Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 30.04.2001

LSG NRW: höchstdauer, anwartschaft, eingriff, eigentumsgarantie, vergünstigung, berufsausbildung, leistungsfähigkeit, minderung, altersrente, leistungsanspruch

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Vorinstanz:
Nachinstanz:
Sachgebiet:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Rechtskraft:
Landessozialgericht NRW, L 3 RA 16/00
30.04.2001
Landessozialgericht NRW
3. Senat
Urteil
L 3 RA 16/00
Sozialgericht Aachen, S 4 RA 54/99
Bundessozialgericht, B 4 RA 30/01 R
Rentenversicherung
rechtskräftig
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des
Sozialgerichts Aachen vom 01.02.2000 wird zurückgewiesen. Kosten
sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird
zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Dauer der Berücksichtigung von Ausbildungszeiten als Anrechnungszeit bei
der Berechnung der Altersrente des Klägers.
Der am ...1934 geborene Kläger ist von Beruf Rechtsanwalt. Er befand sich bis Mai 1954 in
Schul- und ab dann bis Juni 1959 in Hochschulausbildung. Danach war der Kläger bis Mai
1965 Rechtsreferendar, von Januar 1966 bis April 1999 hat er Pflichtbeiträge und freiwillige
Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt.
Antragsgemäß bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 25.06.1999 Regelaltersrente ab
01.09.1999. Sie berücksichtigte die nach Vollendung des 17. Lebensjahres liegenden
Zeiten der Schul- und Hochschulausbildung vom 01.09.1951 bis zum 31.03.1956
(insgesamt 55 Monate). Die Schulausbildung vom 01.09.1950 bis 31.08.1951 und die
Hochschulausbildung vom 01.04.1956 bis zum 23.06.1959 rechnete sie ausdrücklich nicht
an, für die Zeit der Hochschulausbildung führte sie insoweit aus, die Höchstdauer sei
überschritten.
Nach einer von der Beklagten vorgelegten Vergleichsberechnung wären bei einem
Rentenbeginn am 01.12.1995 93 Kalender monate Ausbildungszeit berücksichtigungsfähig
gewesen.
Der Kläger legte gegen den Rentenbescheid Widerspruch ein, weil er die Kürzung der
Ausbildungszeiten für einen unzulässigen Eingriff in seinen Besitzstand hielt. Die Beklagte
wies den Widerspruch unter Hinweis auf die Gesetzeslage mit Bescheid vom 13.10.1999
zurück.
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Im Klageverfahren hat der Kläger geltend gemacht, die gesetzlichen Regeln zur
Berücksichtigung von Ausbildungszeiten seien verfassungswidrig.
Mit Gerichtsbescheid vom 01.02.2000 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es hat
ausgeführt, die Ausbildungszeiten des Klägers seien zutreffend nach §§ 58 Abs. 1 Satz 1
Nr. 4 in Verbindung mit 252 Abs. 4 SGB VI berechnet worden. Diese Vorschriften seien
verfassungsgemäß, bei der Kürzung der Anrechnungszeiten wegen Ausbildung handele
sich um verfassungsrechtlich zulässige gesetzliche Bestimmungen im Sinne des Art. 14
Abs. 1 Satz 2 GG. Die Eingriff des Gesetzgebers in bestehende Rentenanwartschaften sei
gerechtfertigt, da er dazu diene, die Funktions- und Leistungsfähigkeit des Systems der
gesetzlichen Rentenversicherung zu erhalten. Zu beachten sei ferner, dass eine nicht
durch Beitragsleistungen erworbene Rechtsposition gekürzt worden sei. Dem
Vertrauensschutz des Klägers werde durch die Übergangsregel des § 252 Abs. 4 SGB VI
hinreichend Rechnung getragen.
Gegen diese am 04.02.2000 zugestellte Entscheidung richtet sich die am 28.02.2000
eingelegte Berufung. Der Kläger beruft sich auf die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 01.07.1981 (NJW 1982, 155 f.) und meint, eine
mehr als 10%ige Kürzung seiner auf den Ausbildungszeiten beruhenden
Rentenanwartschaften sei verfassungswidrig.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Aachen vom 01.02.2000 abzuändern und die
Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 25.06.1999 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 13.10.1999 zu verpflichten, sämtliche Ausbildungszeiten bei
der Rentenberechnung zu berücksichtigen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie beruft sich insbesondere auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom
18.04.1996 (BSG, SozR 3-2600 § 71 Nr. 1). Darin habe das BSG eine Reduzierung der
Anwartschaft von 780,30 DM nach dem Recht des AVG auf 474,27 DM nach dem Recht
des SGB VI (= Kürzung um ca. 40 %) für verfassungsgemäß gehalten.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen sind, verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht
abgewiesen, weil der angefochtene Bescheid nicht rechtswidrig i.S.d. § 54 Abs. 2 S. 1 SGG
ist. Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine weitergehende Berücksichtigung von
Ausbildungs-Anrechnungszeiten bzw. eine höhere Rente.
Gemäß § 58 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI sind Anrechnungszeiten Zeiten, in denen Versicherte
nach dem vollendeten 17. Lebensjahr eine Schule, Fachschule oder Hochschule besucht
haben, insgesamt jedoch höchstens bis zu drei Jahre.
Diese Regelung gilt seit dem 01.01.1997 und beruht auf dem Gesetz zur Umsetzung des
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Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung in den Bereichen der
Rentenversicherung und Arbeitsförderung (Wachstums- und
Beschäftigungsförderungsgesetz, WFG) vom 25.09.1996 (BGBl I, S. 1461). Hiermit wurde
die Höchstdauer der berücksichtigungsfähigen Anrechnungszeiten wegen schulischer
Ausbildung von sieben auf drei Jahre verkürzt. Bereits durch das Gesetz zur Reform der
gesetzlichen Rentenversicherung (Rentenreformgesetz - RRG - 1992 vom 18.12.1989,
BGBl. I, S 2261) war die Höchstdauer mit Wirkung vom 01.01.1992 von maximal 13 Jahren
auf sieben Jahre abgesenkt worden. Mit Rücksicht darauf verlängert sich bei einem
Rentenbeginn in der Zeit von Januar 1997 bis Dezember 2000 die Höchstdauer von drei
Jahren nach der Übergangsvorschrift des § 252 Abs. 4 SGB VI in Abhängigkeit vom
Rentenbeginn nach Maßgabe der Anlage 18 zum SGB VI. Unter Beachtung dieser
Übergangsvorschrift hat die Beklagte zutreffend 55 anrechenbare Ausbildungsmonate
errechnet.
Diese gesetzliche Regelung ist nicht verfassungswidrig, sie verstößt insbesondere nicht
gegen die Eigentumsgarantie aus Art. 14 Abs. 1 GG.
Der Kläger hatte vor Inkrafttreten der Änderungen durch das WFG eine Anwartschaft auf
Altersrente nach § 35 SGB VI, zu deren Erstarkung zum Vollrecht es lediglich noch der
Vollendung seines 65. Lebensjahres bedurfte (zum Anwartschaftsrecht ausführlich BSG,
Beschluss vom 06.12.1999, B 4 RA 11/99 R). Derartige Rentenanwartschaften genießen
den Schutz der Eigentumsgarantie des Grundgesetzes nach Art. 14 Abs. 1 GG
(grundlegend BVerfG E 53, 257 (289); 69, 272 (298); 75, 78 (96); NJW 1982 a.a.O.).
In diese Anwartschaft hat der Gesetzgeber durch die Reduzierung der
anerkennungsfähigen Anrechnungszeiten wegen Berufsausbildung eingegriffen. In der
Schlechterstellung durch das WFG gegenüber dem zuvor bestehenden Rechtszustand
liegt jedoch kein Verstoß gegen das Eigentumsgrundrecht. Minderungen von
Rentenanwartschaften stellen eine Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums im
Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Der Gesetzgeber darf derartige Bestimmungen
treffen, wenn sie durch Gründe des öffentlichen Interesses unter Berücksichtigung des
Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt sind (BVerfG NJW 1980, 692, NJW
1982, 155, BVerfG vom 29.12.1999 -1 BVR 679/09-; BSG vom 18.04.1996, SozR 3-2600 §
71 Nr. 1; BSG vom 24.02.1999 -B 5 RJ 28/98 R; BSG vom 16.12.1999 -B 4 RA 11/99 R-).
Dies ist hier der Fall.
Mit dem WFG wurden im öffentlichen Interesse liegende Regelungszwecke verfolgt, denn
es dient dazu, die Funktions- und Leistungsfähigkeit des Systems der gesetzlichen
Rentenversicherung zu erhalten sowie durch Einsparungen mittelbar eine
Konjunkturstärkung mit wiederum positiven Auswirkungen auf die gesetzliche
Rentenversicherung zu erreichen (BTDrs 13/4610 S. 18). Das Mittel der Ausgabenkürzung
ist zur Erreichung dieses Ziels auch erforderlich und geeignet. Es ist nicht ersichtlich, wie
anders als durch Einsparungen die gesetzliche Rentenversicherung konsolidiert werden
kann, wenn Beitragserhöhungen oder eine Erweiterung des Kreises der Beitragspflichtigen
aus politischen Gründen nicht gewollt sind, was im übrigen einer weiten
Einschätzungprärogative durch den Gesetzgeber unterliegt (zum weiten Gestaltungs
spielraum des Gesetzgebers vgl. BVerfG NJW 1980, 692; BVerfG vom 29.12.1999 -1 BVR
679/98-).
Die Inhalts- und Schrankenbestimmung ist auch angemessen im engeren Sinne, sie
belastet den Kläger im Hinblick auf das mit der Regelung verfolgte Ziel nicht übermäßig.
Das BVerfG hat zur Inhalts- und Schrankenbestimmung sozialversicherungsrechtlicher
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Positionen einen abgestuften Eigentumsschutz entwickelt: Der Umfang der Eigenleistung,
die den sozialrechtlichen Leistungsanspruch begründet, ist bei den
Rechtmäßigkeitsanforderungen an Inhalts- und Schrankenbestimmungen zu
berücksichtigen. Betrifft der Eingriff den durch eigene Leistung des Versicherten
bestimmten Kern der Rechtsposition, so tritt der verfassungsrechtlich wesentliche
personale Bezug und mit ihm ein tragender Grund des Eigentumsschutzes hervor.
Daneben gibt es einen weiteren Eigentumsbereich, der durch das Fehlen von
Eigenleistungen gekennzeichnet und trotzdem vom Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG
umfasst ist (BVerfG NJW 1982 a.a.O.).
Der Kläger ist lediglich im "weiteren" Bereich betroffen. Denn bei den gekürzten
Anrechnungszeiten handelt es sich nicht um durch Beiträge belegte Zeiten. Vielmehr
beruht deren Anerkennung auf einer besonderen vom Gesetzgeber eingeräumten
Vergünstigung (BVerfG NJW 1982 a.a.O.; so auch LSG Baden-Württemberg vom
15.09.2000 -L 8 RA 4154/99-; ähnlich - bezüglich der Neubewertung von
Berufsausbildungszeiten durch das WFG - Entscheidung des Senates vom 02.05.1999, L 3
RJ 90/98 sowie LSG Rheinland-Pfalz v. 18.9.2000 - L 4 RA 26/00-; für die Kürzung von
Anrechnungszeiten wegen schulischer Ausbildung durch das RRG 1992 LSG Sachsen
vom 29.04.1999 -L 4 RA 176/97).
Vor diesem Hintergrund wirkt sich die Kürzung einer nicht beitragsäquivalenten
Begünstigung, die der Gesetzgeber zudem durch die auch für den Kläger relevante
Übergangsvorschrift in § 252 Abs. 4 SGB VI gemildert hat, nicht in unverhältnismäßig hoher
Weise auf die Rentenansprüche des Klägers aus: Gegenstand der Eigentumsgarantie sind
Ansprüche und Anwartschaften aus der gesetzlichen Rentenversicherung in ihrem
Gesamtbestand. Nicht zulässig ist es daher, die verfassungsrechtliche Bewertung einer
Regelung auf das einzelne Berechnungselement zu beschränken (hier: Entgeltpunkte für
Anrechnungszeiten). Zu betrachten sind vielmehr die Auswirkungen von Änderungen auf
die rentenversicherungsrechtliche Position insgesamt (BVerfGE NJW 1992 a.a.O.). Würden
dem Kläger bei gleichbleibenden Entgeltpunkte 93 anstelle von 55 Kalendermonaten
schulischer Ausbildungszeiten angerechnet, erhielte er bei einem Rentenbeginn am
01.09.1999 für diese Zeiten nicht lediglich 144,22 DM, sondern 243,85 DM. Die
Gesamtrente betrüge dann nicht nur 1.866,37 DM, sondern 1.966,00 DM. Die Differenz liegt
damit weit unter 10 % des Gesamtrentenanspruchs.
Das BVerfG hat entgegen der Meinung des Klägers in der genannten Entscheidung vom
01.07.1981 nicht entschieden, dass eine Rentenminderung von maximal 10 % zulässig sei.
Zwar hatten die dort betroffenen Fälle eine Minderung von 10 % zum Gegenstand. Der
Entscheidung ist jedoch nicht zu entnehmen, dass dieser Wert, den die Minderung der
Rente des Klägers ohnehin nicht erreicht, die Obergrenze sein soll (vergl. BVerfG NJW
1982 S. 157).
Allerdings hat der 4. Senat des BSG mit Beschluss vom 16.12.1999 ein Verfahren gemäß
Art. 100 GG ausgesetzt und dem BVerfG die Frage vorgelegt, ob § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4a
und Satz 2 SGB VI in der Fassung des Art. 1 Nr. 11 WFG, in Kraft getreten am 01.01.1997
(jetzt § 54 Abs. 3 Satz 2 und 3 SGB VI) verfassungswidrig ist. Der 4. Senat hat im
Gegensatz zum 5. Senat in der Entscheidung vom 24.02.1999 (B 5 RJ 28/98 R) in diesen
Regelungen einen Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1 GG, 3 Abs. 1 GG und das
Rechtsstaatsprinzip gesehen.
Bei den Beitragszeiten wegen Berufsausbildung handelt es sich - anders als bei den
Anrechnungszeiten wegen schulischer Ausbildung - um Pflichtbeitragszeiten also solche,
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deren grundsätzliche Anrechnung nicht auf einer besonderen Vergünstigung, sondern
darauf beruht, dass der Versicherte Beiträge gezahlt hat. Allein deswegen hält der Senat
die Auffassung des 4. Senates des BSG für auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar.
Gleichwohl wurde die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache
zugelassen (§ 160 Abs 2 Nr. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.