Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 10.01.2011

LSG NRW (beschwerde, bewilligung, sgg, antrag, bezug, anordnung, verfassungsbeschwerde, zpo, gewährleistung, vorläufig)

Landessozialgericht NRW, L 20 AY 179/10 B
Datum:
10.01.2011
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
20. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 20 AY 179/10 B
Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 35 AY 202/10 ER
Sachgebiet:
Sozialhilfe
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des
Sozialgerichts Köln vom 17.11.2010 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Der Antrag der Antragstellerin auf Gewährung von Prozesskostenhilfe
für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.
Gründe:
1
I.
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Die 1955 geborene Antragstellerin ist kanadische Staatsangehörige. Sie reiste im
Oktober 2005 nach Deutschland ein. Seinerzeit war sie mit dem 1947 geborenen
deutschen Staatsangehörigen IX seit dem 25.06.2004 verheiratet. Seit dem 17.01.2007
lebte sie von ihm getrennt. Zum 26.06.2007 stellte sie, nachdem ihr zwischenzeitlich die
Abschiebung nach Kanada angedroht worden war, die eheliche Lebensgemeinschaft
wieder her. Mit Schriftsatz vom 10.12.2007 beantragte sie beim Familiengericht L die
Ehescheidung. Dabei gab sie an, ihr Ehemann habe sich vom 26.06. bis 15.10.2007
wegen Alkoholkrankheit in einer Fachklinik stationär behandeln lassen. Anschließend
hätten sie noch einmal ein eheliches Zusammenleben versucht, was jedoch bereits
nach kurzer Zeit gescheitert sei. Sie versuche derzeit, die gemeinsame Wohnung so
kurzfristig wie möglich zu verlassen. Am 21.01.2008 zog die Antragstellerin in ein L-er
Frauenwohnheim. Nachdem gutachterlich das Vorliegen einer psychiatrischen
Erkrankung diagnostiziert worden war, in deren Folge derzeit eine Rückkehr ins
Heimatland nicht möglich ist, erhielt die Antragstellerin im Februar 2010 eine
Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG).
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Die Antragstellerin, die zunächst bis zum 28.02.2009 Leistungen nach dem Zweiten
Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) bezogen hatte, erhält seit dem 01.03.2009 Leistungen
nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Unter dem 14.09.2010 legte sie durch
ihren Prozessbevollmächtigten Widerspruch gegen einen Bescheid vom 02.06.2010
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über die Leistungsgewährung für den Monat Juli 2010 ein und wies gleichzeitig darauf
hin, dass für die Monate August und September ein schriftlicher Bescheid nicht vorliege.
Ihr stünden Leistungen nach § 2 AsylbLG anstelle der gewährten Leistungen nach § 3
AsylbLG zu; da sie sich seit mehr als vier Jahren in Deutschland aufhalte, sei die
Vorbezugsfrist des § 2 Abs. 1 AsylbLG erfüllt.
Am 29.10.2010 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht beantragt, die
Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr vorläufig
Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG unter Anrechnung bereits erbrachter Leistungen zu
gewähren. Zugleich hat sie die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt. Sie hat
vorgetragen, sie erfülle die Vorbezugsfrist von 48 Monaten nach § 2 Abs. 1 AsylbLG. Im
Hinblick auf die ihr erteilte Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG könne auch
nicht von einem rechtsmissbräuchlichen Verhalten im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG
ausgegangen werden. Über ihren Widerspruch sei noch nicht entschieden worden.
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Die Beklagte hat demgegenüber darauf hingewiesen, dass nach der Rechtsprechung
des Bundessozialgerichts (BSG) die Vorbezugsfrist des § 2 Abs. 1 AsylbLG allein durch
den Bezug von Leistungen nach § 3 AsylbLG erfüllt werden könne; die Antragstellerin
erfülle diese Vorbezugsfrist noch nicht.
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Auf einen Hinweis des Sozialgerichts auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG)
vom 17.06.2008 - B 8/9 b AY 1/07 R hat die Antragstellerin ergänzend vorgetragen, die
Entscheidung des BSG sei aus ihrer Sicht mit dem Willkürverbot aus Art. 3 Grundgesetz
(GG) nicht zu vereinbaren. Wegen der diesbezüglichen Einzelheiten wird auf den
Schriftsatz der Antragstellerin vom 17.11.2010 Bezug genommen.
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Mit Beschluss vom 17.11.2010 hat das Sozialgericht den Antrag auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung sowie die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Auf
den Beschluss wird Bezug genommen.
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Gegen den am 25.11.2010 zugestellten Beschluss hat die Antragstellerin am
17.12.2010 Beschwerde eingelegt; für das Beschwerdeverfahren beantragt sie darüber
hinaus die Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Sie trägt vor, sie begehre Leistungen
nach § 2 AsylbLG auch für Folgemonate; die Antragsgegnerin habe zu verstehen
gegeben, dass sie die Leistungen auch für die nächsten zweieinhalb Jahre auf dem
Niveau des § 3 AsylbLG halten wolle. Soweit das Sozialgericht die Bewilligung von
Prozesskostenhilfe abgelehnt habe, überdehne es die Anforderungen für eine solche
Gewährung. Es sei aufgezeigt worden, dass das Urteil des BSG vom 17.06.2008 - B 8/9
b AY 1/07 R auf ihren Fall nicht übertragbar sei. Insofern spreche zumindest eine
gewisse Wahrscheinlichkeit für ein Obsiegen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren;
dies müsse eine Bewilligung von Prozesskostenhilfe zur Folge haben. In der Sache
selbst führt die Antragstellerin aus, der Senat habe mit Beschluss vom 26.07.2010 - L 20
AY 13/09 (Aussetzungs- und Vorlagebeschluss im Sinne von Art. 100 Abs. 1 GG)
Leistungen nach § 3 AsylbLG als evident unzureichend angesehen. Die Nachteile, die
sie bei einem Abwarten der Hauptsacheentscheidung in Kauf nehmen müsste, seien so
erheblich, dass die Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines
Anordnungsanspruches nur sehr gering sein könnten. Es sei ihr nicht zuzumuten,
weitere zweieinhalb Jahre auf offensichtlich unzureichende Leistungen nach § 3
AsylbLG verwiesen zu werden, obwohl sie einen Anspruch auf Leistungen nach § 2
Abs. 1 AsylbLG habe. Ein anderslautender Beschluss des Senats in Sachen L 20 AY
67/10 B ER sei ihr bekannt. Sie wolle in ihrem Verfahren jedoch das
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Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anrufen; im Unterschied zum Verfahren L 20 AY
67/10 B ER habe sie nicht nur noch wenige Wochen, sondern Jahre des Bezuges
unzureichender Leistungen nach § 3 AsylbLG zu gewärtigen.
II.
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Die Beschwerde der Antragstellerin ist sowohl hinsichtlich der Ablehnung des Erlasses
einer einstweiligen Anordnung (L 20 AY 178/10 B ER) als auch hinsichtlich der
Versagung von Prozesskostenhilfe (L 20 AY 179/10 B) zulässig, aber unbegründet.
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1. Der Mindestbeschwerdewert von 750,01 EUR (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. § 144 Abs. 1
Satz 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) wird erreicht. Denn die Antragstellerin begehrt
eine zukunftsoffene einstweilige Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Zahlung höherer
Leistungen nach § 2 AsylbLG anstelle derjenigen nach § 3 AsylbLG.
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2. Doch auch dann, wenn man die Beschwerde als unzulässig ansehen wollte, ist sie
jedenfalls zugleich unbegründet.
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a) Das Sozialgericht hat zu Recht die einstweilige Verpflichtung der Antragsgegnerin
zur Erbringung von Leistungen nach § 2 AsylbLG anstelle der gewährten Leistungen
nach § 3 AsylbLG abgelehnt. Der Antragstellerin ist dabei selbst klar, dass die
höchstrichterliche Rechtsprechung (Urteil des BSG vom 17.06.2008 - B 8/9 b AY 1/08 R)
zur Erfüllung der Vorbezugsfrist des § 2 Abs. 1 AsylbLG einzig den tatsächlichen Bezug
von Leistungen nach § 3 AsylbLG ausreichen lässt. Auch der Senat hat bereits
mehrfach entschieden, dass eine erweiternde Auslegung des § 2 Abs. 1 AsylbLG
dahingehend, dass etwa Zeiten der eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts
oder des Bezugs anderer Sozialleistungen - wie etwa der von der Antragstellerin
vorbezogenen Leistungen nach dem SGB II - nicht ausreichen, um die gesetzliche
Vorbezugsfrist von 48 Monaten zu erfüllen (vgl. nur den von der Antragstellerin selbst
angesprochenen Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Senats vom 26.07.2010 - L
20 AY 13/09, der zu dieser Frage ausführlich Stellung nimmt). Mit ihrem Hinweis, sie
beabsichtige eine Anrufung des BVerfG im Anschluss an die Entscheidung des Senats,
gibt die Antragstellerin auch selbst zu erkennen, dass sie nicht davon ausgeht, dass der
Senat in Anwendung des einfachen Rechts höhere Leistungen zusprechen kann, als sie
in Anwendung von § 3 AsylbLG derzeit erhält.
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Wenn der Senat im Aussetzungs- und Vorlagebeschluss vom 26.07.2010 - L 20 AY
13/09 die Leistungen nach § 3 AsylbLG als für eine Gewährleistung des
menschenwürdigen Existenzminimums evident unzureichend angesehen hat, so ist es
ihm gleichwohl nicht möglich, der Antragstellerin durch einstweilige Anordnung vorläufig
höhere als die gesetzlich genau bezifferten Leistungen nach § 3 AsylbLG
zuzusprechen. Der Senat hat dies bereits in einem entsprechenden Fall mit Beschluss
vom 01.06.2010 L 20 AY 4/10 B ER entschieden; im dazugehörigen
Anhörungsrügeverfahren L 20 AY 47/10 B ER RG hat der Senat im Beschluss vom
04.08.2010 hierzu nochmals ergänzende Ausführungen gemacht. Das BVerfG hat die
gegen den Beschluss des Senats L 20 AY 4/10 B ER erhobene
Verfassungsbeschwerde mit Beschluss vom 30.10.2010 - 1 BvR 2037/10 nicht zur
Entscheidung angenommen. Es hat ausgeführt, die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit
könnten unmittelbar gestützt auf die Verfassung, insbesondere auf das aus Artikel 1
Abs. 1 i.V.m. mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikel 20 Abs. 1 GG folgende Grundrecht
auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, keinen (weiteren)
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Leistungsanspruch zusprechen. Denn die Konkretisierung dieses Grundrechts bleibe
dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten; wie dieser den Umfang der
Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums bestimme, oder ob er das
Existenzminimum durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichere, bleibe
grundsätzlich ihm überlassen. Auch eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG komme in
Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht in Betracht, da in diesen Verfahren
nur eine vorläufige Klärung herbeizuführen sei, bei der möglichst zeitnah entschieden
werde, welche Leistungspflichten einstweilen gelten sollten; eine solche zeitnahe
Klärung sei in einem Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG jedoch nicht zu erwarten. Dem
Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin ist diese Entscheidung des BVerfG (wie er
dem Berichterstatter des Senats am 05.01.2011 telefonisch bestätigt hat) auch bekannt.
Allerdings behält sich die Antragstellerin gleichwohl die Anrufung des BVerfG vor, da
sie der Ansicht ist, ihr Fall sei anders gelagert und könne deshalb zu einer anderen
verfassungsgerichtlichen Bewertung führen.
b) Konnte der Antrag der Antragstellerin aus Gründen, die sie bereits dem Beschluss
des Senats vom 01.06.2010 - L 20 AY 4/10 B ER sowie dem Beschluss vom 04.08.2010
im dazugehörigen Anhörungsrügeverfahren L 20 AY 47/10 B ER RG entnehmen konnte,
im Zeitpunkt der Antragstellung beim Sozialgericht (29.10.2010) nicht mehr
aussichtsreich erscheinen, so fehlte dem Antrag zugleich eine hinreichende
Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung i.S.v. § 73a SGG i.V.m. § 114 Satz 1
Zivilprozessordnung (ZPO). Eine Bewilligung von Prozesskostenhilfe hat das
Sozialgericht deshalb zutreffend abgelehnt.
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III.
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Aus den gleichen Gründen wie zu II.b) ausgeführt fehlt auch der Beschwerde eine
hinreichende Erfolgsaussicht i.S.v. § 73a SGG i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO. Auch im
Beschwerdeverfahren kommt deshalb eine Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht in
Betracht. Dass die Antragstellerin von der Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde
Gebrauch zu machen beabsichtigt, ändert nichts daran, dass nach Auffassung des
Senats das Begehren der Antragstellerin keine hinreichende Erfolgsaussicht aufweist;
die Antragstellerin begehrt ersichtlich die einstweilige Zuerkennung von Leistungen
contra legem, während der Senat an die Leistungsvorschriften des AsylbLG gebunden
ist. Auch eine Aussetzung und Vorlage i.S.v. Art. 100 Abs. 1 GG kommt in Verfahren des
einstweiligen Rechtsschutzes von vornherein nicht in Betracht. Deswegen ist es für die
Zwecke des vorliegenden Verfahrens auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes
auch unbeachtlich, dass der Senat selbst § 3 AsylbLG für verfassungswidrig hält.
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IV.
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Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich der Beschwerde gegen die Versagung von
Prozesskostenhilfe auf § 73a SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO, im Übrigen auf einer
entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
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V.
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Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG). Der
sozialgerichtliche Instanzenzug ist mit der vorliegenden Beschwerdeentscheidung
vielmehr abgeschlossen. Die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde nach Art. 93
Abs. 1 Nr. 4a GG bleibt hiervon unberührt.
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