Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 15.10.2008

LSG NRW: unfallversicherung, altersrente, besondere härte, private vorsorge, öffentliches recht, berufsausbildung, arbeitsunfall, eigentumsgarantie, jugendlicher, hilfsarbeiter

Landessozialgericht NRW, L 8 R 197/07
Datum:
15.10.2008
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
8. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 8 R 197/07
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 46 (26) R 66/06
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund
vom 27.06.2007 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind
auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
1
Der Kläger begehrt die Zahlung von Regelaltersrente ohne Anrechnung der von ihm
bezogenen Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung.
2
Aufgrund eines Arbeitsunfalls am 09.02.1956 erhielt und erhält der am 00.00.1940
geborene Kläger aus der gesetzlichen Unfallversicherung eine Verletztenrente bei einer
MdE in Höhe von 50%. Die Höhe der monatlichen Zahlung beträgt seit dem 01.07.2003
785,35 EUR; ihr liegt ein Jahresarbeitsverdienst (JAV) von 28.272,56 EUR zugrunde.
Zum Zeitpunkt des Unfalls war der Kläger etwas mehr als 10 Monate als jugendlicher
Hilfsarbeiter bei der Firma X GmbH, X zu einem durchschnittlichen Arbeitsverdienst von
6,89 DM täglich als jugendlicher Hilfsarbeiter beschäftigt. Der mit Bescheid vom
21.07.1958 ab dem 19.04.1957 gewährten Verletztenrente wurde jedoch der fiktive JAV
eines volljährigen Versicherten in der Höhe des Ortslohns mit einem
Tagesarbeitsverdienst von 10,- DM zugrundegelegt. Schließlich hob die
Berufsgenossenschaft den der Rentenberechnung zugrunde liegenden JAV mit
Bescheid vom 08.06.1962 anlässlich des 21. Geburtstages des Klägers ab dem
27.10.1961 auf 7.939,36 DM an. Diese Festsetzung ging auf eine Auskunft der X GmbH
zur voraussichtlichen Gehaltsentwicklung bei angenommener Weiterbeschäftigung des
Klägers zurück und setzte voraus, dass der Kläger sich zum Musteranfertiger hätte
"qualifizieren" können. Für diese Tätigkeit wurde ein Stundenlohn von 3,47 DM
angegeben, für andere Hilfsarbeiten nur 2,82 DM. Der JAV von 7.939,36 DM wurde in
der Folgezeit der gewährten Verletztenrente zugrunde gelegt.
3
Nach Genesung vom Unfall durchlief der Kläger ab April 1958 eine Uhrmacherlehre,
nach deren Abschluss er an einem Ausbildungslehrgang für Elektrotechniker teilnahm.
4
In der Folge war er - allein durch eine mehrmonatige Fachschulausbildung in den
Jahren 1964 und 1965 unterbrochen - durchgängig versicherungspflichtig beschäftigt,
um in den letzten Jahren der Beschäftigung Höchstbeiträge zu entrichten. Auf seinen
Antrag hin bewilligte die Beklagte dem Kläger Regelaltersrente ab dem 01.11.2005 in
Höhe eines laufenden Zahlbetrages von 1.380,01 Euro. Diesen errechnete sie
entsprechend der Vorschrift des § 93 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) wie
folgt: Den sich aus der Anwendung der Vorschriften über die Rentenberechnung aus der
gesetzlichen Rentenversicherung ergebenden Bruttorentenbetrag von 2.059,84 Euro
addierte die Beklagte zum Zahlbetrag der Unfallrente von 785,35 Euro abzüglich der
Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz von 242,00 Euro, also zu 543,35 Euro
auf eine Summe von 2.603,19 Euro. Die Bruttorente minderte sie um die Differenz aus
dieser Summe und dem Mindestgrenzbetrag von 2.059,84 Euro, also um 543,35 Euro.
Den Bruttozahlbetrag der Altersrente reduzierte sie sodann um die Beiträge zur
Kranken- und Pflegeversicherung.
Den hiergegen am 05.10.2005 eingelegten Widerspruch begründete der Kläger damit,
dass es in seinem Fall durch die Anwendung des § 93 SGB VI zu einer
unangemessenen Härte komme. Zunächst sei aufgrund des Arbeitsunfalls, der sich im
Rahmen der Berufsausbildung ereignet habe, eine lediglich geschätzte Rente angesetzt
worden. Diese habe ausschließlich auf dem Mindestjahresarbeitsverdienst beruht und
dementsprechend die zu erwartende berufliche Entwicklung und auch
Gehaltssteigerungen aufgrund der Ausbildung und des später möglichen beruflichen
Einsatzes nicht berücksichtigt. Folglich passe sich der tatsächliche Anteil der Rente aus
der gesetzlichen Unfallversicherung seinem tatsächlichen immateriellen Schaden nicht
hinreichend an. Aufgrund des Unfalls im Rahmen der Berufsausbildung sei es zudem zu
einer verzögerten Aufnahme der Berufstätigkeit gekommen, da er, der Kläger, sich
zunächst einer längeren stationären Behandlung habe unterziehen und sodann noch
einmal 3 ½ Jahre in eine weitere Berufsausbildung habe investieren müssen. Während
dieses Zeitraums habe er keine nennenswerten Beiträge zur gesetzlichen
Rentenversicherung zahlen können, so dass sich der Unfall heute noch rentenmindernd
auswirke. Die Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung, die dem Ausgleich des
Erwerbsschadens diene, könne somit nicht in vollem Umfang auf die gesetzliche Rente
angerechnet werden, da nach wie vor eine Verminderung verbleibe, die ausgeglichen
werden müsse. Die Regelung des § 93 SGB VI stehe im Sonderfall des Klägers nicht im
Einklang mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz und der Eigentumsgarantie des
Grundgesetzes.
5
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 27.02.2006 zurück.
Die Bewilligung der Regelaltersrente habe unter Anwendung des § 93 SGB VI zu
erfolgen, der eine Minderung der Regelaltersrente wie geschehen vorsehe und regele.
Der Kläger verlange im Ergebnis, dass die Beklagte die gesetzliche Vorschrift, die nicht
einmal einen Ermessensspielraum einräume, nicht beachte. Sie sei jedoch an die
geltenden Gesetze gemäß Artikel 20 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) gebunden. Die
Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des geltenden Rechts obliege dabei einzig und
allein dem Bundesverfassungsgericht.
6
Hiergegen hat der Kläger am 21.03.2006 Klage zum Sozialgericht Dortmund (SG)
erhoben und sich zur Begründung im wesentlichen auf seinen Vortrag im
Widerspruchsverfahren bezogen.
7
Der Kläger hat schriftsätzlich beantragt,
8
die Beklagte zu verurteilen, ihm unter Aufhebung des Bescheides vom 13.09.2005 in
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.02.2006 Altersrente ohne Anrechnung
einer Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.
9
Die Beklagte hat beantragt,
10
die Klage abzuweisen.
11
Der angefochtene Bescheid sei rechtmäßig. Die Feststellung des maßgeblich
anzusetzenden JAV für eine Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung falle
ausschließlich in deren Zuständigkeitsbereich.
12
Im Termin zur Erörterung der Angelegenheit am 12.06.2007 haben sich die Beteiligten
mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
13
Das SG hat sodann die Klage mit Urteil vom 27.06.2007 abgewiesen. Die Beklagte
habe die Berechnung nach § 93 SGB VI fehlerfrei vorgenommen. Insbesondere seien
der nach § 93 Abs. 2 Nr. 2 a SGB VI nicht zu berücksichtigende Rentenbetrag und der
Grenzbetrag nach § 93 Abs. 3 S. 1 und 2 SGB VI fehlerfrei ermittelt worden. Die
Regelung des § 93 SGB VI verstoße auch nicht gegen Verfassungsrecht,
Besonderheiten seien entgegen den Ausführungen des Klägers in seinem Fall nicht zu
erkennen. Der Gesetzgeber habe das Ziel verfolgt, eine Doppelversorgung der
Versicherten durch funktionsgleiche Leistungen zu verhindern. Denn sowohl die
Versichertenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung als auch die
Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung hätten Lohnersatzfunktion. Aus
den Umständen des vorliegenden Falles ergäben sich insofern auch keine
Besonderheiten. Soweit der Kläger vortrage, die Anrechnung der Verletztenrente sei in
seinem Fall mit einer besonderen Härte verbunden, da der Unfall bereits während der
Berufsausbildung eingetreten sei, habe dieses entgegen seinen Ausführungen allenfalls
indirekt Auswirkungen auf die Ermittlung des Grenzbetrages, die nicht einem
Überprüfungsrecht durch die Beklagte unterliege. Der Zeitpunkt des Unfalles habe
(lediglich) maßgeblichen Einfluss auf die Ermittlung der Höhe der Verletztenrente. Diese
werde aber durch die Berufsgenossenschaft festgestellt und entziehe sich einer
Überprüfung durch den Rentenversicherungsträger. Die Bescheide der
Berufsgenossenschaft entfalteten dementsprechend für die Verrechnung nach § 93 SGB
VI Bindungswirkung, da die Rechengrößen, wie z.B. der JAV, von ihr festgestellt
würden.
14
Gegen das dem Kläger am 18.07.2007 zugestellte Urteil hat er am 24.07.2007 Berufung
eingelegt. Zur Begründung vertieft er im wesentlichen seinen erstinstanzlichen Vortrag.
Ergänzend meint er aus der Gegenüberstellung der bis zum Zeitpunkt des Erhalts von
Regelaltersrente bezogenen Verletztenrente - nach seiner Berechnung ca. 185.000,00
EUR - und des bis zum voraussichtlichen Ableben im Jahre 2030 hinzunehmenden
Minderungsbetrages von mehr als 195.000,00 EUR einen Grundrechtsverstoß mit Blick
auf Artikel 14 GG darstellen zu können.
15
Der Kläger beantragt,
16
das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 27.06.2007 zu ändern und die Beklagte zu
verurteilen, ihm unter Aufhebung des Bescheides vom 13.09.2005 in Gestalt des
17
Widerspruchsbescheides vom 27.06.2006 Altersrente ohne Anrechnung der
Verletztenrente zu gewähren
Die Beklagte beantragt,
18
die Berufung zurückzuweisen.
19
Zur Begründung bezieht sie sich im wesentlichen auf ihre Ausführungen im
angefochtenen Bescheid und im Widerspruchsbescheid und hält die Urteilsgründe für
zutreffend.
20
Entscheidungsgründe:
21
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, aber nicht begründet.
22
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger ist durch den angefochtenen
Bescheid nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, weil
dieser rechtmäßig ist. Der Kläger hat keinen Anspruch auf anrechnungsfreie Zahlung
der Altersrente. Die Beklagte hat die Vorschrift des § 93 SGB VI fehlerfrei angewandt.
23
I. Nach § 93 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI wird die (Alters-)Rente insoweit nicht geleistet, als die
Summe der zusammentreffenden Rentenbeträge (der Altersrente aus eigener
Versicherung iHv 2059,84 EUR und der Verletztenrente aus der Unfallversicherung iHv
785,35 EUR) (vor Einkommensanrechnung) den jeweiligen Grenzbetrag nicht
übersteigt. Bei der Berechnung der Summe der zusammentreffenden Rentenbeträge ist
gemäß § 93 Abs. 2 Nr. 2 a SGB VI ein der Grundrente nach § 31 i. V. m. § 84 a S. 1 und
2 Bundesversorgungsgesetz (BVG) entsprechender Betrag nicht zu berücksichtigen.
Diesen Betrag hat die Beklagte mit 242,00 EUR fehlerfrei angesetzt, was vom Kläger
auch nicht beanstandet wird, so dass sich die Summe der Rentenbeträge auf 2603,19
EUR berechnet.
24
Gemäß § 93 Abs. 3 SGB VI ist sodann der Grenzbetrag zu ermitteln. Dieser beträgt nach
der Vorschrift (grundsätzlich) 70 vom Hundert eines Zwölftels des JAV, der der
Berechnung der Rente aus der Unfallversicherung zugrunde liegt, vervielfältigt mit dem
jeweiligen Rentenartfaktor für persönliche Entgeltpunkte der allgemeinen
Rentenversicherung; Mindestgrenzbetrag ist aber der Monatsbetrag der Rente (aus der
gesetzlichen Rentenversicherung) ausschließlich des Monatsteilbetrages der auf
persönlichen Entgeltpunkten der Knappschaftlichen Rentenversicherung beruht (§ 93
Abs 3 2.HS iVm Abs.2 Nr. 1 SGB VI). Der Mindestgrenzbetrag beträgt hier 2059,84
EUR. Dieser ist für die weitere Berechnung maßgebend, da sich aus der ersten
Berechnungsalternative ausgehend von dem zugrundegelegten JAV iHv 28272, 56
EUR und dem Rentenartfaktor für eine Rente wegen Alters von 1 gemäß § 67 Nr. 1 SGB
VI lediglich ein (niedriger) Wert von 1.649,24 EUR ((1/12 - 28.272,56 EUR ) - (70/100) -
1=1.649,2326 EUR) berechnet.
25
Da die Summe der Rentenbeträge iHv 2603,19 den Grenzbetrag von 2059,84 EUR um
543,35 EUR übersteigt, war die Altersrente um diesen Betrag von 2059, 84 EUR auf
1516, 49 EUR brutto zu reduzieren.
26
II. § 93 SGB VI verstößt nicht gegen das Grundgesetz (GG). Die Vorschrift berührt zwar
den Schutzbereich der Eigentumsgarantie und den allgemeinen Gleichheitssatz und
27
muss sich daher an den verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstäben des Art. 14 Abs. 1
GG (dazu unter 1.) und Art. 3 Abs. 3 GG (dazu unter 2.) messen lassen. Die Regelung ist
aber durch sachliche Gründe gerechtfertigt, die dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
genügen.
1. Dem Kläger verbleibt von seiner Altersrente, trotz eines Wertes dieses Rechts i.H.v.
2059,48 EUR, lediglich ein monatlicher Anspruch von 1.516,49 EUR, und dies obgleich
dieses Recht im Falle des Klägers fast ausschließlich auf der Entrichtung von
Pflichtbeiträgen beruht, die dem Kläger zumindest in Höhe der Arbeitnehmerbeiträge
nicht für eine anderweitige private Vorsorge zur Verfügung standen. Ein subjektiv
öffentliches Recht auf Altersrente in der vollen Höhe ihres Wertes wird durch die
Minderung der hierauf entstehenden monatlichen Ansprüche in Höhe des genannten
Anrechnungsbetrages für die Dauer des Bezuges der Verletztenrente endgültig
eingeschränkt. Dies berührt in erster Linie den Schutzbereich der Eigentumsgarantie
(Art. 14 Abs. 1 GG). Allerdings schränkt § 93 SGB I das Recht auf Rentenzahlung nicht
bereits im Sinne einer Inhaltsbestimmung sondern lediglich im Sinne einer
Schrankenbestimmung im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG ein (vgl. hierzu BSG Urt.
v. 31.03.1998 B 4 RA 49/96 R, NZS 1999, 148). Denn weder die Zahl der Entgeltpunkte
noch der Rentenartfaktor oder der aktuelle Rentenwert sind von der Regelung des § 93
SGB VI im Sinne einer Einschränkung betroffen. Vielmehr beschränkt sich die Regelung
des § 93 SGB VI darauf, dass - bei gleichbleibendem Wert des Rechts auf Rente -
derjenige Betrag reduziert wird, dessen monatliche Auszahlung der Kläger vom
Rentenversicherungsträger verlangen kann, so dass mit ihr lediglich eine
Schrankenbestimmung getroffen wird. Bei der Bestimmung von Schranken des
Eigentums kommt der gesetzgebenden Gewalt bei der Regelung in Bezug auf
rentenrechtliche Positionen jedoch grundsätzlich eine weite Gestaltungskompetenz zu.
Dies gilt insbesondere für Regelungen, die dazu dienen, die Funktions- und
Leistungsfähigkeit des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung im Interesse aller
Versicherten und Rentner zu erhalten, zu verbessern oder geänderten wirtschaftlichen
Bedingungen anzupassen (vgl. BSG a.a.0.). Nach diesen Grundsätzen handelt es sich
bei der Regelung des § 93 SGB VI um eine verfassungskonforme
Schrankenbestimmung der grundrechtlichen Eigentumsgarantie. Gerade im Hinblick auf
den Umstand, dass sowohl der Verletztenrente als auch der Altersrente im wesentlichen
Lohnersatzfunktion zukommt, erscheint - um eine Überversorgung zu vermeiden - eine
Verrechnungsregelung wie sie § 93 SGB VI für den Fall des Zusammentreffens der
Rentenleistungen beinhaltet, fast unumgänglich. Wie der Gesetzgeber eine solche
Verrechnung im einzelnen im System der Sozialversicherungzweige umsetzt, muss
diesem überlassen bleiben. Mit der Regelung des § 93 SGB VI hat er sich für eine
Kürzung des Altersrentenzahlbetrages entschieden. Vorstellbar wäre aber z.B. genauso
die Regelung des völligen oder teilweisen Wegfalls der Verletztenrente mit dem Beginn
der (dann ungekürzten) Altersrente gewesen. 2. Die Regelung des § 93 SGB VI verstößt
auch nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz.
28
Aritkel 3 Abs. 1 GG verbietet der gesetzgebenden Gewalt, bei der Ausgestaltung von
Rechtsnormen, also auch von Schrankenbestimmungen, eine Gruppe von
Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders zu behandeln,
obgleich zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem
Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (vgl.
BVerfGE 55, 72). Im allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach
Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmal unterschiedliche Grenzen, die
vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an
29
Verhältnismäßigkeiterfordernisse reichen.
Die Regelung des § 93 SGB VI ist durch sachliche Gründe gerechtfertigt, die diesem
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen. So ist es sozialpolitisch legitim, bei
Zusammentreffen zweier Sozialleistungen die Summierung zu einer Gesamthöhe als
sachlich nicht gerechtfertigt anzusehen, da der Empfänger - ungeachtet seiner diese
Höhe rechtfertigenden Eigenleistungen für die verschiedenen
Versichertengemeinschaften - weit mehr erhält als ihm die Sozialversicherung in ihrer
Gesamtheit von ihrem Grundgedanken her verschaffen soll. Von solchen
sozialpolitischen Erwägungen sind auch von jeher die Regelungen bei
Zusammentreffen von Renten aus der Rentenversicherung und der Unfallversicherung
geprägt. Eine solche Anrechnung des Anspruchs aus der Unfallversicherung auf die
Rechtsfrüchte des in der Rentenversicherung durch Beitragsleistungen erworbenen
Rechts auf Altersrente ist insbesondere dadurch sachlich gerechtfertigt, dass das
Leistungsversprechen der Rentenversicherung durch die Leistung des Dritten, hier des
Unfallversicherungsträgers, als erfüllt gelten kann. Hierüber hinaus sieht § 93 Abs. 2
SGB VI im Gegensatz zu seiner Vorgängerregelung (§ 1278 RVO) jetzt auch noch einen
Freibetrag bzgl. der dem Ausgleich immaterieller Schäden dienenden Anteile der
Verletztenrente vor, so dass der Berechtigte auch mit Hinblick auf die
Anrechnungsregelung des § 93 SGB VI im wirtschaftlichen Ergebnis dasjenige erhält,
was ihm von der Unfallversicherung und der Rentenversicherung insgesamt zugesichert
war. Die Drittleistung deckt vorliegend im Umfang der erfolgten Anrechnung den Bedarf,
zu deren Absicherung das Recht der Rentenversicherung erworben und zugesagt
wurde. Denn sachlich gerechtfertigt ist die Gewährung der Verletztenrente über den
Eintritt in den Ruhestand hinaus an sich nur insoweit, als diese Rente Nachteile
ausgleicht, die auch nach Beendigung des Erwerbslebens fortbestehen, dh hinsichtlich
der immateriellen Schäden, Ausgleich des Integritätsverlusts etc. (BSG a.a.O.). Da aber
das Recht auf Verletztenrente und die Fruchtziehung daraus durch den Bezug der
Altersrente nicht beeinträchtigt wird, erhielte er - im Falle der ungekürzten Zahlung der
Regelaltersrente - mehr, als er hinsichtlich des versprochenen Sicherungsniveau aus
der Rentenversicherung und der Unfallversicherung insgesamt erwarten durfte, zumal
beide Rechte ihrer Zielsetzung nach darauf gerichtet sind, den Versicherten nach
Maßgabe des zurückliegenden Erwerbslebens und des versicherten Entgelts zu
sichern.
30
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Gegenüberstellung des durchschnittlich
erhaltenen monatlichen Verletztenrentenbetrages auf der einen Seite und des zu
erwartenden durchschnittlichen Anrechnungsbetrages auf der anderen Seite. Eine
solche Gegenüberstellung stellt keinen geeigneten Maßstab dar, eine sachliche
Rechtfertigung der Regelung des § 93 SGB VI zu überprüfen. Zum Einen stellt die
Aufzählung Beträge gegenüber, die auf Grund des über die Jahre eingetretenen
Kaufkraftverlustes der Währungen nicht vergleichbar sind. Zum Anderen ist mit dem
BSG davon auszugehen, dass es im Hinblick auf das System der deutschen
Sozialversicherung systematisch sachnäher wäre, wenn die Verletztenrente mit dem
Eintritt in den Ruhestand (vollumfänglich) wegfiele bzw. nur insoweit weiter geleistet
würde, als sie Nachteile ausgleicht, die auch nach regelmäßiger Beendigung des
Erwerbslebens fortbestehen, d.h. hinsichtlich der immateriellen Schäden, Ausgleich des
Integritätsverlustes etc. (s.o.). Bei einer solchen systematisch näherliegenden Regelung
würde sich dann eine "Anrechnungsvorschrift", wie sie § 93 SGB VI darstellt, erübrigen;
gleichzeitig wird aber durch diese Kontrollüberlegungen die klägerische Überlegung
des Gegenüberstellens der bis zum Ruhestand erhaltenen durchschnittlichen
31
monatlichen Verletztenrente und des zu erwartenden durchschnittlichen
"Kürzungsbetrages" relativiert. Eine Kürzung der Regelaltersrente ist nämlich nur
deshalb möglich, da überhaupt eine Weiterzahlung der Verletztenrente über den
Zeitpunkt des Eintritts in den Ruhestand hinaus erfolgt, ohne dass dies das System der
Unfallversicherung zwingend gebieten würde.
Eine besondere Härte - im Sinne einer Ungleichbehandlung nach Art. 3 GG - resultiert
auch nicht aus dem Umstand, dass die vom Kläger bezogene Verletztenrente auf einen
Versicherungsfall zurückzuführen ist, der zu Beginn seines Erwerbslebens
stattgefunden hat. Denn entgegen den Darstellungen des Klägers wurde er bei der
Berechnung der Höhe der Verletztenrente gegenüber Versicherten, die einen
Arbeitsunfall nicht in den ersten Jahre ihrer Erwerbstätigkeit erleiden, nicht schlechter
gestellt, sondern sogar privilegiert. Im Regelfall wird nämlich gem. § 82 Abs. 1 Satz 1
des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VII) (Vorgängervorschriften §§ 571,
576 Reichsversicherungsordnung [RVO]) für die Berechnung der Höhe der
Verletztenrente auf den JAV des Versicherten in den 12 Monaten vor dem Monat, in dem
der Versicherungsfall eingetreten ist, abgestellt. Abgestellt wird also immer auf den
individuellen Arbeitsverdienst vor dem Versicherungsfall regelmäßig ohne
Berücksichtigung der noch zu erwartenden Karriereschritte, also auch ohne
Berücksichtigung der zu erwartenden Gehaltsentwicklung im Laufe des zukünftigen
Berufslebens. Im Falle des Klägers ist aber in den ersten Jahren vor Vollendung des 21.
Lebensjahres nicht auf den tatsächlichen Verdienst eines jugendlichen Hilfsarbeiters,
sondern auf den höheren eines volljährigen Versicherten abgestellt worden. Darüber
hinaus wurde für die ab dem 21. Lebensjahr gezahlte Verletztenrente ein JAV
angesetzt, der die Qualifikation des Klägers zum Musteranfertiger bis zu diesem
Zeitpunkt unterstellte. Inwieweit der Kläger bei einem solchen Sachverhalt eine
Schlechterstellung gegenüber sonstigen Versicherten in der Unfallversicherung
erkennen möchte, ist für den Senat nicht nachzuvollziehen. Im übrigen hat hierzu das
SG schon richtig festgestellt, dass bei der Ermittlung des Grenzbetrages nach § 93 Abs.
3 SGB VI auf den JAV abzustellen ist, der der Berechnung aus der gesetzlichen
Unfallversicherung zugrundegelegt wurde (vgl. Gürtner Kasseler Kommentar
Sozialversicherungsrecht Bd 1 § 93 Rn 22). Insoweit entfalten die Feststellungen der
Unfallversicherung faktische Bindungswirkung.
32
Der Vollständigkeit halber sei noch angemerkt, dass der Senat sich nicht mit der Frage
zu beschäftigen hatte, ob sich bei diesen wertenden Überlegungen etwas anderes
ergäbe, wenn der Arbeitsunfall während der Ausbildung eingetreten wäre. Denn
entgegen dem (ursprünglichen) Vortrag des Klägers stand dieser zum Zeitpunkt des
Unfalls nicht in einem Ausbildungsverhältnis, sondern war als jugendlicher Hilfsarbeiter
beschäftigt.
33
Der Kläger kann auch nicht mit dem Argument gehört werden, der Unfall wirke sich
immer noch rentenmindernd aus. Dies wird der Regelfall sein, sofern die Folgen des
Arbeitsunfalles es nicht mehr erlauben, in der Zeit nach diesem die ursprünglich
qualifizierte und dementsprechend regelmäßig höher entlohnte Beschäftigung weiter
auszuüben. Dieser Berufsschadensausgleich ist jedenfalls aber nicht in der
gesetzlichen Rentenversicherung vorzunehmen. Stattdessen wird eine nach im
Wesentlichen abstrakten Grundsätzen berechnete Unfallrente gezahlt, deren Zahlbetrag
aufgrund von Steigerungen des ihr zugrundeliegenden JAV über die Jahre des Bezugs
hinweg angepasst wird. Dass der Kläger zunächst nach dem Unfall nicht hat arbeiten
können, ist bereits durch die Zahlung einer Versichertenrente in der Zeit von Juni 1957
34
bis März 1958 ausgeglichen worden. Diese Zeit ebenso wie die davor liegende Zeit der
Arbeitsunfähigkeit wirken sich im Übrigen sehr wohl als rentenrechtliche Zeiten (dh als
Pflichtbeitragszeit bzw als Anrechnungszeit wegen Rentenbezugs mit Zurechnungszeit)
aus. Im besonderen Fall des Klägers dürfte im Weiteren fraglich bleiben, ob es durch
den erzwungenen Berufswechsel - ohne dass es hierauf ankäme - konkret zu einer
Minderung der erworbenen Rentenanwartschaft gekommen ist. Hieran muss schon
angesichts der bereits ab Ende der 1960iger Jahre erzielten Arbeitsverdienste, die
erheblich über dem Durchschnitt lagen, gezweifelt werden. Darüber hinaus haben die
Ausbildungszeiten ab dem Jahre 1958 bis 1961 die übliche privilegierte Bewertung
erfahren.
Der Senat verkennt auch nicht, dass die Regelung des § 93 SGB VI immer dann zu
relativ günstigen Ergebnissen führt, wenn das Unfallereignis (erst) zu einem Zeitpunkt
eintritt, in dem sich die Verletzetenrente aus einem relativ hohen Arbeitsverdienst
errechnet, was in der Regel dann der Fall ist, wenn das Unfallereignis am Ende des
Arbeitslebens liegt. So wäre im Falle des Klägers bei einem Arbeitsunfall erst im Jahre
2004 auf einen JAV von (mindestens) 61.200 EUR abzustellen gewesen, was bei einer
MdE von 50 v.H. zu einer Verletztenrente von 1700,- EUR (61.200,- EUR - 2/3 - 50/100)
monatlich geführt hätte. Der Grenzbetrag wäre nach § 93 Abs. 3 SGB VI mit 3570,- EUR
(1/12 - 61.200,- EUR - 70/100 - 1) anzusetzen gewesen. Diesen Grenzbetrag hätte die
um die Grundrente reduzierte Summe der Rentenbeträge von 3517,84 EUR (= 2059,84
EUR Altersrente + 1700,- EUR Verletztenrente./. 242,- EUR Grundrente) gar nicht
überschritten, so dass es nicht zu einer Kürzung der Altersrente gekommen wäre. Hierin
liegt jedoch kein Verstoß gegen Art. 3 GG. Denn es wird durch diese
Berechnungsmodalität keine Gruppe von Normadressaten - nämlich solche, die einen
Arbeitsunfall relativ früh im Berufsleben hinnehmen müssen - im Vergleich zu anderen
Normadressaten - nämlich denjenigen, die ein Unfallereignis spät ereilt - anders
behandelt, obgleich es zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede gibt, die eine
unterschiedliche Behandlung rechtfertigen könnten. Vielmehr hat sich der Gesetzgeber
mit dieser Regelung dafür entschieden, diejenigen Versicherten zu privilegieren, die bei
hohem Einkommen auch hohe Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt
haben, was theoretisch auch bei einem frühen Unfallereignis der Fall sein kann. Dass
der Gesetzgeber für die Berechnung des Grenzbetrages auf die Höhe des JAV abstellt,
ist aber grundsätzlich eine sachgerechte Überlegung, wenn bedacht wird, dass im
Rahmen der Solidargemeinschaft durch entsprechend hohe Beiträge Leistungen - wie
z.B. Rehabilitationsmaßnahmen - der Rentenversicherung mitfinanziert werden, die
gleichermaßen allen Versicherten unabhängig von der Beitragshöhe zugute kommen.
35
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
36
Der Senat hat keinen Anlass gesehen, die Revision nach § 160 Abs. 2 SGG
zuzulassen.
37
Die aufgeworfenen Rechtsfragen sind höchstrichterlich geklärt, der Senat folgt der
Rechtssprechung des Bundessozialgerichts.
38