Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 29.10.2002

LSG NRW: hallux valgus, reaktive depression, psychische störung, behinderung, klinik, tinnitus, rechtskraft, deformität, kopfschmerzen, kontaktaufnahme

Landessozialgericht NRW, L 7 SB 97/01
Datum:
29.10.2002
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
7. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 7 SB 97/01
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 7 SB 319/99
Sachgebiet:
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts
Dortmund vom 28.05.2001 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe:
1
I.
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Die Klägerin begehrt die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) als
50 und der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "erhebliche
Beeinträchtigung in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr" (G).
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Mit Bescheid vom 06.10.1988 stellte der Beklagte bei der Klägerin einen GdB von 50
fest wegen
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"1. Depressionen, psychovegetative Störungen,
5
2. Bronchitis, Hustenreiz,
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3. Anämie, Kreislaufstörungen,
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4. Wirbelsäulen-Syndrom,
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5. Entfernung eines Brustknotens,
9
6. Schilddrüsenoperation,
10
7. Harninkontinenz bei Scheidensenkung."
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Im März 1999 beantragte die Klägerin beim Beklagten die Feststellung eines höheren
GdB sowie die Gewährung des Nachteilsausgleiches "G". Sie trug u.a. vor, sie sei durch
ihre Beschwerden im Halte- und Bewegungsapparat, insbesondere in der Wirbelsäule,
erheblich beeinträchtigt. Das Zurücklegen längerer Wegstrecken sei ihr wegen der
Schmerzen und einem erheblichen Anschwellen der Beine nicht mehr möglich. Nach
Auswertung der beigezogenen Berichte der behandelnden Ärzte durch den Orthopäden
H wies der Beklagte mit Bescheid vom 22.07.1999 den Antrag der Klägerin unter
Berufung auf § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) zurück. Eine wesentliche
Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen sei nicht eingetreten. Die
gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" lägen nicht vor.
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Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein. Sie führte u.a. aus, sie sei nicht in der
Lage, selbstständig Wegstrecken ohne Begleitung zurückzulegen. Sie leide an einem
häufigem Kollaps des labilen Kreislaufes, der mit häufigen Stürzen und ständigen
Schwindel verbunden sei. Es träten regelmäßig Schwindelanfälle auf. Daraufhin
veranlasste der Beklagte eine gutachterliche Untersuchung der Klägerin durch den
Chirurgen Dr. N. Am 26.10.1999 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet
zurück.
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Mit der am 11.11.1999 vor dem Sozialgericht (SG) Dortmund erhobenen Klage hat die
Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt.
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Das SG hat Gutachten von dem Oberarzt der Chirurgischen Klinik des St. K-Hospitals in
E Dr. T, des Oberarztes der Medizinischen Klinik II des K-Hospital in E Dr. I und der
Neurologin und Psychiaterin T1 eingeholt.
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Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gutachten vom 29.05.2000, 30.08.2000
und 24.10.2000 verwiesen.
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Mit Urteil vom 28.05.2001 hat das SG Dortmund die Klage abgewiesen. Hinsichtlich der
Einzel-GdB-Bewertungen der Gesundheitsstörungen sowie der Bewertung des
Gesamtbehinderungszustandes der Klägerin mit einem GdB von 50 ist es den
Feststellungen der im Verfahren gehörten Sachverständigen gefolgt. Das Vorliegen der
gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches "G" hat es verneint. Der
Klägerin sei das Zurücklegen ortsüblicher Wegstrecken in zumutbarer Zeit (ca. 45 min.)
zumutbar. Die bei der Klägerin vorliegenden Behinderungen erfüllten nicht die in Nr. 30
Abs. 3 - 5 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen
Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AP) 1996 aufgeführten
Regelbeispiele.
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Gegen das am 15.06.2001 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 03.07.2001 Berufung
beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen eingelegt.
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Die Klägerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
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das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 28.05.2001 abzuändern und den Beklagten
unter Abänderung des Bescheides vom 27.07.1999 i.d.F. des Widerspruchsbescheides
vom 26.10.1999 zu verurteilen, bei ihr ab Antragstellung einen höheren GdB als 50 und
die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches "G" festzustellen.
20
Der Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
22
Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
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Die Klägerin hat trotz mehrmaliger Erinnerung und Fristsetzung eine
Schweigepflichtentbindungserklärung nicht zu den Akten gereicht. Innerhalb der vom
Senat gesetzten Frist hat die Klägerin keinen Antrag nach § 109 Sozialgerichtsgesetz
(SGG) gestellt. Die Beteiligten sind nach § 153 Abs. 4 SGG angehört worden.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichts- und Schwerbehindertenakten Bezug genommen.
25
II.
26
Der Senat konnte die Berufung durch Beschluss gem. § 153 Abs. 4 SGG zurückweisen,
da er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für
erforderlich hält. Die Beteiligten sind zuvor angehört worden.
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Die zulässige Berufung ist unbegründet.
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Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.
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Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig.
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Der Klägerin steht gegenüber dem Beklagten kein Anspruch auf Feststellung eines
höheren GdB sowie der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches
"G" zu.
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Gemäß § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ist ein Verwaltungsakt mit
Dauerwirkung, vorliegend der Bescheid vom 06.10.1988, zugunsten der Klägerin
abzuändern, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem
Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine solche Änderung im
Ausmaß der Behinderung ist u.a. nur dann nach Nr. 24 Abs. 2 der AP 1996, die wegen
ihrer rechtsnormähnlicher Qualität für das Sozialgericht im Regelfall maßgebend sind
(BSG, Urteil vom 09.04.1997, 9 RVs 4/95 m.w.N.), u.a. wesentlich, wenn der Vergleich
des gegenwärtigen mit dem des verbindlich festgestellten Gesundheitszustandes der
Klägerin eine GdB-Differenz von mindestens 10 ergibt. Der Hinzutritt von weiteren
Gesundheitsstörungen führt nicht automatisch zu einer Höherbewertung des Gesamt-
GdB. Bei einer Neufeststellung des GdB wegen der Änderung der Verhältnisse zu
Gunsten der Betroffenen handelte es sich nicht um eine reine Hochrechnung des im
bestandskräftigen Bescheid festgestellten Gesamt-GdB, sondern um die Neuermittlung
des Gesamt-GdB unter Berücksichtigung der gegenseitigen Beeinflussung der
verschiedenen Leiden. Dabei entfalten die dem bestandskräftigen
Feststellungsbescheid zugrundegelegten Einzel-GdB für die
Funktionsbeeinträchtigungen keine Bindungswirkung.
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Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens ist keine wesentliche Änderung in dem
Gesundheitszustand der Klägerin eingetreten, die eine Bewertung des
Gesamtbehinderungszustandes mit einem höheren GdB als 50 rechtfertigt.
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Im Funktionssystem "Psyche" besteht bei der Klägerin eine chronisch-reaktive
Depression, die den Verlust der Eigeninitiative, einen kommunikativen Rückzug sowie
ein somatisches Syndrom in Form von schneller Ermüdbarkeit, vermehrten Schlaf und
muskulären Verspannungen zur Folge hat. Der Ansatz eines GdB von 30 für die
funktionellen Auswirkungen der Depression durch die Sachverständige T1 stimmt mit
den Erfahrungssätzen der AP 1996 überein, wonach eine stärker behindernde
psychische Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und
Gestaltungsfähigkeit, z.B. ausgeprägtere depressive Störungen, einen GdB von 30 bis
40 bedingt (Nr. 26.3 S. 60 AP 1996).
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Hinzu tritt im Funktionssystem "Verdauung" eine Lactoseintoleranz mit dem Erfordernis
der strikten Karenz gegenüber Nahrungsbestandteilen, welche Milchzucker enthalten,
und einer Neigung zu Blähungen, die das Auftreten von Refluxbeschwerden als Folge
der Refluxoesophagitis und der chronischen Gastritis verstärkt. Die Bewertung der
Funktionsstörungen in dem Funktionssystem "Verdauung" mit einem GdB von 30 durch
den Sachverständigen Dr. I ist unter Zugrundelegung der GdB-Bewertungen der AP
1996 noch vertretbar. Nach Nr. 26.10 bedingt eine Sprue ohne wesentliche
Folgeerscheinungen unter die diätische Therapie einen GdB von 20 (Nr. 26.10 S. 98),
eine chronische Gastritis einen GdB von 0 bis 10 (Nr. 26.10 S. 95) sowie eine
Refluxkrankheit der Speiseröhre mit anhaltenden Refluxbeschwerden je nach Ausmaß
einen GdB von 10 bis 30 (Nr. 26.10 S. 94). Nach anamnestischen Angaben der Klägerin
treten bei ihr nach dem Essen Schmerzen am linken Oberbauch mit Ausstrahlung hinter
das Brustbein auf, die durch Aufstoßen gelindert werden.
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Desweiteren besteht bei der Klägerin eine Fallneigung, Schwindel und orthostatische
Kreislauffehlregulation. Die Ursache der Fallneigung ist nicht geklärt. Die beiden
Sachverständigen Dr. I und T1 setzen übereinstimmend für die Fallneigung einen GdB
von 20 an. Diese GdB-Bewertung steht nicht im Widerspruch zu den Vorgaben der AP
1996, wonach funktionelle kardiovaskuläre Syndrome, z.B. orthostatische
Fehlregulation, mit stärkeren Beschwerden und Kollapsneigung einen GdB von 10 bis
20 (Nr. 26.9 S. 93) sowie Gleichgewichtsstörungen mit leichten Folgen - leichte
Unsicherheit, geringe Schwindelerscheinungen wie Schwanken, Stolpern,
Ausfallschritte bei alltäglichen Belastungen - einen GdB von 20 (Nr. 26.5 S. 73)
verursachen.
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Im Funktionssystem "Rumpf" besteht bei der Klägerin ein degeneratives
Wirbelsäulensyndrom mit Bandscheibenprotrusion im Bereich der Lendenwirbelsäule L
2/L 3 und S 1 sowie eine Spondylarthrose ohne Nachweis von Nervenreiz- oder
Nervenwurzelkompressionssymptomatik, dem Auftreten von
Bewegungseinschränkungen schweren Grades oder häufig rezidivierenden, Wochen
anhaltenden ausgeprägten Wirbelsäulensyndromen. Dem Funktionssystem "Rumpf"
kann ein GdB von 20 beigemessen werden (Nr. 26.18 S. 140 AP 1996).
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Die Harninkontinenz bei Scheidensenkung mit Dranginkontinenz und Nykturie
verursacht einen GdB von 20 (Nr. 26.14 S. 117; Nr. 26.12 S. 110 AP 1996).
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Im Funktionssystem "Beine" liegt bei der Klägerin ein geringfügig ausgeprägtes
Krampfaderleiden ohne trophische Störungen, eine diskrete Schwäche der Hüftbeugung
links, eine beginnende Polyneuropathie, eine beginnende Gonarthrose beider
Kniegelenke und Coxarthrose beider Hüftgelenke mit endgradig schmerzhafter
Bewegungseinschränkung sowie statische Fußbeschwerden bei Hallux-valgus-
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Deformität und Hammerzehbildung vor. Von den im erstinstanzlichen Verfahren
gehörten Sachverständigen ist weder das Vorliegen von dauernden nach den
Erfahrungssätzen der AP 1996 relevanter Bewegungseinschränkungen der Gelenke der
unteren Extremität, eine relevante Einschränkung der Belastbarkeit der Beine noch
statische Auswirkungen stärkeren Grades als funktionelle Auswirkungen dieser
Gesundheitsstörungen objektiviert worden. Auch unter Berücksichtigung der mit den
Gesundheitsstörungen verbundenen Schmerzen ist das Funktionssystem "Beine" damit
mit der Annahme eines GdB von 10 ausreichend bewertet (Nr. 26.9 S. 91; Nr. 26.3 S. 63;
Nr. 26.18 S. 149/150, 151/152 und 153 AP 1996).
Die Bewegungseinschränkungen der Schultergelenke sind von dem Sachverständigen
Dr. T im Hinblick auf die von ihm festgestellten Bewegungseinschränkungen zutreffend
mit einem GdB von 10 bewertet worden (Nr. 26.18 S. 143 AP 1996).
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Die chronische Bronchitis bedingt ebenfalls nur einen GdB von 10 (Nr. 26.8 S. 82 AP
1996), da weder eine dauernde Einschränkung der Lungenfunktion noch das Auftreten
von häufigen akuten Schüben oder eines sehr ausgiebigen Hustenauswurf objektiviert
worden ist.
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Die übrigen Gesundheitsstörungen "Fettstoffwechselstörungen, Zustand nach
Schilddrüsenoperation und Entfernung der Gallenblase, Tinnitus, Gehschwäche
(Starroperation), Hörminderung links und vasomotorische Kopfschmerzen" verursachen
nach den Feststellungen der beiden Sachverständigen Dr. I und T1 keinen messbaren
GdB. Diese Bewertung steht nicht im Widerspruch zu den Vorgaben der AP 1996 zur
GdB-Bewertung dieser Gesundheitsstörungen (Nr. 26.15 S. 119 und S. 120/121; Nr.
26.10 S. 102, Nr. 26.5 S. 69 und 74, Nr. 26.4 S. 63).
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Der Gesamtbehinderungszustand der Klägerin ist mit der Annahme eines GdB von 50
ausreichend bewertet. Nach den AP 1996 ist, ausgehend von der schwerwiegendsten
Gesundheitsstörung zu prüfen, ob und inwieweit das Ausmaß der Behinderung durch
die anderen Funktionsbeeinträchtigungen vergrößert wird. Dabei ist zu berücksichtigen,
dass leichte Gesundheitsstörungen, die einen GdB von 10 bedingen, in der Regel nicht
zu einer wesentlichen Zunahme des Ausmaßes der Gesundheitsbeeinträchtigungen
führen und das es bei leichten Behinderungen mit einem GdB von 20 vielfach nicht
gerechtfertigt ist, eine Erhöhung anzunehmen. Unter Berücksichtigung dieser
rechtlichen Vorgaben ist der GdB von 30 für das Funktionssystem "Psyche" im Hinblick
auf die Funktionsbeeinträchtigungen in dem Funktionssystem "Verdauung" und der
Fallneigung um 20 auf 50 zu erhöhen. Zu der Einschränkung der psychischen und
körperlichen Belastungsfähigkeit sowie der Fähigkeit zur sozialen Kontaktaufnahme
durch die chronische Depression tritt das Erfordernis der Einhaltung einer bestimmten
Diät mit vermehrten Meteorismus sowie einer Einschränkung der Bewegungsfähigkeit
auf Grund der nach Angaben des Ehemannes der Klägerin ein- bis zweimal wöchentlich
auftretenden Fallneigung hinzu, die den Gesamtbehinderungszustand vergrößern.
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Die Anhebung des GdB im Hinblick auf die Auswirkungen der Funktionsstörungen in
den beiden Funktionssystemen "Rumpf" und "Harnorgane" ist über 50 hinaus nicht
gerechtfertigt. Diese Funktionsbeeinträchtigungen führen nicht zu einer gravierenden
Vergrößerung des Gesamtbehinderungszustandes. Die funktionellen Auswirkungen der
Wirbelsäulenschäden überschneiden sich im Hinblick auf die Einschränkung der
körperlichen Belastungsfähigkeit zumindest teilweise mit denen der chronischen
Depression, da diese mit einem somatischen Syndrom in Form schneller Ermüdbarkeit,
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vermehrten Schlaf und muskulären Verspannungen verbunden ist. Ebenso ist das
Erfordernis des Tragens von Vorlagen bei der Annahme eines GdB von 50 ausreichend
mitberücksichtigt. Die übrigen Gesundheitsstörungen, die mit einem GdB von 10
bewertet sind, haben keine Vergrößerung des Gesamtbehinderungszustandes zur
Folge.
Das SG hat zu Recht das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des
Nachteilsausgleiches "G" bei der Klägerin verneint.
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Nach § 146 SGB IX ist in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich
beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere
Organe oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht
ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder Andere
Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß
zurückgelegt werden. Die ortsübliche Wegstrecke bemisst sich nach einer Wegstrecke
von 2 km bei einer Gehdauer von etwa einer halben Stunde (BSG, Urteil vom
10.12.1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273). Demnach liegt eine erhebliche
Gehbehinderung vor, wenn eine Schwerbehinderte bei der Zurücklegung einer
Gehstrecke von 2 km die Zeitdauer von ca. 30 min. wesentlich überschreitet. Nach
gefestigter Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) beschreiben die AP 1996
Nr. 30 Abs. 3 - 5 Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der
medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" als
erfüllt anzusehen sind und die bei dort nicht erwähnten Behinderungen als
Vergleichsmaßstab dienen können (BSG, Urteil vom 13.08.1997, 9 RVs 1/96; Urteil vom
27.08.1998, B 9 SB 13/97 R). Dabei ist entscheidend, ob die bei der Betroffenen
festgestellten körperlichen Regelwidrigkeiten mit denen von ihnen ausgehenden
Funktionsbeeinträchtigungen die Bewegungsfähigkeit einer gedachten Person ebenso
weit herabsetzen wie in den AP 1996 beispielhaft genannten Fällen. Erst dann ist nach
dem Erfahrungswissen ärztlicher Sachverständigen, das sich in den AP 1996
niedergeschlagen hat, anzunehmen, dass eine Betroffene die Strecke von 2000 m nicht
mehr in zumutbarem Zeitaufwand zurücklegen kann. Die Klägerin ist auf Grund einer
orthopädischen oder inneren Gesundheitsstörung i.S.v. Nr. 30 Abs. 3 AP 1996 nicht in
ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr beeinträchtigt. Insoweit nimmt der Senat
Bezug auf die Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil, die er sich nach Prüfung zu
eigen macht.
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Auch treten bei der Klägerin keine Anfälle auf, die ihre Bewegungsfähigkeit erheblich
beeinträchtigen. Nach Nr. 30 Abs. 4 AP 1996 fallen unter dem Begriff "Anfälle"
hirnorganische und hypoglykämische Anfälle von Zuckerkranken, also Anfälle, die mit
Bewusstseinsverlust und Sturzgefahr verbunden sind (BSG, Beschluss vom 10.05.1994,
9 BVs 45/93), wobei die Anfälle in bestimmter Häufigkeit und überwiegend am Tage
auftreten müssen. Bei der von den beiden Sachverständigen Dr. I und T1
beschriebenen Fallneigung der Klägerin handelt es sich nicht um ein Auftreten von
Anfällen in bestimmter Häufigkeit i.S.v. Nr. 30 Abs. 4 AP 1996. Nach den
anamnestischen Angaben der Klägerin sowie ihres Ehemannes bei den
Sachverständigen ist zwar das ein- bis zweimalige wöchentliche Auftreten einer
Fallneigung mit der Notwendigkeit vorübergehenden Haltesuchens und Hinsetzens
verbunden, die Klägerin kann aber die Anzeichen einer Fallneigung erkennen und sich
noch in eine sichere Lage begeben. Das gehäufte Auftreten von Stürzen mit
Bewusstseinsverlust als Folge der Fallneigung ergibt sich weder aus den
anamnestischen Angaben der Klägerin und ihres Ehemannes bei den
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Sachverständigen noch aus den beigezogenen ärztlichen Befundberichten.
Die funktionellen Auswirkungen der chronischen Depression begründen nicht die
persönlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" nach § 146 SGB IX.
Psychische Störungen rechtfertigen nur dann die Annahme des Nachteilsausgleiches
"G", wenn sie eine Störung der Orientierungsfähigkeit, psychogene Gangstörungen oder
Anfälle i.S.v. Nr. 30 Abs. 3 AP 1996 bewirken. Der Gesetzgeber hat in § 146 SGB IX
abschließend aufgezählt, welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen eine erhebliche
Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr begründen können.
Psychisch erkrankte Personen, deren Leiden nur mit sonstigen Beeinträchtigungen oder
Störungen einhergehen, z.B. mit Verstimmungen, antriebsminderung und
Angstzuständen, fallen nicht unter § 146 SGB IX (BSG, Beschluss vom 10.05.1994, 9
BVs 45/93).
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Der Senat sieht keinen Anlass zu weiteren Ermittlungen von Amts wegen. Die
Gutachten der im erstinstanzlichen Verfahren gehörten Sachverständigen Dr. I, Dr. T
und T1 sind in sich schlüssig, widerspruchsfrei und nachvollziehbar begründet. Sie
beruhen auf einer eingehenden klinischen Untersuchung der Klägerin sowie einer
kritischen Auswertung der beigezogenen ärztlichen Unterlagen. Sie stehen nicht im
Widerspruch zu den in den beigezogenen ärztlichen Unterlagen dokumentierten
Befunden. Für den Senat besteht kein Anhaltspunkt, an der Richtigkeit der
Feststellungen der drei Sachverständigen zu zweifeln. Die Klägerin hat auch im
Berufungsverfahren keine Tatsachen vorgetragen, die Anlass zu einer weiteren
Sachverhaltsaufklärung gegeben hätten. Desweiteren hat es die Klägerin trotz
mehrmaliger Aufforderung und Hinweis auf ihre Obliegenheit zur Mitwirkung nach § 103
SGG unterlassen, dem Senat eine Schweigepflichtentbindungserklärung hinsichtlich
ihrer behandelnden Ärzte zu übersenden, um eine weitere Sachverhaltsaufklärung zu
ermöglichen. Die sich daraus für die Sachverhaltsaufklärung ergebenden Nachteile hat
die Klägerin nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast verfahrensrechtlich zu
tragen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Anlass, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, besteht nicht.
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