Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 01.10.2003

LSG NRW: anteil, missverhältnis, wirtschaftlichkeit, gespräch, vergleich, diagnose, versorgung, betrug, dokumentation, regress

Landessozialgericht NRW, L 11 KA 213/01
Datum:
01.10.2003
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
11. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 11 KA 213/01
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 9 KA 175/99
Sachgebiet:
Vertragsarztrecht
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts
Dortmund vom 04.09.2001 abgeändert. Der Beklagte wird unter
Aufhebung des Beschlusses vom 03.03.1999 verpflichtet, unter
Beachtung der Rechtsauffassung des Senates neu über den
Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid des
Prüfungsausschusses vom 10.12.1997 zu entscheiden. Der Beklagte
trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten über Regresse, die der Beklagte gegen den Kläger in den
Quartalen I und II/1996 verhängt hat.
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Der Kläger ist als Internist in J niedergelassen und nimmt seit dem Quartal I/1996 an der
vertragsärztlichen Versorgung teil.
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In den Quartalen I und II/1996 betrug die Fallzahl der Praxis 754 bzw. 693 gegenüber
durchschnittlich 1.122 bzw. 1.068 Fällen der Fachgruppe. Der Rentneranteil betrug 40
% bzw. 44 % gegenüber einem Fachgruppendurchschnitt von 39 % bzw. 42 %. Die
Gesamthonorarabweichung lag bei +102 % bzw. +84 %. Im Quartal I/1996 rechnete der
Kläger die Nr. 10 Einheitlicher Bewertungsmaßstab (EBM-Ä) (therapeutisches
hausärztliches Gespräch) 1.339 mal und die Nr. 60 EBM-Ä (Ganzkörperstatus) 575mal
ab. Damit überschritt er den Fachgruppendurchschnitt um 249 % bzw. 406 %. Im Quartal
II/1996 rechnete der Kläger die Nr. 11 EBM-Ä (Diagnostik und/oder Behandlung einer
psychischen Destabilisierung oder Krankheit durch hausärztliches Gespräch) 119mal
und die Nr. 60 EBM-Ä 421mal ab. Das entsprach einer Überschreitung des
Fachgruppendurchschnitts um 240 % bzw. 335 %.
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Die Entscheidung des Prüfungsausschusses, u.a. wegen der genannten
Gebührenziffern Kürzungen zu verhängen (Beschlüsse vom 10.12.1997), griff der Kläger
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mit dem Widerspruch an und führte aus: Es handele sich um seine ersten
Abrechnungsquartale. Alle sich vorstellenden Patienten seien für ihn neu gewesen,
zumal er die handschriftliche geführte Kartei seines Vorgängers nicht habe lesen
können. Deshalb seien vermehrt Gesprächsleistungen und Ganzkörperuntersuchungen
angefallen. Zu berücksichtigen seien weiter die niedrigen Fallzahlen und die
Abrechnungsschwierigkeiten, die jeder Anfänger aufgrund unzureichender Ausbildung
habe. Mit Beschluss vom 03.03.1999 verhängte der Beklagte im Quartal I/1996 eine
Kürzung der Nr. 10 EBM-Ä auf 20 % und der Nr. 60 EBM-Ä auf 40 %, im Quartal II/1996
eine Kürzung der Nr. 11 EBM-Ä auf 40 % und der Nr. 60 EBM-Ä auf 42,5 %. Hierzu
bediente er sich des statistischen Fallkostenvergleichs und setzte die Grenze zum
offensichtlichen Missverhältnis bei einer einzelnen Leistungsziffer bei 50 % an. Im
Hinblick auf das Vorbringen des Klägers beließ er diesem deutliche Toleranzen, stellte
aber eine von ihm so bezeichnete "gewisse Routine" fest und beschloss aus diesem
Grund die genannten Kürzungen.
Mit der Klage zum Sozialgericht Dortmund (SG) hat der Kläger sein Vorbringen aus dem
Verwaltungsverfahren vertieft und zusätzlich gerügt, der Beklagte habe sich mit der vom
Bundessozialgericht (BSG) anerkannten Praxisbesonderheit der Anfängerpraxis in
keiner Weise auseinander gesetzt. Soweit er bei 175 Patienten in beiden Quartalen eine
Ganzkörperuntersuchung durchgeführt habe, sei in fast allen Fällen eine Diagnose
ergänzt oder ersetzt worden. Immerhin hätten aber 30 % der Ganzkörperuntersuchungen
im Quartal II/1996 bei neuen Patienten stattgefunden. Ebenso wenig habe sich der
Beklagte mit kompensatorischen Einsparungen befasst, zu denen er - der Kläger - sich
bislang nicht habe äußern können, weil ihm keine Statistiken vorgelegt worden seien.
Schließlich habe der Beklagte auch den Gesamtfallwert bzw. Restfallwert nach Kürzung
in beiden Quartalen nicht reflektiert.
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Der Kläger hat beantragt,
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den Bescheid des Beklagten aus der Sitzung vom 03.03.1999 aufzuheben und den
Beklagten zu verpflichten, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu über
den Widerspruch des Klägers zu bescheiden.
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Der Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er hat darauf hingewiesen, dass die Fachgruppe des Klägers Nr. 60 EBM-Ä nach
Inkrafttreten des EBM-Ä 1996 deutlich häufiger angesetzt habe. Trotzdem habe der
Kläger den Fachgruppendurchschnitt noch deutlich überschritten. Das lasse sich mit
einer Anfängerpraxis nicht mehr erklären. Unabhängig davon, ob Einsparungen bei
Arzneimittelverordnungen oder veranlassten physikalisch-medizinischen Leistungen
vorlägen, fehle es jedenfalls an einem vom Kläger darzulegenden ursächlichen
Zusammenhang zu den beanstandeten Leistungsüberschreitungen. Schließlich liege
auch der Restfallwert im Bereich deutlicher Überschreitungen, obwohl dort budgetierte
Leistungen unberücksichtigt blieben.
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Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 04.09.2001). Der Beklagte habe bei den
Leistungen nach Nrn. 10, 11, 60 EBM-Ä rechtsfehlerfrei die Methode des statistischen
Einzelleistungsvergleichs angewandt. Er habe der Praxisbesonderheit der Anlaufpraxis
Rechnung getragen, auch wenn der Begriff nicht gefallen sei. Aufgrund dessen habe er
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dem Kläger Restüberhänge belassen, innerhalb derer die erforderlichen Mehrleistungen
hätten erbracht werden können. Beurteilungs- oder Begründungsfehler seien nicht
feststellbar, zumal angesichts der maßvollen Honorarkürzungen nur schwerwiegende
Mängel erheblichen Ausmaßes beanstandet werden könnten. Die vom Kläger
geforderte Reflexion des Gesamtfallwertes führe nicht weiter, weil trotz
unterdurchschnittlicher Fallzahlen eine erhebliche Gesamthonorarabweichung in
beiden Streitquartalen festzustellen sei.
Mit der Berufung wiederholt und vertieft der Kläger sein bisheriges Vorbringen und weist
darauf hin, dass die Formulierung des Beklagten, es sei "ein Anteil unwirtschaftlicher
Ansätze" im Hinblick auf eine "gewisse Routine" festzustellen, zu unbestimmt sei. Der
Beklagte habe feststellen müssen, welcher Anteil und welche Leistungen
unwirtschaftliche Ansätze aufwiesen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er hält eine Auseinandersetzung mit dem Gesichtspunkt der Anlaufpraxis nicht für
geboten, weil dem Kläger großzügige Restüberhänge weit im Bereich des
offensichtlichen Missverhältnisses belassen worden seien.
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Der Senat hat die Verwaltungsvorgänge des Beklagten beigezogen. Die Beteiligten
haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
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Entscheidungsgründe:
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Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung
(§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).
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Der Kläger hat zwar keinen Berufungsantrag gestellt. Sein Begehren lässt sich aber
ohne weiteres aus seinem schriftsätzlichen Vorbringen ableiten. Danach geht es ihm
darum, das Urteil des SG abzuändern und den Beklagten unter Aufhebung seines
Beschlusses vom 03.03.1999 zu verpflichten, über seinen Widerspruch gegen den
Bescheid des Prüfungsausschusses neu zu entscheiden.
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Die hierauf gerichtete zulässige Berufung ist begründet, soweit der Beklagte die
Honoraranforderung des Klägers für die Erhebung des Ganzkörperstatus nach Nr. 60
EBM-Ä im Quartal I/1996 gekürzt hat. Insoweit ist der Beklagte verpflichtet, unter
Beachtung der Rechtsauffassung des Senates neu über den Widerspruch des Klägers
zu entscheiden. Die übrigen Angriffe des Klägers gegen die Entscheidung des
Beklagten greifen dagegen (im Ergebnis) nicht durch.
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Rechtsgrundlage für Honorarkürzungen wegen unwirtschaftlicher Behandlungsweise ist
§ 106 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) in der hier
maßgebenden Fassung des Gesundheitsstrukturgesetzes. Danach wird die
Wirtschaftlichkeit der Versorgung durch arztbezogene Prüfungen ärztlicher und ärztlich
verordneter Leistungen nach Durchschnittswerten beurteilt. Nach den hierzu von der
Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen ist die statistische Vergleichsprüfung die
Regelprüfmethode (vgl. BSGE 84, 85, 86: SozR 3-2500 § 106 Nr. 55; zuletzt Urt. v.
21.05.2003 - B 6 KA 32/02 R - zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen). Die
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Abrechnungswerte des Arztes werden mit denjenigen seiner Fachgruppe oder einer
nach verfeinerten Kriterien gebildeten engeren Vergleichsgruppe im selben Quartal
verglichen. Ergänzt durch die sog. intellektuelle Betrachtung, bei der medizinisch-
ärztliche Gesichtspunkte berücksichtigt werden, bringt diese Methode typischerweise
die umfassendsten Erkenntnisse. Ergibt die Prüfung, dass der Behandlungsaufwand
des Arztes je Fall beim Gesamtfallwert, bei Sparten- oder Einzelleistungswerten in
offensichtlichem Missverhältnis zum durchschnittlichen Aufwand der Vergleichsgruppe
steht, d.h. ihn in einem Ausmaß überschreitet, das sich im Regelfall nicht mehr durch
Unterschiede in der Praxisstruktur oder in den Behandlungsnotwendigkeiten erklären
lässt, hat das die Wirkung eines Anscheinsbeweises der Unwirtschaftlichkeit (BSG,
SozR 3-2500 § 106 Nr. 55; SozR 3-2500 § 106 Nr. 57; BSG, Urt. v. 21.05.2003 - a.a.O.).
Die arztbezogene Prüfung nach Durchschnittswerten ist nicht nur hinsichtlich des
Gesamtfallwertes zulässig, sondern unter der Voraussetzung einer hinreichenden
Vergleichbarkeit gleichermaßen zur Überprüfung der Wirtschaftlichkeit des Ansatzes
einzelner Leistungspositionen des EBM-Ä. Es muss sich dabei um Leistungen handeln,
die für die betreffende Arztgruppe typisch sind, also von einem größeren Teil der
Fachgruppenmitglieder regelmäßig in nennenswerter Zahl erbracht werden und damit
eine ausreichende Vergleichsgrundlage abgeben (BSGE 71, 194, 196; BSGE 74, 70,71;
BSG, SozR 3-2500 § 106 Nr. 55). Der Beklagte hat im Rahmen seines
Beurteilungsspielraums angenommen, dass diese Voraussetzungen bei den Leistungen
nach Nrn. 10, 11 und 60 EBM-Ä erfüllt sind. Das lässt Rechtsfehler nicht erkennen,
zumal die Ziffern ausweislich der für das Quartal I/1996 vorliegenden Frequenztabelle
von jeweils über 90 % der Ärzte in der Fachgruppe des Klägers in zwischen 5 % (bei Nr.
11 EBM-Ä) und 51 % der Fälle (bei Nr. 10 EBM-Ä) angesetzt worden sind.
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Die Eignung des statistischen Vergleichs wird nicht dadurch beeinträchtigt, dass die
Vergleichsgruppe insgesamt dem Beklagten zufolge in den Streitquartalen die
Abrechnung der Nr. 60 EBM-Ä deutlich gesteigert hat. Das gilt auch dann, wenn diese
Steigerung auf einem unwirtschaftlichen Ansatz beruhen sollte. Denn die Annahme oder
Vermutung eines wirtschaftlichen Verhaltens der Arztgruppe ist keine positive
Voraussetzung einer Vergleichsprüfung nach Durchschnittswerten. Einem
Horizontalvergleich ist vielmehr erst dann die Grundlage entzogen, wenn der Vergleich
mit dem durchschnittlichen Abrechnungsverhalten der Fachgruppe zur Überprüfung der
Wirtschaftlichkeit unergiebig ist (vgl. BSG, SozR 3-2500 § 106 Nr. 55). Dafür bestehen
hier aber keine Anhaltspunkte.
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Im Ergebnis rechtsfehlerfrei hat der Beklagte angenommen, dass sich das
Abrechnungsverhalten des Klägers bei den jetzt noch von Kürzungen betroffenen
Leistungen im Bereich des offensichtlichen Missverhältnisses bewegt. Der Beklagte
selbst ist davon ausgegangen, die Grenze liege bei einer Überschreitung des
Fachgruppendurchschnitts von 50 %, nachdem die zum 01.01.1996 in Kraft getretenen
Neuregelungen des EBM-Ä zu einer Homogenisierung des Abrechnungsverhaltens
geführt hätten. Es kann offen bleiben, ob diese Begründung in allen Einzelheiten
überzeugt oder ob bei einem Einzelleistungsvergleich nicht wegen der größeren Gefahr
von Fehlinterpretationen höhere Grenzwerte in Betracht zu ziehen sind. Denn jedenfalls
hätte sich eine Fehlbeurteilung des Beklagten insoweit im Ergebnis nicht ausgewirkt,
weil die Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis keinesfalls höher anzusetzen ist als
bei einer Überschreitung des Fachgruppendurchschnitts um 100 % und der Kläger bei
den gekürzten Leistungen Überschreitungen von 240 % bis 406 % aufweist (vgl. BSG,
Urt. v. 21.05.2003 - a.a.O. - m.w.N.).
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Rechtswidrig ist der Beschluss des Beklagten allerdings, soweit er im Quartal I/1996
einen Regress wegen des überhöhten Ansatzes der Nr. 60 EBM-Ä festgesetzt hat. Denn
insoweit genügt er nicht den Begründungsanforderungen, die an eine solche
Kürzungsentscheidung zu stellen sind.
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Der Kläger hat bereits im Prüfverfahren schlüssig vorgetragen, dass bei ihm im Quartal
I/1996 eine Praxisbesonderheit in Gestalt der sog. Anlauf- oder Anfängerpraxis
bestanden habe. Insoweit hat die Rechtsprechung unmittelbar nach Aufnahme der
Kassenpraxis einen erhöhten Behandlungsbedarf anerkannt, weil ausschließlich neue
Patienten zu behandeln seien (vgl. BSGE 62, 24, 31; BSGE 63, 6, 9; BSG, USK 9581).
Daran ist festzuhalten, wobei es unerheblich ist, ob die Praxis vollständig neu etabliert
wird, oder ob der Arzt sie vom Vorgänger übernommen hat. Im einen wie im anderen
Fall sind die Patienten für ihn neu. Es spielt ebenfalls keine Rolle, ob der Vorgänger
bereits eine Diagnostik oder Therapie bei diesen Patienten durchgeführt hat und ob die
Aufzeichnungen hierüber les- und nachvollziehbar sind. Denn auch derjenige Arzt, der
eine gut geführte Praxis mit einwandfreier Dokumentation übernimmt, ist nicht gehalten,
die Erkenntnisse seines Vorgängers kritiklos zu übernehmen. Vielmehr wird er sich von
den neuen Patienten ein eigenes Bild machen dürfen und nach den Regeln der
ärztlichen Kunst auch müssen. Im Hinblick hierauf ist auch nachvollziehbar, dass der
Ansatz der Nr. 60 EBM-Ä zumindest im ersten Quartal einer neuen Praxis häufiger
anfällt als in einer etablierten Praxis, wie sie innerhalb der Vergleichsgruppe
typischerweise anzutreffen ist und deren durchschnittliche Abrechnungswerte daher
prägt.
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Dem angefochtenen Beschluss ist schon nicht mit hinreichender Deutlichkeit zu
entnehmen, dass der Beklagte diese Praxisbesonderheit tatsächlich gesehen und zur
Feststellung eines unwirtschaftlichen Behandlungsverhaltens herangezogen hat.
Vielmehr lässt seine Begründung auch die Deutung zu, dass er die Praxissituation des
Klägers lediglich im Rahmen des Kürzungsermessens berücksichtigt hat. Auch wenn
man jedoch mit dem SG annimmt, dass der Beklagte der Praxisbesonderheit
"Anlaufpraxis" Rechnung getragen hat, hätte er im Rahmen seiner Begründungspflicht
darlegen müssen, bei welchem Anteil "neuer" Patienten zur Sicherung der Diagnose in
einer vergleichbaren Anlaufpraxis ein Gesamtkörperstatus erhoben werden muss.
Entsprechend hätte er den hierdurch entstehenden Mehraufwand beziffern müssen und
erst im Anschluss daran die Frage der Unwirtschaftlichkeit beurteilen dürfen.
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Demgegenüber kann sich der Beklagte nicht mit Erfolg auf das Urteil des BSG vom
28.06.2000 (B 6 KA 36/98 R) beziehen. Zwar hat das SG diese Entscheidung dahin
verstanden, dass der Begründungsaufwand der Prüfgremien gleichsam
entgegengesetzt proportional zum belassenen Restüberhang sinken dürfe. Der Senat
entnimmt jedoch der vom BSG gewählten Formulierung "Dabei ist angesichts der vom
Beklagten errechneten unwirtschaftlichen Mehrkosten von mehr als 29.000 DM und des
andererseits auf nur ca. 11.000 DM festgesetzten Regresses zu berücksichtigen, dass
dieser niedrigere Betrag lediglich im Falle von Mängeln erheblichen Ausmaßes
beanstandet werden könnte" nicht zu entnehmen, dass großzügigere Überhänge den
Begründungsaufwand reduzieren. Vielmehr können bei einer großzügigen Festsetzung
des Regresses selbst nur solche Mängel nur Aufhebung des Beschlusses führen, die
sich quantitativ erheblich auswirken. Voraussetzung ist aber immer, dass wenigstens
die "unwirtschaftlichen Mehrkosten" nachvollziehbar errechnet worden sind. Daran fehlt
es hier jedoch gerade.
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Anders verhält es sich hingegen für das Quartal II/1996. Im zweiten Quartal einer
übernommenen Praxis kann nicht mehr ohne weiteres davon ausgegangen werden,
dass jeder Patient für den Arzt neu ist. Dementsprechend hat der Kläger selbst
eingeräumt, bei einem hohen Teil aller Patienten die Nr. 60 EBM-Ä in beiden Quartalen
angesetzt zu haben. Inwieweit dies zur Gewinnung neuer diagnostischer Erkenntnisse
erforderlich gewesen sein sollte, hätte er demgemäß im Rahmen seiner Darlegungslast
erläutern müssen. Da er hiervon keinen Gebrauch gemacht hat, konnte sich der
Beklagte darauf beschränken, den überhöhten Ansatz der Nr. 60 EBM-Ä im Sinne einer
Anlaufschwierigkeit zu werten und dieser im Rahmen seines Ermessens durch
Belassen großzügiger Toleranzen Rechnung zu tragen.
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Ein Zusammenhang zwischen der Anlaufpraxis des Klägers und dem erhöhten Ansatz
der Leistungen nach Nrn. 10 und 11 EBM-Ä ist in beiden Streitquartalen nicht zu
erkennen. Nr. 10 EBM-Ä, das therapeutische hausärztliche Gespräch zu komplexen
erkrankungsbedingten Patientenproblemen, und Nr. 11 EBM-Ä, die Diagnostik einer
psychischen Destabilisierung, fallen bei einer Anlaufpraxis nicht notwendig häufiger an
als bei einer bereits etablierten Praxis. Vielmehr handelt es sich, wie das BSG bereits zu
Nr. 10 Bewertungsmaßstab für ärztliche Leistungen ausgeführt hat (BSGE 71, 194; 74,
70), um Leistungen, die nur bei bestimmten Krankheitszuständen anfallen, in Bezug auf
Nr. 10 EBM-Ä vor allem bei chronisch kranken oder multimorbiden Patienten,
hinsichtlich Nr. 11 EBM-Ä bei Patienten mit psychischen oder psychosomatischen
Erkrankungen. Dass in seiner Praxis ein entsprechendes Patientengut in erhöhtem
Maße aufgetreten wäre, hat der Kläger weder im Verwaltungs- noch im
Gerichtsverfahren schlüssig dargelegt. Der bloße Hinweis, bei neuen Patienten seien
typischerweise mehr Gesprächsleistungen zu erbringen, reicht hierfür nicht aus.
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Die im Vergleich zur Vergleichsgruppe niedrigere Fallzahl des Klägers rechtfertigt nicht
die Annahme einer Praxisbesonderheit. Niedrigere Fallzahlen können sich beim
statistischen Vergleich nur insoweit auswirken, als sie dessen Aussagekraft
beeinträchtigen. Das ist jedoch aus den bereits dargelegten Gründen bei den hier
betroffenen Leistungen nicht der Fall.
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Kompensatorische Einsparungen sind nicht ersichtlich und vom Kläger auch nicht
dargelegt worden. Das Fehlen entsprechender statistischer Erhebungen hat den Kläger
seiner entsprechenden Darlegungslast nicht vollständig enthoben. Vielmehr hätte es
ihm gegebenenfalls z.B. ohne weiteres möglich sein müssen, anhand repräsentativer
Einzelfälle kompensatorische Einsparungen - etwa im Bereich der verordneten oder
veranlassten Leistungen - aufgrund der in erhöhtem Umfang erbrachten Leistungen
vorzutragen. Da er hiervon keinen Gebrauch gemacht hat, führt der Umstand, dass der
Beklagte seinerseits keine entsprechenden statistischen Feststellungen getroffen hat,
nicht zur Rechtswidrigkeit des angefochtenen Beschlusses.
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Soweit der Beschluss sich danach als rechtmäßig erweist, ändert sich hieran auch
nichts aufgrund des Hinweises, der Beklagte habe den Gesamt- bzw. Restfallwert
reflektieren müssen. Jedenfalls bei - wie hier - deutlich im Bereich des
Missverhältnisses liegenden Überschreitungen bei Einzelleistungen hindert auch ein
unauffälliger Gesamt- bzw. Restfallwert nicht die Feststellung der Unwirtschaftlichkeit.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in der bis zum 01.01.2002 geltenden
Fassung. Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht ersichtlich.
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