Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 03.06.2003

LSG NRW: stationäre behandlung, aufrechnung, verrechnung, bezahlung, berechtigung, krankenkasse, krankenversicherung, rücknahme, abrechnung, leistungsverhältnis

Landessozialgericht NRW, L 5 KR 205/02
Datum:
03.06.2003
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
5. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 5 KR 205/02
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 16 (41,13) KR 295/01
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts
Dortmund vom 05.09.2002 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat der
Klägerin auch die Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte gegen einen Vergütungsan spruch
wegen einer stationären Behandlung mit einer Gegenforderung aufrechnen durfte.
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Der klagende Verein ist Träger des Krankenhauses für S ... H ... (im Folgenden:
Krankenhaus), in dem die bei der Beklagten versicherte Frau H ... (im Folgenden:
Versicherte) vom 19.03. bis 27.05.2000 behandelt wurde. Nachdem sie bereits zuvor
vom 25.02. bis 15.03.2000 in stationärer Behandlung in dem Krankenhaus gewesen
war, wurde sie im streitigen Zeitraum nach einer Aufnahme als Notfall wegen Arthritis
und Polyarthritis durch Staphylokokken behandelt, wobei mehrere Eingriffe im Knie
erfolgten. Die Beklagte erteilte eine unbefristete ("bis auf Weiteres") Kostenzusage für
die Dauer der medizinisch notwendigen Behandlung.
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Schon während des Aufenthalts der Versicherten im Krankenhaus überprüfte die
Beklagte deren medizinische Notwendigkeit; der von ihr eingeschaltete Medizi nische
Dienst der Krankenversicherung (MDK) in S ... bejahte zunächst in einer Stellungnahme
vom 25.03.2000 die Notwendigkeit einer weiteren stationä ren Behandlung. Nachdem
die Beklagte den MDK S ... am 03.05.2000 erneut um eine Prüfung der
Behandlungsdauer ersucht hatte, forderte dieser am 04.05.2000 Unterlagen vom
Krankenhaus an, die ihm erst im Juli zugingen. Dr. S ... kam in seinem Gutachten vom
12.09.2000 zu dem Ergebnis, eine stationäre Behandlung sei bis etwa 14 Tage nach
dem letzten Eingriff (26.04.2000) erforderlich gewesen. Die weitere Mobilisation und
Überwachung sei dann auch in einer Anschlussheilbehandlung möglich gewesen.
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Auf der Grundlage dieses Gutachtens forderte die Beklagte, die bereits am 20.06.2000
den für die Behandlung geforderten Betrag von 23.444,82 DM begli chen hatte, mit
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Schreiben vom 28.09.2000 für 16 Tage (11.05. bis 26.05.2000) die Behandlungskosten
in Höhe von 5.436,48 DM zurück und kündigte an, sie werde mit ihrer Forderung gegen
Vergütungsansprüche des Krankenhauses auf rechnen, wenn bis zum 12.10.2000 keine
Zahlung erfolge. Mit Rechnung vom 30.10.2000 forderte das Krankenhaus für die
Behandlung der Versicherten S ... einen Betrag von 5.055,12 DM und mit Rechnung
vom 31.10.2000 für die Behandlung des Versicherten J ... einen Betrag von 1.552,10
DM. Die Be klagte erklärte mit Schreiben vom 15.11.2000 die Aufrechnung ihrer
Forderung gegen die Ansprüche aus den genannten Rechnungen und überwies den
Restbetrag.
Der Kläger hat am 18.09.2001 Klage erhoben. Zur Begründung hat er vorgetra gen, die
stationäre Behandlung der Versicherten sei während der gesamten Zeit erforderlich
gewesen. Ferner sei die Beklagte schon aufgrund der erteilten unbefristeten
Kostenzusage zur Bezahlung der Rechnung verpflichtet gewesen. Ein zur Aufrechnung
geeigneter Rückforderungsanspruch habe daher nicht be standen. Die Beklagte hat
demgegenüber darauf verwiesen, dass ihre Kosten übernahme nur für die Dauer der
medizinisch notwendigen Krankenhausbehandlung gegolten habe. Sie habe das
Behandlungsgeschehen auch zeitnah überprüft. Zu einer Verzögerung sei es nur
deshalb gekommen, weil das Krankenhaus erst nach über zwei Monaten die
erforderlichen Unterlagen an den MDK gesandt habe. Eine Verrechnung mit
Gegenansprüchen sei nach den in Nordrhein-Westfalen geltenden vertraglichen
Bestimmungen zulässig.
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Mit Urteil vom 05.09.2002 hat das Sozialgericht die Beklagte zur Zahlung von 5.436,48
DM (2.775,84 Euro) verurteilt, da sie gegen die Zahlungsansprüche des Klägers nicht
habe aufrechnen dürfen. Wegen der Einzelheiten der Begrün dung wird auf das Urteil
verwiesen.
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Im Berufungsverfahren vertritt die Beklagte die Auffassung, auch nach den in Nordrhein-
Westfalen geltenden Vertragsbestimmungen sei eine Aufrechnung mög lich. Die
grundsätzliche Möglichkeit einer Aufrechnung mit Gegenforderungen habe das
Bundessozialgericht (BSG) im Urteil vom 23.07.2002 (B 3 KR 64/01 R) bejaht. Eine
Aufrechnung sei hier insbesondere deshalb möglich gewesen, weil es sich um eine
Beanstandung rechnerischer Art handele, denn das Krankenhaus habe zu hohe Kosten
verlangt, die nunmehr zurückgefordert würden.
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Die Beklagte beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 05.09.2002 zu ändern und die Klage
abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
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Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, der Ge genstand der
mündlichen Verhandlung gewesen ist.
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Entscheidungsgründe:
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Die Berufung der Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet, denn das Sozialgericht
hat im Ergebnis der Klage zu Recht stattgegeben.
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Die Klage ist als Leistungsklage i.S.d. § 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig,
da es sich um einen Parteienstreit im Gleichordnungsverhältnis handelt (vgl. BSG SozR
3-2500 § 112 Nr. 1; LSG NRW, Urteil vom 12.11.2002 - L 5 KR 46/00 -). Soweit in dem
Umstand, dass der Kläger zunächst seinen Zahlungsanspruch aus der Behandlung der
Versicherten und später im Schrift satz vom 13.02.2002 aus der Behandlung der
Versicherten S ... und J ... hergeleitet hat, eine Klageänderung i.S.d. § 99 Abs. 1 SGG zu
sehen wäre, wäre diese zulässig, da die Beklagte eingewilligt hat.
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Dem Kläger steht für die Behandlung der Versicherten S ... und J ... noch
Vergütungsansprüche in Höhe von 5.436,48 DM (2.775,84 Euro) zu. Rechtsgrundlage
dieser Ansprüche ist § 109 Abs. 4 Satz 2 Fünftes Buch Sozialgesetz buch (SGB V)
i.V.m. dem aus § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V folgenden Leistungsanspruch der
Versicherten, ohne dass insoweit zur rechtlichen Begründung auf den auf Landesebene
nach § 112 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB V geschlossenen Vertrag zurückgegriffen werden
müsste (LSG NRW, Urteil vom 27.03.2003 - L 5 KR 141/01 -). Die Berechtigung der
Forderungen aus den Rechnungen vom 30.10.2000 und 31.10.2000 wird von der
Beklagten, die auch einen Teilbetrag überwiesen hat, nicht in Frage gestellt.
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Entgegen der Auffassung der Beklagten sind die Forderungen nicht durch die erklärte
Aufrechnung mit dem geltend gemachten Rückforderungsanspruch aus der Behandlung
der Versicherten erloschen (§ 389 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)). Die Beklagte durfte
gegen den Zahlungsanspruch des Klägers mit ihrer Forde rung nicht aufrechnen. Das
ergibt sich freilich nicht aus § 390 BGB, denn die vom Sozialgericht angenommene
Einrede des nicht erfüllten Vertrages (§ 320 Abs. 1 BGB) betrifft nur Leistungen aus
einem gegenseitigen Vertrag, die in einem Gegenseitigkeitsverhältnis stehen (vgl.
Palandt-Heinrichs, BGB, 62. Aufl., § 320 Rdn. 4). Weder der in Nordrhein-Westfalen ab
01.01.1997 geltende Vertrag nach § 112 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB V vom 06.12.1996 (im
Folgenden: Sicherstellungsvertrag-SVTr) noch der Vertrag nach § 112 Abs. 2 Satz 1 Nr.
2 SGB V vom 06.03.1991 begründen ein solches gegenseitiges Leistungsverhältnis.
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Ein Aufrechnungsverbot ergibt sich aber aus § 15 Abs. 4 Satz 2 SVTr, der auch für die
Krankenkassen außerhalb Nordrhein-Westfalens gilt, die nicht Mitglied eines der
vertragschließenden Verbände (§ 112 Abs. 1 SGB V) sind (vgl. BSG SozR 3-2500 § 39
Nr. 4). Nach der genannten Vorschrift ist die Verrechnung überzahlter Beträge (nur)
zulässig bei Beanstandungen rechnerischer Art sowie nach Rücknahme der
Kostenzusage und falls eine Abrechnung auf vom Krankenhaus zu vertretenden
unzutreffenden Angaben beruht. Eine Beanstandung rechneri scher Art liegt dem
Rückforderungsanspruch, dessen sich die Beklagte berühmt, nicht zugrunde, denn sie
macht keinen Rechenfehler geltend, sondern bezweifelt die Notwendigkeit der Dauer
der stationären Behandlung der Versicherten, greift also die sachliche Berechtigung der
Höhe der geforderten und gezahlten Vergütung an. Hinsichtlich solcher
Beanstandungen sachlicher Art schließt § 15 Abs. 4 Satz 2 SVTr eine Verrechnung aus
(so schon LSG NRW, Urteil vom 27.03.2003 - L 5 KR 141/01 -). Eine Aufrechnung kann,
soweit kein gesetz liches Verbot entgegensteht, durch Vertrag ausgeschlossen oder
beschränkt
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werden, wobei ein vertragliches Aufrechnungsverbot ausdrücklich, aber auch
stillschweigend vereinbart sein kann (vgl. Münchener Kommentar - von Feldmann, BGB,
Bd. II, 3. Aufl., § 387 Rdn. 40; Palandt-Heinrichs, § 387 Rdn. 40). In der genannten
Regelung ist die Vereinbarung einer Beschränkung der Aufrechnung auf die
ausdrücklich erwähnten Fälle und damit ein Aufrech nungsverbot bei Beanstandungen
sachlicher Art zu sehen.
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Während § 15 Abs. 4 Satz 1 SVTr ausdrücklich festlegt, dass Beanstandungen
rechnerischer und sachlicher Art auch nach Bezahlung der Rechnung geltend gemacht
werden können, trifft Satz 2 hinsichtlich der Verrechnung die zitier te differenzierende
Regelung. Diese kann vor dem Hintergrund des Satz 1 nur dahin verstanden werden,
dass die Aufrechnung bei sachlichen Beanstandungen nicht möglich sein soll. Hierfür
spricht auch, dass in den Fällen, in denen über Beanstandungen rechnerischer Art
hinaus die Verrechnung erlaubt wird, ein Fehlverhalten des Krankenhauses
vorausgesetzt wird. Eine Rücknahme der Kostenzusage ist nach § 6 Abs. 5 SVTr
nämlich nur möglich, wenn sie auf vom Krankenhaus zu vertretenden unzutreffenden
Angaben beruht. Eine Verrechnung überzahlter Beträge soll nach dem SVTr somit - von
Rechenfehlern abgesehen - nur dann erfolgen, wenn das Krankenhaus schuldhaft ("zu
vertretende") unzu treffende Angaben gemacht und deshalb die Krankenkasse die
Rechnung bezahlt hat. Soweit nach Bezahlung der Rechnung lediglich die
medizinische Notwendigkeit der Krankenhausbehandlung bzw. deren Dauer, also die
sachliche Berechtigung des Vergütungsanspruchs im Streit sind, ohne dass - wie im
vorliegenden Fall - das Krankenhaus insoweit durch schuldhaft unzutreffende Angaben
(etwa zu den Befunden oder Behandlungsmaßnahmen) die Krankenkasse zur
Bezahlung der Rechnungen veranlasst hätte, kann diese mit dem vermeintlichen
Rückforderungsanspruch nicht gegen Zahlungsansprüche des Krankenhauses
aufrechnen.
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Dass die Vertragsparteien in Nordrhein-Westfalen insoweit eine Einschränkung der
Aufrechnungsmöglichkeiten gewollt haben, zeigt auch der Vergleich mit den
Sicherstellungsverträgen anderer Länder. Diese erlauben entweder ausdrücklich
uneingeschränkt die Verrechnung bei Beanstandungen rechnerischer und sach licher
Art, die nach Bezahlung der Rechnung geltend gemacht werden (vgl. § 18 Abs. 4 Satz 4
SVTr Brandenburg, § 19 Abs. 2 SVTr Baden-Württemberg, § 13 Abs. 6 Satz 5 SVTr
Niedersachsen, § 9 Abs. 6 Satz 4 SVTr Rheinland-Pfalz) oder sie treffen zur
Verrechnung keine Aussage, so dass ebenso die Aufrechnung uneingeschränkt erlaubt
ist (vgl. § 15 Abs. 2 SVTr Hamburg, § 14 Abs. 3 SVTr Saarland). Die gegenüber den
anderen Ländern differenzierende Regelung in Nordrhein-Westfalen kann somit nur als
(stillschweigende) Einschränkung der Aufrechnung bei nachträglichen Beanstandungen
sachlicher Art verstanden werden.
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Für diese Differenzierung gibt es auch sachliche Gründe: Wenn eine Kranken kasse
nachträglich die Berechtigung einer schon erfüllten Forderung in Frage stellt, soll sie
sich nicht durch die Aufrechnung gegen unzweifelhaft be stehende Forderungen des
Krankenhauses einen "Vollstreckungstitel" verschaf fen und dadurch die Liquidität des
Krankenhauses gefährden können; vielmehr ist sie gehalten, ihren vermeintlichen
Anspruch klagweise geltend zu machen.
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Gesetzliche Verbote, die einem vertraglichen Aufrechnungsverbot im SVTr
entgegenstünden, sind nicht ersichtlich; eine solche Vereinbarung bewegt sich auch im
Rahmen der Ermächtigung des § 112 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB V.
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Da somit die erklärte Aufrechnung unzulässig war, kann offen bleiben, ob der
Rückforderungsanspruch, dessen sich die Beklagte berühmt, tatsächlich be steht.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG (in der hier noch anzuwen denden
Fassung bis 01.01.2002).
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Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Die Auslegung der Vorschriften
des SVTr betrifft nichtrevisibles Landesrecht (§ 162 SGG).
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