw. seine
Ehefrau die Möglichkeit weiterer Überziehungen bestand. Schließlich ist zu
berücksichtigen, dass der Einsatz von Einkommen zur Schuldentilgung im Rahmen der
Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes - wie bereits zuvor
nach den bis zum 31.12.2004 anwendbaren Regelungen zur Arbeitslosenhilfe -
grundsätzlich nicht zum Vorteil des Hilfesuchenden berücksichtigt werden darf.
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Die vorbeschriebene - strikt am jeweiligen Bedarf orientierte - Betrachtungsweise
begegnet entgegen der Ansicht des Klägers keinen verfassungsrechtlichen Bedenken
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(vgl. BVerwG, Urteil vom 19.02.2001 - Az.: 5 C 4/00, DVBl. 2001, 1065-1066 zu § 76
BSHG). Soweit der Kläger die Auffassung vertritt, dass die Anwendung des
Zuflussprinzips in Konstellationen der vorliegenden Art gegen Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz
(GG) verstoße, vermag dies nicht zu überzeugen. Denn eine sachlich ungerechtfertigte
Ungleichbehandlung gegenüber denjenigen Leistungsempfängern, denen Gehalt vor
Antragstellung bzw. vor Beginn des Zahlungszeitraums zufließt und die diesen Zufluss
verwenden, um (Schon-) Vermögen im Sinne des § 12 Abs. 2 SGB II anzusparen, liegt
nicht vor. Voraussetzung für die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Art. 3 Abs. 1
GG ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), dass
wesentlich Gleiches ungleich oder wesentlich Ungleiches gleich behandelt wird und
dass diese Ungleich- bzw. Gleichbehandlung verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt
werden kann (vgl. BVerfG, Urteil vom 24.04.1991 - Az.: 1 BvR 1341/90, BVerfGE 84,
133; Beschluss vom 15.07.1998 - Az.: 1 BvR 1554/89, 1 BvR 963/94, 1 BvR 964/94,
BVerfGE 98, 365). Der Kläger rügt mit seinem Einwand letztlich die unterschiedliche
Behandlung von Einkommen und Vermögen im Rahmen des gesetzlichen
Leistungssystems. Anknüpfungspunkt für die (begrenzte) Freistellung von Vermögen ist
der Umstand, dass bestimmte - in § 12 Abs. 2 und Abs. 3 SGB II genannte - Positionen
unter Zumutbarkeitsgesichtspunkten von einem Einsatz zur Bedarfsdeckung
ausgenommen werden. Demgegenüber ist Einkommen auf den jeweiligen Bedarf
anzurechnen, wobei jedoch ebenfalls Freibeträge (vgl. etwa § 30 SGB II) zu
berücksichtigen sind. Bei der Ausgestaltung von Systemen der sozialen Fürsorge, die
aus Steuermitteln finanziert werden, hat der Gesetzgeber einen weiten
Gestaltungsspielraum. Er ist nicht gehindert, unterschiedliche Rechtsfolgen an
unterschiedliche Tatbestände zu knüpfen. Es ist bereits sehr zweifelhaft, ob hier eine
Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte gegeben ist, weil der Kläger die
Anrechnung von Einkommen mit der Privilegierung von sog. Schonvermögen vergleicht.
Jedenfalls ist nicht erkennbar, dass der Gesetzgeber mit den Regelungen zum Einsatz
von Einkommen und Vermögen sein Gestaltungsermessen überschritten hat.
Allein der Umstand, dass der Kläger bei der hier gegebenen Konstellation aufgrund der
verspäteten Zahlung des Arbeitsentgelts keine Möglichkeit hatte, Vermögen
aufzubauen, führt ebenfalls nicht zur Verfassungswidrigkeit der Regelungen und der
darauf beruhenden Entscheidung der Beklagten. Schließlich ist zu berücksichtigen,
dass Leistungsstörungen im Verhältnis zu Dritten - hier: zum ehemaligen Arbeitgeber -
nicht zu Lasten des Trägers der Grundsicherung, der steuerfinanzierte Mittel verwaltet,
abgewickelt werden können.
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Ein Anspruch auf höhere Leistungen für den Monat Mai 2005 ergibt sich auch nicht aus
§ 24 SGB II ("Befristeter Zuschlag nach Bezug von Arbeitslosengeld"). Zwar sind
Konstellationen denkbar, in denen der Zuschlag etwa wegen der Anrechnung von
Anrechnung von Einkommen auf das Arbeitslosengeld II nach oben zu korrigieren ist
(vgl. Rixen in Eicher/Spellbrink, SGB II, 1. Auflage 2005, § 24, Rn. 10). Die
Voraussetzungen für die Gewährung des Zuschlages sind jedoch nicht erfüllt, weil der
Kläger zuletzt am 25.07.2000 - mithin außerhalb der Frist des § 24 SGB II -
Arbeitslosengeld bezogen hat.
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Im Übrigen hat die Beklagte in dem Widerspruchsbescheid den auf die Zeit vom
09.05.2005 bis 31.05.2005 entfallenden Anrechnungsbetrag rechnerisch zutreffend
ermittelt.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 127
11
Abs. 4 ZPO.
Der Beschluss kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 177 SGG).
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