Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 16.07.2010

LSG NRW (krankenversicherung, private krankenversicherung, versicherte person, vorläufiger rechtsschutz, vag, höhe, sgg, beschwerde, umfang, versicherer)

Landessozialgericht NRW, L 7 AS 893/10 B ER
Datum:
16.07.2010
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
7. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 7 AS 893/10 B ER
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 29 AS 1096/10 ER
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Beschwerden der Antragstellerin gegen den Beschluss des
Sozialgerichts Dortmund vom 05.05.2010 werden zurückgewiesen.
Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe:
1
Die Beschwerden der Antragstellerin sind zulässig, in der Sache jedoch nicht
begründet.
2
1. Das Sozialgericht (SG) Dortmund hat ihren Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz mit
Beschluss vom 05.05.2010 zu Recht zurückgewiesen.
3
a) Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen
auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges
Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher
Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen
Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d. h. des materiellen
Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines
Anordnungsgrundes, d. h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen
Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Können ohne die
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht
abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht
mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur
summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung
der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der
Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu
entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 -, BVerfGK 5, 237 =
NVwZ 2005, Seite 927).
4
b) Die Antragstellerin hat einen Anordnungsgrund nicht hinreichend glaubhaft gemacht.
5
Denn die Antragstellerin, die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach
dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) von dem Antragsgegner laufend bezieht,
verfügt zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats auch weiterhin über einen
wirksamen privaten Krankenversicherungsschutz.
6
Sie hat im Verlauf des Beschwerdeverfahrens nicht vorgetragen, dass ihre
Krankenversicherung aufgrund eines (etwaigen) Beitragsrückstandes bereits
angekündigt habe, die Leistungen zum Ruhen bringen zu wollen, ungeachtet der Frage,
ob sie dies rechtlich überhaupt dürfte.
7
Selbst wenn Letzteres der Fall sein sollte, ist es der Antragstellerin derzeit zuzumuten,
das bereits anhängige sozialgerichtliche Hauptsacheverfahren (weiter) durchzuführen
und über ihr Begehren dort eine sozialgerichtliche Entscheidung herbeizuführen. Denn
ihre private Krankenversicherung hat mit Schreiben vom 15.02.2010 zum Ausdruck
gebracht, dass die Antragstellerin in den Basistarif wechseln kann. Dies entspricht der
Rechtslage. Denn hinsichtlich des Basistarifs in der privaten Krankenversicherung
besteht ein Kontrahierungszwang der privaten Krankenversicherungsunternehmen.
Dieser ist im Einzelnen in § 12 Abs. 1a und 1b Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG)
normiert. Gemäß § 12 Abs. 1b Satz 4 VAG darf der Antrag nur abgelehnt werden, wenn
die Antragstellerin bereits bei dem Versicherer versichert war und der Versicherer den
Versicherungsvertrag wegen Drohung oder arglistiger Täuschung angefochten hat (Nr.
1) oder vom Versicherungsvertrag wegen einer vorsätzlichen Verletzung der
vorvertraglichen Anzeigepflicht zurückgetreten ist (Nr. 2).
8
Nach einem Wechsel in den Basistarif ist ein Ruhen der Leistungen nach den
gesetzlichen Vorgaben nicht zu erwarten. Denn gemäß § 193 Abs. 6 Satz 5 VVG endet
das Ruhen der Leistungen, wenn der Versicherungsnehmer oder die versicherte Person
hilfebedürftig nach dem SGB II wird. Diese Vorschrift erfasst nicht nur die Fälle, in denen
die Hilfebedürftigkeit des Versicherungsnehmers während des Ruhens, also nach
Beginn des Zahlungsverzuges eintritt, sondern auch solche, in denen die
Hilfebedürftigkeit des Versicherungsnehmers vor oder gleichzeitig mit dem Ruhen
eingetreten ist (LSG Nordrhein-Westfalen vom 23.10.2009, L 19 B 300/09 AS ER, Juris,
m.w.N.). Ferner besteht gemäß § 193 Abs. 6 S. 6 VVG Krankenversicherungsschutz
auch während des Ruhens der Leistungen; dann haftet der Versicherer - jedenfalls - für
Leistungen, die zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände sowie bei
Schwangerschaft erforderlich sind (entsprechend der gesetzlichen Regelung des § 16
Abs. 3a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V); vgl. zuletzt Beschluss des
erkennenden Senats vom 12.10.2009, L 7 B 197/09 AS, Juris).
9
Dass ein Wechsel der Antragstellerin in den Basistarif der privaten
Krankenversicherung nicht zugemutet werden kann, ist weder glaubhaft gemacht noch
ersichtlich. Insbesondere hat die Antragstellerin nicht behauptet, dass der Basistarif
(auch und insbesondere in ihrem Fall) keine ausreichende medizinische Versorgung
böte. Dem würden auch die Ausführungen ihrer privaten Krankenversicherung im
Schreiben vom 19.02.2010 widersprechen, wonach der Basistarif nach Art, Umfang und
Höhe mit den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung vergleichbar ist.
10
c) Es wird im sozialgerichtlichen Hauptsacheverfahren zu klären sein, in welcher Höhe
der Antragsgegner die Beiträge der Antragstellerin zu ihrer privaten
Krankenversicherung und privaten Pflegeversicherung zu tragen hat.
11
Rechtsgrundlagen hierfür sind die Regelungen des § 26 Abs. 2 und Abs. 3 SGB II in der
Fassung ab dem 01.01.2009. Unter den dortigen Voraussetzungen und in der dortigen
Höhe muss der Grundsicherungsträger die Beiträge von Hilfebedürftigen, die in der
gesetzlichen Kranken- bzw. sozialen Pflegeversicherung nicht versicherungspflichtig
(und nicht familienversichert) sind, zu der privaten Kranken- bzw. privaten
Pflegeversicherung tragen.
12
aa) Besteht, wie es bei der Antragstellerin nach derzeitigem Erkenntnisstand der Fall
sein dürfte, unabhängig von der Höhe des zu zahlenden Beitrags Hilfebedürftigkeit nach
dem SGB II, zahlt der Grundsicherungsträger (nur) den Beitrag, der auch für einen
Bezieher von Arbeitslosengeld II in der gesetzlichen Krankenversicherung zu zahlen ist
(§ 26 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 12 Abs. 1 c Satz 6 Halbsatz 2
Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG)). Dort ist nur ein ermäßigter Beitragssatz zu tragen
(§ 246 i.V.m. § 243 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V); vgl. zur Berechnung im
Einzelnen Klerks, info also 2009, S. 153, 155 f.). Der Hilfebedürftige muss für eine
Differenz zwischen diesem Beitragszuschuss und seinem Beitrag zur privaten
Krankenversicherung damit im Ergebnis selbst aufkommen. Er kann sie nur aus der
Regelleistung bestreiten, in der Leistungen für den Krankenversicherungsschutz -
jedenfalls in dieser Höhe - nicht enthalten sein dürften (vgl. LSG Baden-Württemberg,
Beschluss vom 16.09.2009, L 3 AS 3934/09 ER-B, Juris (Rn. 19))
13
bb) In der sozialgerichtlichen Rechtsprechung ist erörtert worden, ob dieses Ergebnis
insbesondere vor dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (Art. 3
Abs. 1 GG) zu rechtfertigen ist.
14
Zum Teil wird eine Ungleichbehandlung gegenüber denjenigen Hilfebedürftigen
festgestellt, die in der gesetzlichen Krankenversicherung freiwillig krankenversichert ist
und auf die deshalb die Regelung des § 26 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB II anzuwenden ist.
Dort ist eine betragsmäßge Begrenzung der Beitragsübernahme anders als in § 26 Abs.
2 Satz 1 Nr. 1 SGB II nicht - jedenfalls nicht in der vorgenannten Weise - vorgesehen. Es
wird deshalb erwogen, die Regelung des § 26 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB II im
vorliegenden Kontext analog anzuwenden (so SG Karlsruhe, Urteil vom 10.08.2009, S 5
AS 2121/09, Juris (Rn. 56); vgl. auch Brünner in: LPK-SGB II, 3. Auflage 2009 § 26 Rn.
23).
15
Zum Teil wird eine Ungleichbehandlung gegenüber denjenigen Hilfebedürftigen
beobachtet, die allein aufgrund ihres privaten Krankenversicherungsbeitrages
hilfebedürftig sind (also ohne diesen nicht hilfebedürftig wären). Denn dort sieht das
Gesetz eine Beitragsbeteiligung des Grundsicherungsträgers "im erforderlichen
Umfang" vor, soweit dadurch Hilfebedürftigkeit vermieden wird (§ 12 Abs. 1 c Satz 5
VAG). Dort ist eine betragsmäßge Begrenzung der Beitragsübernahme wie in § 12 Abs.
1 c Satz 6 VAG also nicht vorgesehen (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom
16.09.2009, L 3 AS 3934/09 ER-B, Juris (Rn. 24 f.)).
16
Es ist damit zu klären, ob die Regelung des Gesetzgebers, dass in einer Konstellation
wie der vorliegenden der Grundsicherungsträger (nur) den Beitrag zu zahlen hat, der
auch für einen Bezieher von Arbeitslosengeld II in der gesetzlichen
Krankenversicherung zu zahlen ist (§ 26 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 12 Abs. 1 c
Satz 6 Halbsatz 2 VAG), einer Korrektur im Wege der teleologischen oder
verfassungsmäßigen Auslegung bedarf (vgl. auch SG Stuttgart, Beschluss vom
13.08.2009, S 9 AS 5003/09 ER, Juris, wonach nach der wortgetreuen Anwendung der
17
gesetzlichen Regelung eine verfassungsrechtlich bedenkliche Bedarfsunterdeckung
vorliege, die auf einem Versehen der Gesetzgebung beruhe; anders Brünner in: LPK-
SGB II, 3. Auflage 2009 § 26 Rn. 21: "bewusst in Kauf genommen"). Hinsichtlich der
Beiträge zur privaten Pflegeversicherung sind gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 SGB II die
"Aufwendungen für eine angemessene private Pflegeversicherung im notwendigen
Umfang" zu übernehmen.
cc) Abzuwarten bleibt ferner, ob die gesetzliche Regelung des § 26 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1
SGB II angesichts der aufgezeigten "Beitragslücke" noch korrigiert oder geändert
werden wird; das Problem ist jedenfalls bereits gesehen und angesprochen worden (vgl.
BT-Drucksache 16/12355 mit BT-Plenarprotokoll 16/213, ferner BT-Drucksache
16/13965).
18
2. Unbegründet ist auch die Beschwerde gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe
im angefochtenen Beschluss. Denn Prozesskostenhilfe steht der Antragstellerin nach §
73a SGG, §§ 114, 115 ZPO wegen fehlender Erfolgsaussichten der beabsichtigten
Rechtsverfolgung nicht zu.
19
3. Soweit die Antragstellerin mit der Beschwerde die Ablehnung des Antrages auf
Erlass einer einstweiligen Anordnung angegriffen hat, folgt die Kostenentscheidung aus
einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Soweit sich ihre Beschwerde gegen
die Ablehnung des Antrages auf Gewährung von Prozesskostenhilfe richtet, werden
Kosten im Beschwerdeverfahren nicht erstattet (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 127
Abs. 4 ZPO).
20
4. Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht angreifbar (§ 177 SGG).
21