Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 29.08.2007

LSG NRW: schweigen des gesetzes, e contrario, formelle beschwer, verfassungskonforme auslegung, vergleich, einzelrichter, auflage, absicht, vergütung, richterrecht

Landessozialgericht NRW, L 2 B 13/06 KN
Datum:
29.08.2007
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
2. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 2 B 13/06 KN
Vorinstanz:
Sozialgericht Aachen, S 5 KN 101/03
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Beschwerde des Erinnerungsführers gegen den Beschluss des
Sozialgerichts Aachen vom 12.7.2006 wird zurückgewiesen. Die
Entscheidung ergeht gebührenfrei. Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
1
I.
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Streitig ist die Festsetzung der Vergütung des beigeordneten Rechtsanwalts.
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Im Hauptsacheverfahren war die Gewährung von Rente wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit im Streit. Im Berufungsverfahren (Eingang des Rechtsmittels beim
erkennenden Gericht: 7.6.2005) wurde der Beschwerdeführer der Klägerin im Wege der
Prozesskostenhilfe beigeordnet (Beschluss vom 14.2.2006). Das Verfahren endete am
22.2.2006 mit der (schriftlichen) Annahme eines von der Beklagten (schriftlich)
unterbreiteten Vergleichsvorschlags (vom 22.12.2005).
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Der Erinnerungsführer beantragte die Festsetzung von Gebühren in Höhe von EUR
1183,20 und berechnete dabei u.a. eine Terminsgebühr von EUR 200 zzgl 16%
Umsatzsteuer = EUR 232. Der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle setzte als
Kostenbeamter die aus der Staatskasse zu zahlenden Gebühren auf EUR 951,20 fest,
weil bei Vergleichen die fiktive Terminsgebühr nicht anfalle (Beschluss vom 17.3.2006).
Die dagegen eingelegte Erinnerung hat das Sozialgericht (SG) zurückgewiesen und
seine Entscheidung unter Hinweis auf § 197 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) für
endgültig gehalten (Beschluss vom 12.7.2006). Gegen diese ihm nach eigenem Vortrag
am 21.7.2006 zugestellte Entscheidung hat der Erinnerungsführer am 11.8.2006 im
eigenen Namen Beschwerde eingelegt und beantragt, weitere EUR 232 zur Erstattung
aus der Staatskasse festzusetzen. Die unterschiedliche Regelung zur Terminsgebühr in
Nrn 3104 und 3106 VV könne nur auf einem Versehen des Gesetzgebers beruhen. Sie
verstoße gegen Art 3 des Grundgesetzes, weil rechtfertigende Gründe für die
unterschiedliche Regelung nicht erkennbar seien.
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Der Beschwerdegegner hält den angefochtenen Beschluss für zutreffend.
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II.
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Die Beschwerde, der das SG nicht abgeholfen hat (Beschluss vom 14.8.2006), ist
zulässig, aber unbegründet.
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Entgegen der Rechtsmittelbelehrung des SG ist die Beschwerde statthaft, §§ 56 Abs 2
Satz 1, 33 Abs 3 Satz 1 des Gesetzes über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und
Rechtsanwälte (Rechtsanwaltsvergütungsgesetz - RVG). Das RVG findet auf den
Vergütungsanspruch des Erinnerungsführers (nach § 55 Abs 1 Satz 1 RVG)
Anwendung, obwohl der Erinnerungsführer bereits vor dem 1.7.2004 für die Klägerin in
derselben Angelegenheit tätig war, weil das Rechtsmittel, die Berufung gegen das Urteil
des SG Aachen vom 14.4.2005) nach dem 1.7.2004 (nämlich am 7.6.2005) eingelegt
wurde, § 61 Abs 1 Satz 2 RVG.
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Der Wert des Beschwerdegegenstands übersteigt auch EUR 200, § 33 Abs 3 Satz 1
RVG. Maßgeblich für die Bestimmung dieses Wertes ist die formelle Beschwer, die der
Erinnerungsführer zutreffend mit EUR 232 berechnet und insgesamt zum Gegenstand
des Beschwerdeverfahrens gemacht hat. Die neben der Terminsgebühr von EUR 200
angesetzte Umsatzsteuer in Höhe von EUR 32 ist als zusätzliche Vergütungsposition
einzubeziehen (Hartmann. Kostengesetze. 37. Auflage 2007. § 32 RVG Rdnr 18 mwN).
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Die Beschwerde ist auch fristgerecht, nämlich innerhalb der hier maßgeblichen
Jahresfrist eingelegt worden. § 33 Abs 3 Satz 3 RVG, nach dem eine zulässige
Beschwerde nur innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung der Entscheidung
eingelegt werden kann, wird hier durch die Vorschrift des § 66 SGG verdrängt. Diese
Vorschrift ist anwendbar, weil es sich um ein Annexverfahren zu einem
sozialgerichtlichen Verfahren (hier: nach § 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm 114ff der
Zivilprozessordnung) handelt (vgl Meyer-Ladewig. SGG. Kommentar. 8.Auflage 2005. §
73a Rdnr 13f mwN) und im RVG (insoweit) eine Spezialregelung nicht enthalten ist.
Danach ist die Einlegung eines Rechtsbehelfs innerhalb eines Jahres zulässig, wenn -
wie hier - die Belehrung über den Rechtsbehelf unrichtig erteilt worden ist. Dies gilt
selbst dann, wenn der Erinnerungsführer dies bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt
ohne Weiteres hätte erkennen können (Meyer-Ladewig.aaO. § 66 Rdnr 12).
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Der Erinnerungsführer ist auch befugt, das Verfahren in eigenem Namen zu betreiben,
§§ 56 Abs 2 Satz 1 iVm Abs 1 Satz, 55 Abs 1 Satz 1 RVG.
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Die Beschwerde ist nicht begründet, weil die zusätzlich geltend gemachte
Terminsgebühr nicht angefallen ist, § 3 Abs 1 Satz 1 RVG iVm mit Nrn 3205, 3106 der
Anlage 1 zum RVG (Vergütungsverzeichnis - VV). Nach diesen Vorschriften ist nicht
vorgesehen, dass in Verfahren vor den Sozialgerichten, in denen - wie hier -
Beitragsrahmengebühren entstehen, eine Terminsgebühr anfällt, wenn in einem
Verfahren, für das - wie hier - eine mündliche Verhandlung vorgesehen ist, ein
schriftlicher Vergleich geschlossen wird. Das ergibt sich zweifelsfrei aus dem Wortlaut
der Bestimmungen, der Gesetzbegründung (vgl BT-Drucksache 15/1971 S.212) und
systematisch - argumentum e contrario - aus der abweichenden Regelung in Nrn 3202,
3104 VV, die den Regelfall der Abrechnung nach einem Gebührenstreitwert
(Gegenstandswert) betreffen (im Ergebnis ebenso: LSG NRW. Beschlüsse vom
13
10.5.2006 und vom 16.8.2006. Aktenzeichen L 10 B 13/05 SB und L 20 B 137/06 AS).
Dies meint offenbar auch der Erinnerungsführer, wenn er ausführt, es sei unstreitig, dass
die angefochtenen Beschlüsse dem einfachen Recht entsprechen (Schriftsatz vom
28.9.2006).
Es besteht auch keine ausfüllungsbedürftige Regelungslücke. Zur Ausfüllung von
Regelungslücken sind die Richter nur berufen, wenn das Gesetz mit Absicht schweigt,
weil es der Rechtsprechung überlassen wollte, das Recht zu finden, oder das
Schweigen des Gesetzes auf einem Versehen oder darauf beruht, dass sich der nicht
geregelte Tatbestand erst nach Erlass des Gesetzes durch eine Veränderung der
Lebensverhältnisse ergeben hat (so BSGE 39, 143, 136 = SozR 2200 § 1251 Nr 11;
BSGE 60, 176, 178 = SozR 2600 § 57 Nr 3; vgl ferner BSGE 58, 110, 114 f = SozR 5755
Art 2 § 1 Nr 6). Keine dieser Voraussetzungen ist hier gegeben. Eine andere
("verfassungskonforme") Auslegung oder eine Analogie zu VV Nrn 3202, 3104, die § 3
Abs 1 Satz 1 RVG iVm mit Nrn 3205, 3106 VV mit einem anderen (hier: gegenteiligen)
Inhalt versieht, ist deshalb rechtsmethodisch nicht möglich.
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Dass der Gesetzgeber der Rechtsprechung die Lösung der Frage überlassen wollte, ob
bei Verfahrensbeendigung durch schriftlichen Vergleich eine Terminsgebühr anfällt, ist
nicht ersichtlich. Jedenfalls finden sich in den Gesetzesmaterialien keinerlei Hinweise
für eine derartige Absicht des Gesetzgebers (vgl BT-Drucks 15/1971). Es liegt auf der
Hand, dass das Problem nicht erst durch eine - für den Gesetzgeber noch nicht
erkennbare - Veränderung der Lebensverhältnisse entstanden ist. Es bestehen aber
auch keine Anhaltspunkte dafür, dass ein Versehen des Gesetzgebers, also eine
planwidrige Regelungslücke, vorliegen könnte. Dem Gesetzgeber war erkennbar
bekannt, dass bei der Entwicklung der neuen Vergütungsstruktur zu bedenken und
entscheiden war, ob bei Beendigung eines sozialgerichtlichen Verfahrens durch
schriftlichen Vergleich eine Terminsgebühr anfällt. Dies zeigt die Regelung in Nrn 3202,
3104 VV (vgl. BT-Drucks. 15/1971 S.209). Es liegt fern, vor diesem Hintergrund bei der
unterschiedlichen Regelung für Betragsrahmengebühren einerseits und Wertgebühren
andererseits von einem Redaktionsversehen des Gesetzgebers zu sprechen. Lässt sich
aber nicht feststellen, dass eine planwidrige Gesetzeslücke gegeben ist, fehlen die
speziellen Voraussetzungen für eine analoge Anwendung der Nrn 3202, 3104 VV. Eine
Rechtsfortbildung durch Richterrecht - auch unter verfassungsrechtlichen
Gesichtspunkten - ist ebenfalls ausgeschlossen (so auch LSG NRW. aaO). Letztlich
kommt es auf die Frage, ob diese Differenzierung durch sachliche Gründe gerechtfertigt
ist, für die Entscheidung nicht an. Selbst wenn es daran fehlte, bestünde noch keine
Rechtsgrundlage für die Geltendmachung einer Terminsgebühr. Rechtsfolge eines
Verstoßes gegen Art 3 des Grundgesetzes könnte nur sein, Verfassungsrecht dadurch
Geltung zu verschaffen, die dagegen verstoßende Norm nicht anzuwenden. Die vom
Erinnerungsführer behauptete sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung könnte
indes nur der Gesetzgeber beheben, indem er die bezeichneten Vorschriften für beide
Vergütungsalternativen so anpasst, dass die Terminsgebühr in beiden Fällen unter den
gleichen Voraussetzungen (nicht) anfällt. Es ist überdies zweifelhaft, ob für den hier
erheblichen Unterschied in den Vergütungsregelungen ein vernünftiger, sich aus der
Natur der Sache ergebender oder sonst einleuchtender Grund nicht vorliegt, die
Differenzierung also schlechterdings willkürlich ist, weil keine Unterschiede von solcher
Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen (zu
diesem Maßstab vgl. BVerfGE 112, 50, 67; 78, 104, 121 mwN; 74, 182, 200 mwN; st
Rspr des BVerfG). So ist immerhin denkbar, dass der Gesetzgeber bei
Betragsrahmengebühren die Möglichkeit gesehen hat, die nicht anfallende
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Terminsgebühr über die Höhe der Rahmengebühr(en) (zB nach Nrn 1005ff VV) zu
kompensieren.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 56 Abs 2 Sätze 2 und 3 RVG.
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Diese Entscheidung ist durch den Berichterstatter als Einzelrichter zu treffen ist (§§ 56
Abs 2 Satz 1, 33 Abs 8 Satz 1 RVG). Auch wenn das SGG den "Einzelrichter" nicht
ausdrücklich erwähnt, zeigt § 155 SGG, dass der Berichterstatter als Einzelrichter
fungiert. Hier wie dort wird dem Bedürfnis Rechnung getragen, in geeigneten Fällen das
Kollegialgericht zu entlasten.
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Die Entscheidung kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht
angefochten werden, §§ 56 Abs 2 Satz 1, 33 Abs 4 Satz 3 RVG (s. auch § 177 SGG).
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