Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 27.05.2008

LSG NRW: aufenthalt im ausland, befreiung, anerkennung, familie, gewöhnlicher aufenthalt, zugehörigkeit, haus, arbeitsunfähigkeit, heimat, auswanderung

Landessozialgericht NRW, L 3 R 46/06
Datum:
27.05.2008
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
3. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 3 R 46/06
Vorinstanz:
Sozialgericht Düsseldorf, S 26 R 358/05
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 5a R 80/08 R
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts
Düsseldorf vom 12.01.2006 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die
außergerichtlichen Kosten des Klägers auch im Berufungsverfahren. Die
Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
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Zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung einer Ersatzzeit wegen
verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes bzw. einer Anschlussersatzzeit wegen
Arbeitsunfähigkeit streitig.
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Der am 00.00.1921 in Konin bei Lodz geborene Kläger ist jüdischen Glaubens und
Verfolgter im Sinne des § 1 Bundesentschädigungsgesetz - BEG - (vgl. den mit dem
Bezirksamt für Wiedergutmachung in Koblenz geschlossenen Vergleich vom
06.05.1963). Vor der Verfolgung lebte er in Warschau. Im November 1940 wurde der
Kläger in das dortige Ghetto eingewiesen, in dem er im Judenrat als Büroarbeiter tätig
war. Ende Juli 1942 flüchtete er mit einigen Arbeitskollegen aus dem Ghetto und
versteckte sich mit ihnen bei katholischen Frauen in Wlochy (bei Warschau). Dort lebte
er bis zu seiner Befreiung im Januar 1945.
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Zu seinem weiteren Verfolgungsschicksal gab der Kläger anlässlich seines Antrages
auf Entschädigungsleistungen nach dem BEG wegen eines Freiheitsschadens in einer
eidlichen Aussage am 15.11.1962 an, dass er nach der Befreiung nach Walbrzych
(Waldenburg) gezogen sei und sich dort niedergelassen habe. Im Jahre 1946 habe er
geheiratet und sei mit seiner Ehefrau und der einjährigen Tochter 1948 nach Israel
ausgewandert.
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Im Juni 2003 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung einer Altersrente
aufgrund von Ghettobeitragszeiten. In dem Rentenantragsformular führte der Kläger aus,
dass er nicht dem deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK) angehöre und sich seit 1948
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in Israel aufhalte. Mit Bescheid vom 14.07.2004 bewilligte die Beklagte dem Kläger
Regelaltersrente ab dem 01.07.1997 in Höhe von damals 167,75 Euro monatlich. Der
Berechnung der Rente legte sie rentenrechtliche Zeiten vom 01.11.1940 bis zum
17.01.1945 (= Tag der Befreiung des Klägers), u.a. eine "Ghettobeitragszeit" vom
01.11.1940 bis zum 31.07.1942, zugrunde. Der Kläger legte am 22.07.2004
Widerspruch ein und machte geltend, die Zeit bis zum 31.12.1949 sei als Ersatzzeit
wegen verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts bzw. als Zeit der Arbeitsunfähigkeit
im Anschluss an Zeiten der Freiheitsentziehung bzw. -beschränkung ergänzend zu
berücksichtigen. Insoweit führte der Kläger aus, nach der Befreiung im Januar 1945
nach Walbrzych gegangen zu sein. Dort habe er im März 1946 geheiratet und sich mit
Hilfe der jüdischen illegalen Einwanderungsorganisation auf den Weg nach Palästina
gemacht. Er und seine Frau seien über die Tschechoslowakei zunächst nach Österreich
in das Lager Admont gekommen, wo sie etwa 1/2 Jahr lang fest gesessen hätten. Dann
hätten sie nach Italien weiterfahren können und seien bis nach der Geburt der Tochter N
in einem Ort bei Turin geblieben. Das Schiff, das sie nach Palästina hätte bringen
sollen, sei von den Engländern aufgebracht worden und sie seien in Zypern interniert
worden. Von dort aus hätten sie dann endlich im Februar 1948 nach Palästina
einwandern können. In dem gesamten Zeiraum von seiner Befreiung bis Ende 1949 sei
er verfolgungsbedingt krank und dadurch arbeitsunfähig gewesen. Mit
Widerspruchsbescheid vom 23.06.2005 wies der Widerspruchsausschuss den
Widerspruch als unbegründet zurück und führte zur Begründung im Wesentlichen aus,
dass ein verfolgungsbedingter Auslandsaufenthalt nicht als Ersatzzeit anerkannt werden
könne, weil der Kläger nach seiner Befreiung in Wlochy nicht das "Inland" verlassen
habe.
Der Kläger hat am 20.07.2005 Klage erhoben, mit der er weiterhin die Anerkennung
einer Ersatzzeit wegen verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts bzw.
Arbeitsunfähigkeit vom 18.01.1945 bis zum 31.12.1949 begehrt und ergänzend
vorgetragen hat, sich nach seiner Befreiung zunächst in seine Geburtsstadt Konin
begeben zu haben, wo er vor dem Krieg mit den Eltern im eigenen Haus der Familie
gewohnt habe, um dort nach überlebenden Familienmitgliedern zu suchen. Er habe dort
jedoch niemanden vorgefunden. Das Haus sei von Deutschen beschlagnahmt worden
und bei seinem Eintreffen von Polen bewohnt gewesen, die das Haus nicht hätten
herausgeben wollen. Die Atmosphäre dort sei feindlich gewesen. Daher habe er sich
nach Walbrzych begeben, wo sich eine große Anzahl von Überlebenden der Lager
zusammengefunden habe und betreut worden sei. Von dort habe er an seine Schwester
geschrieben, die bereits vor dem Krieg nach Palästina ausgewandert sei, und auf deren
Antwort gewartet. Dann habe er seine spätere Frau kennen gelernt, die sich in einer
ähnlichen Situation wie er selbst befunden habe, und nach wenigen Monaten hätten sie
beschlossen, sich zusammen zu tun und zu heiraten. Nachdem seine Schwester
geantwortet habe, dass sie ihn in Palästina erwarte, hätten sie im Frühjahr 1946
Walbrzych verlassen. Sie hätten über die Tschechoslowakei ausreisen müssen, um
nach Österreich zu kommen. Von dort hätten sie versucht, sofort nach Israel zu
gelangen, hätten aber in einem Lager Admont bei Graz ungefähr ein halbes Jahr
abwarten müssen, bis sie die erforderlichen Papiere erhalten hätten. Von dort aus hätten
sie nach Italien weiterfahren können und bis nach der Geburt der Tochter im März 1947
in einem Ort bei Turin bleiben müssen. Dann sei es ihnen gelungen, auf ein Schiff nach
Palästina zu kommen. Dieses sei von den Engländern aufgebracht worden, er und
seine Familie seien in Zypern interniert worden und hätten erst im Februar 1948 nach
Palästina ausreisen können.
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Mit Urteil vom 12.01.2006 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, bei der
Rentenberechnung eine Ersatzzeit wegen verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes
vom 18.01.1945 bis zum 31.12.1949 anzuerkennen und die Regelaltersrente
entsprechend ab dem 01.07.1997 neu festzustellen. In den Entscheidungsgründen ist
ausgeführt, dass die Anerkennung einer Ersatzzeit wegen verfolgungsbedingten
Auslandsaufenthalts weder die Zugehörigkeit zum dSK noch einen zeitweiligen
Aufenthalt in Deutschland noch eine Aufenthaltsnahme im Ausland bis Mai 1945
voraussetze. Ausreichend sei vielmehr, dass die Aufenthaltsnahme im Ausland auf
Verfolgungsmaßnahmen beruhe, wobei diese nicht alleinige Ursache gewesen sein
müssten. Es bestehe vorliegend jedoch kein vernünftiger Zweifel, dass die
Auswirkungen der nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen die Auswanderung
des Klägers wesentlich mitverursacht hätten. Dieser habe glaubhaft gemacht, dass er
von Polen über die Tschechoslowakei, Österreich, Italien und Zypern im Februar 1948
mit dem Eintreffen in Israel seinen Aufenthalt dort habe nehmen wollen, weil er in der
bisherigen Heimat im Gebiet um Konin keinen Halt mehr gefunden habe, nachdem
durch die Verbrechen der nationalsozialistischen Herrschaft von seinem familiären und
sonstigen Umfeld niemand mehr überlebt habe, der ihm nahe gestanden habe. In Polen
habe er nicht mehr im eigenen Haus wohnen können, weil dieses inzwischen von Polen
bewohnt worden sei, die es nicht hätten herausgeben wollen. Aufgrund der Folgen und
Auswirkungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft sei der Kläger ins Ausland
bzw. nach Israel gegangen, um dort einen neuen Anfang zu machen, unbelastet von
den Erinnerungen an die Verfolgung, die bei ihm durch die Stätte seiner Heimat
ausgelöst worden seien. Der Kläger habe verfolgungsbedingt in seiner eigenen Heimat
nicht mehr richtig Fuß fassen, aber auch nicht sofort nach Israel gelangen können, weil
er durch die Auswanderungsschwierigkeiten und damaligen politischen Ereignisse die
historisch allgemein bekannten Schwierigkeiten gehabt habe, sofort nach Israel zu
gelangen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Entscheidungsgründe Bezug
genommen.
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Gegen das ihr am 06.02.2006 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 17.02.2006
Berufung eingelegt und die Auffassung vertreten, die Voraussetzungen für die
Anerkennung eines verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes seien schon deshalb
nicht erfüllt, weil es an einer Auswanderung des Klägers aus dem Inland fehle; denn der
Kläger habe sich - was unstreitig sei - auch nach dem Ende seiner Verfolgung nicht in
Deutschland aufgehalten. Abgesehen davon sei auch der erforderliche ursächliche
Zusammenhang zwischen Verfolgungsmaßnahme und Auslandsaufenthalt vorliegend
nicht gegeben. Soweit die Rechtsprechung des BSG im Einzelfall auch bei einer
Auswanderung nach Kriegsende eine Ersatzzeit wegen verfolgungsbedingten
Auslandsaufenthalts anerkannt habe, seien Verfolgungsschicksale von Versicherten
betroffen gewesen, die ihren Wohnsitz zu Beginn der Verfolgung in Deutschland gehabt
hätten, bei deren Lebensplanung demzufolge - die Verfolgung hingeweggedacht - von
einem Aufenthalt im Inland habe ausgegangen werden können. Ob ein
verfolgungsbedingter Auslandsaufenthalt als Ersatzzeit in der deutschen
Rentenversicherung auch dann anzuerkennen sei, wenn der Versicherte im Ausland
geboren worden sei, zu Beginn der Verfolgung im Ausland gewohnt habe, dort befreit
worden sei und nach der Befreiung eine neue Existenz im Ausland aufgebaut habe, sei
bislang höchstrichterlich jedoch nicht entschieden. Abgesehen davon setze die
Anerkennung einer Ersatzzeit wegen verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts
voraus, dass aufgrund dieses Aufenthalts eine Beitragszahlung zur deutschen
Rentenversicherung verfolgungsbedingt unterblieben sei. Die Kompensation
unterbliebener Beitragszahlungen beziehe sich mithin nur auf solche Zeiten, in denen
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ansonsten, also ohne die Verfolgung, aufgrund einer versicherungspflichtigen
Beschäftigung Beiträge zur deutschen Rentenversicherung weiter geleistet worden
wären. In seiner Entscheidung vom 08.09.2005 (B 13 RJ 20/05 R) habe das
Bundessozialgericht in diesem Zusammenhang erneut hervorgehoben, dass ein
verfolgungsbedingter Schaden dann nicht entstanden sein könne, wenn dem
Betroffenen eine Beitragsleistung zur deutschen Rentenversicherung ohnehin nicht
möglich gewesen sei. Für Personen, deren Herkunft im sog. Generalgouvernement
liege, bedürfe es demnach für die Möglichkeit einer Beitragszahlung zur deutschen
Rentenversicherung der Zugehörigkeit zum FRG-berechtigten Personenkreis.
Erforderlich sei insoweit die Zugehörigkeit zum dSK, die der Kläger jedoch selbst
verneint habe. Bezüglich der Schilderungen des Klägers im Berufungsverfahren zu
seinem Weg nach der im Januar 1945 erfolgten Befreiung sei unter Berücksichtigung
der Entfernung beider Orte von ca. 210 km im Übrigen zweifelhaft, dass er binnen
weniger Stunden von Konin nach Walbrzych gelangt sei. Die Entfernung zwischen
Wlochy und Konin habe ca. 170 km betragen.
Die Beklagte hat ihre Berufung in der mündlichen Verhandlung am 27.05.2008 insoweit
zurückgenommen, als der Kläger die Neufeststellung der Regelaltersrente mit Wirkung
ab dem 01.07.1997 unter Berücksichtigung einer Ersatzzeit vom 18.01.1945 bis zum
08.05.1945 begehrt, und lediglich noch beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 12.01.2006 zu ändern und die Klage im
Übrigen abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er ist der Auffassung, dass für die Anerkennung einer Ersatzzeit wegen
verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts die Zugehörigkeit zum dSK nicht erforderlich
sei, denn ansonsten bliebe diese Regelung in den meisten Fällen unanwendbar, weil
die jüdischen Einwohner Mittel- und Ostpolens überwiegend keine Angehörigen des
dSK gewesen seien. Der Gesetzgeber habe aber wohl kaum diesen gesamten
Personenkreis von der Neuregelung ausschließen wollen. Vielmehr sei er (der Kläger)
bereits durch die Anerkennung von Ghettobeitragszeiten in den Bereich des deutschen
Sozialversicherungsrechts einbezogen worden. Im Hinblick auf die hilfsweise begehrte
Anerkennung einer Anschlussersatzzeit wegen Arbeitsunfähigkeit hat der Kläger zur
Glaubhaftmachung seines damaligen Gesundheitszustandes seine Ehefrau als Zeugin
benannt. In einer eidesstattlichen Erklärung vom 15.08.2007 hat er ausgeführt, im
Januar 1945 aus seinem Versteck in Wlochy befreit worden und von dort - über Konin -
nach Walbrzych in Niederschlesien gegangen zu sein. Er habe gehofft, noch jemanden
von seiner Familie finden zu können; dies sei jedoch nicht eingetreten. Er sei zunächst
nach Konin und nicht nach Warschau gegangen, weil er gewusst habe, dass er in
Warschau niemanden mehr gehabt habe. In Konin habe er jedoch Familie gehabt, die er
dort habe suchen wollen. Er erinnere sich nicht, wie viel Zeit nach der Befreiung
vergangen gewesen sei, bevor er sich auf den Weg von Wlochy nach Konin gemacht
habe, welchen Weg er dorthin genommen habe und wie lange er unterwegs gewesen
sei. Er sei zu Fuß gegangen und - wenn möglich - auf einen vorbeifahrenden
Pferdewagen gesprungen. In Konin habe er sich ca. eine Woche aufgehalten und sei
dann mit dem Zug nach Walbrzych gefahren, wobei er einige Stunden unterwegs
gewesen sei. Er sei nach Walbrzych gegangen, weil es dort eine Ansammlung von
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überlebenden Juden gegeben habe, die von dort aus nach Israel hätten fahren wollen.
Es habe dort eine Organisation gegeben, die sich bemüht habe, dieses zu ermöglichen.
Während seines mehrjährigen Aufenthaltes im Versteck habe er unbehandelte Leiden
gehabt und sei zu Ärzten und Krankenhäusern gegangen, die ihn jedoch nicht hätten
annehmen und behandeln wollen. Er habe an jahrelanger Unterernährung gelitten und
nicht richtig essen können. Im Versteck habe er an Typhusfieber, Dysenterie und
Hautausschlag gelitten. Er habe eine unbehandelte Verletzung am Bein gehabt und
nach Jahren der Angst, entdeckt zu werden, auch an Schlaflosigkeit gelitten. Tagsüber
habe er unerträgliche Kopfschmerzen gehabt. Es seien immer mehr Juden nach
Walbrzych gekommen und es habe sich ein Übergangslager gebildet, wo man
begonnen habe, ihnen zu helfen. Da so kurz nach dem Krieg nicht viel vorhanden
gewesen sei, habe es kaum Medikamente gegeben, mit denen er hätte versorgt werden
können. Da keine geregelte Behandlung möglich gewesen sei, habe er natürlich auch
keine entsprechenden Unterlagen. Er habe reisefähig werden wollen, um zu seiner
Schwester nach Israel ziehen zu können. In dieser Zeit habe er auch seine Frau kennen
gelernt, die er 1946 geheiratet habe. Gemeinsam hätten sie sich über verschiedene
Stationen auf den Auswanderungsweg gemacht, bis sie schließlich 1948 von Italien aus
ein Schiff nach Israel genommen hätten.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Streitakte,
die den Kläger betreffende Verwaltungsakte der Beklagten (Az: 000) sowie die Akte des
Amtes für Wiedergutmachung, Saarburg, (Az: xxx) verwiesen, deren Inhalt Gegenstand
der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
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Entscheidungsgründe:
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Die - nach Rücknahme der Berufung im Übrigen lediglich noch gegen die Anerkennung
einer Ersatzzeit vom 09.05.1945 bis 31.12.1949 gerichtete - zulässige Berufung der
Beklagten ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die Beklagte zu Recht verurteilt, der
Berechnung der Regelaltersrente eine Ersatzzeit auf Grund verfolgungsbedingten
Auslandsaufenthaltes für die Zeit vom 09.05.1945 bis zum 31.12.1949 zugrunde zu
legen, denn der Bescheid der Beklagten vom 14.07.2004 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 23.06.2005 ist insoweit rechtswidrig.
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Nach § 250 Abs. 1 Zif. 4 Buchst. b Sechstes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VI - sind
Ersatzzeiten u.a. Zeiten vor dem 1. Januar 1992, in denen Versicherungspflicht nicht
bestanden hat und Versicherte nach vollendetem 14. Lebensjahr infolge
Verfolgungsmaßnahmen bis zum 30. Juni 1945 ihren Aufenthalt in Gebieten außerhalb
des jeweiligen Geltungsbereichs der Reichsversicherungsgesetze oder danach in
Gebieten außerhalb des Geltungsbereichs der Reichsversicherungsgesetze nach dem
Stand vom 30. Juni 1945 genommen oder einen solchen beibehalten haben, längstens
aber die Zeit bis zum 31. Dezember 1949, wenn sie zum Personenkreis des § 1 des
BEG gehören.
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Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
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Der Kläger ist unstreitig Verfolgter im Sinne des § 1 BEG (vgl. insoweit auch den mit
dem Bezirksamt für Wiedergutmachung in Koblenz geschlossenen Vergleich vom
06.05.1963). Er macht die Berücksichtigung von Ersatzzeiten geltend, die nach dem
vollendeten 14. Lebensjahr (hier: 05.05.1935) und vor dem 01.01.1992 liegen. Während
des streitigen Zeitraumes hat auch keine Versicherungspflicht bestanden. Insoweit kann
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offen bleiben, ob der Kläger vom Zeitpunkt seiner Einreise nach Israel bis zum
31.12.1949 Beiträge zur israelischen Nationalversicherung entrichtet hat; denn die
Anrechnung von Ersatzzeiten bis zum 31.12.1949 erfolgt allein auf Grund der Tatsache,
dass der Verfolgte, sich auf Grund von Verfolgungsmaßnahmen im Ausland aufgehalten
hat (- dazu siehe unten -; vgl. BSG, Urteil vom 29.03.2006, B 13 RJ 7/05 R, in SozR 4-
2600 § 250 Nr. 2, m.w.N.).
Ferner hat der Kläger seinen Wohnsitz bis zum 30.06.1945 außerhalb des jeweiligen
Geltungsbereichs der Reichsversicherungsgesetze genommen. Er hielt sich vor
Kriegsende verfolgungsbedingt im Geltungsbereich der Reichsversicherungsgesetze,
nämlich zunächst in Konin (Reichsgau Wartheland) und nachfolgend in Walbrzych
(Niederschlesien) auf - dort galten seit dem 01.01.1942 die Ostgebieteverordnung vom
22.12.1942 bzw. seit dem 01.01.1940 die "Schlesien-Verordnung" vom 16. Januar 1940
- und hat diesen mit Kriegsende am 08.05.1945 verlassen.
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Der Senat hält es für glaubhaft gemacht - und auf diesen Beweismaßstab kommt es
gemäß § 3 des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der
Sozialversicherung - WGSVG - (iVm § 1 Abs.2 ZRBG) im Rahmen des § 250 Abs.1
Ziffer 4 b SGB VI an -, dass sich der Kläger vor Ende des Krieges am 08.05.1945
(zuletzt) in Walbrzych aufhielt.
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Glaubhaft gemacht ist eine Tatsache, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der
Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen,
überwiegend wahrscheinlich ist (vgl. § 4 Abs.1 FRG, § 3 Abs.1 WGSVG).
Glaubhaftmachung bedeutet danach mehr als das Vorhandensein einer bloßen
Möglichkeit, aber auch weniger als die an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Es
genügt die "gute Möglichkeit", dass der entscheidungserhebliche Vorgang sich so
zugetragen hat, wie behauptet wird. Es muss also mehr für als gegen den behaupteten
Sachverhalt sprechen. Dabei sind gewisse noch verbleibende Zweifel unschädlich (vgl.
BSG SozR 3-3900 § 15 Nr.4).
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Nach der dabei erforderlichen Gesamtwürdigung aller Umstände ist es unter
Berücksichtigung seiner schlüssigen und widerspruchsfreien Schilderungen
überwiegend wahrscheinlich, dass der Kläger, der - wie ihm bekannt war - seine Familie
in Warschau verloren hatte, sich von seinem Befreiungsort Wlochy (bei Warschau) aus
zunächst in seinen Geburtsort Konin begab, um dort Überlebende seiner Familie zu
suchen. Nachdem er dort jedoch keine Verwandten mehr auffand und das Haus der
Familie von Polen bewohnt war, die es nicht herausgeben wollten, begab er sich ca.
eine Woche später von Konin nach Walbrzych. Der Senat verkennt in diesem
Zusammenhang nicht, dass der Kläger keine genauen Angaben mehr zu dem zeitlichen
Ablauf seines Weges von Wlochy über Konin nach Walbrzych machen kann. Dennoch
ist es - auch unter Berücksichtigungen der Angaben der Beklagten - überwiegend
wahrscheinlich, dass er noch vor Ende des Krieges am 08.05.1945 Niederschlesien -
und damit den Geltungsbereich der RVO - erreichte. Der Kläger hatte von Wlochy bis
Konin - entsprechend der Angaben der Beklagten - eine Wegstrecke von ca. 170 km zu
bewältigen, die er im Wesentlichen zu Fuß zurücklegte. Selbst bei einer täglichen
Wegstrecke von nur 5 km hätte der Kläger den Weg dann aber bereits in 34 Tagen
zurückgelegt und Konin somit schon ca. Ende Februar (1945) erreicht. In Anbetracht des
Umstandes, dass der Kläger sich in Konin lediglich eine Woche aufhielt und
anschließend mit dem Zug auf den Weg nach Walbrzych machte, das nach den
Angaben der Beklagten ca. 210 km von Konin entfernt lag, ist es auch überwiegend
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wahrscheinlich, dass die Zugfahrt - den Schilderungen des Klägers folgend - lediglich
wenige Stunden dauerte und er Walbrzych noch vor Ende des Krieges erreichte.
Hat sich der Kläger aber vor Kriegsende in Walbrzych (Niederschlesien) aufgehalten, so
hat er den Geltungsbereich der Reichsversicherungsgesetze mit Kriegsende am
08.05.1945 verlassen und sich folglich im Ausland befunden; denn zu diesem Zeitpunkt
endete die faktische Zugehörigkeit Niederschlesiens zum deutschen Reich (vgl. BSG,
Urteil vom 13.09.1978 - 5 RJ 86/77 -).
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Der - mit Kriegsende beginnende - Auslandsaufenthalt des Klägers wurde auch durch
Verfolgungsmaßnahmen hervorgerufen. Nach der Kausalitätstheorie der "wesentlichen
Bedingung" ist jede Bedingung ursächlich, die nach der Auffassung des praktischen
Lebens wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich
mitgewirkt hat (BSG, Urteil vom 13.09.1978, a.a.O.; grundlegend: BSGE 13, 175). Unter
Berücksichtigung dieses Grundsatzes hat das BSG in der zuvor genannten
Entscheidung die Verfolgung als wesentliche Bedingung für den Auslandsaufenthalt
angenommen, wenn sich ein Verfolgter verfolgungsbedingt bei Kriegsende in einem
Gebiet befunden hat, in dem bis zum Kriegsende die Reichsversicherungsgesetze
anwendbar waren, dessen faktische Zugehörigkeit zum Deutschen Reich jedoch mit
seiner Befreiung beendet wurde, das also Ausland wurde. Der Auslandsaufenthalt habe
- so das BSG - insofern nicht nach dem Krieg, sondern mit dem Kriegsende begonnen.
Insbesondere eines "Ortswechsels" im Sinne des Überschreitens von Staatsgrenzen
oder Demarkationslinien bedarf es danach somit nicht. Nichts anderes ergibt sich aus
Sinn und Zweck des § 250 Abs.1 Nr.4 b SGB VI. Danach sollten auch diejenigen
Versicherten vom Anwendungs- und Schutzbereich dieser Vorschrift erfasst werden, die
jemals in den Geltungsbereich der Reichsversicherungsgesetze gelangt waren - und sei
es auch nur durch Eingliederung ihres Heimatgebietes. Ihnen sollte (längstens bis zum
31.12.1949) eine Überlegungsfrist zur Rückkehr in den Geltungsbereich der
Reichsversicherungsgesetze eingeräumt werden, ohne dass den Versicherten im
Hinblick auf den zwischenzeitlichen Aufenthalt im Ausland und die daher nicht
bestehende Möglichkeit des Aufbaus weiterer Beitragszeiten zur Deutschen
Rentenversicherung Nachteile in der Rentenversicherung entstehen (BSG, Urteil vom
29.03.2006 - B 13 RJ 7/05 R -).
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Vor diesem Hintergrund hat der Kläger seinen Aufenthalt im Ausland
verfolgungsbedingt genommen und auch bis zum 31.12.1949 beibehalten. Er hielt sich
bis zum Kriegsende aufgrund der Verfolgung in Walbrzych (Niederschlesien) auf, denn
er hatte durch die Verfolgung seine Familie in Warschau verloren und sich nach seiner
Befreiung nach Walbrzych begeben, um von dort nach Palästina auszuwandern,
nachdem er auch in Konin, seinem Geburtsort, keine Verwandten mehr gefunden hatte.
Er ging nach Walbrzych, weil es dort ein "Lager" für Juden gab, in dem sie betreut
wurden. Dort hielt er sich einige Zeit auf, um sich behandeln zu lassen und um die
Antwort seiner Schwester aus Palästina abzuwarten, ob er dorthin kommen könne. Der
Umstand, dass der Kläger sich mehrere Monate in Walbrzych befand und dort heiratete,
unterbricht den Zusammenhang zwischen Verfolgung und Auslandsaufenthalt nicht;
denn dies vermag nicht die Annahme zu begründen, dass er sich mit seinem
Verfolgungsschicksal abgefunden hatte und in Walbrzych auf Dauer niederlassen
wollte. Der Kläger war vielmehr von Beginn an nach Walbrzych gegangen, um von dort
nach Palästina auszuwandern, weil dort noch eine Schwester lebte. Nachdem seine
Schwester mitgeteilt hatte, dass sie ihn in Palästina erwarte, bereitete der Kläger seine
Auswanderung vor. So befand er sich bereits im Juli 1946 im DP-Lager Admont. Der
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Aufenthalt in diesem Lager diente - entsprechend dem Zweck der DP-Lager - der
Auswanderung nach Palästina. Auch der nachfolgende Aufenthalt in Österreich, Italien
und Zypern war durch Nachwirkungen der Verfolgung bedingt; denn der Kläger wollte
von vornherein wegen der Verfolgung Europa verlassen und nach Palästina
einwandern, wenn ihm dies auch erst im Juni 1948 gelungen ist.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist es vorliegend im Übrigen unerheblich, dass
sich der Kläger weder anfänglich im Kerngebiet des Deutschen Reiches aufhielt oder
dorthin zurückkehrte, noch dass er nach dem 08.05.1945 an seinem damaligen
Aufenthaltsort keine Versicherungszeiten in der deutschen Rentenversicherung
erwerben konnte, weil er sich (nur) bis zum 08.05.1945 durch Eingliederung
Niederschlesiens im Geltungsbereich der Reichsversicherungsgesetze befand; denn für
die Berücksichtigung verfolgungsbedingter Ersatzzeiten ist weder ein anfänglicher
Aufenthalt noch eine Rückkehr im bzw. ins "Kerngebiet" des Deutschen Reiches
erforderlich (vgl. auch LSG NRW, Urteil vom 15.06.2007, Az: L 14 R 363/06). Schon in
seiner Entscheidung vom 13.09.1978 (5 RJ 86/77) hat das BSG die Tatsache, dass der
dortige Kläger (der von 1920 bis 1938 in Deutschland lebte, dann nach Polen in das
Ghetto Warschau ausgewiesen und 1944 in ein SS-Lager in Österreich gebracht wurde,
wo er im Mai 1945 befreit wurde) letztlich erst nach Deutschland hätte zurückkehren
müssen, um durch Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung deutsche
Versicherungszeiten zu erwerben, während die in Deutschland befreiten Verfolgten die
Möglichkeit hatten, dort (unmittelbar) durch Aufnahme einer versicherungspflichtigen
Beschäftigung deutsche Versicherungszeiten zu erwerben, nicht als
anspruchsausschließend angesehen. Gerade hierfür habe der Gesetzgeber den
Verfolgten, die sich bei Kriegsende im Ausland befunden hätten, eine Überlegungsfrist
bis zum 31.12.1949 eingeräumt. Im Anschluss an die Entscheidung des BSG vom
13.09.1978 hat das BSG auch in seinem jüngsten Urteil vom 29.03.2006 (B 13 RJ 7/05
R) ausgeführt, dass auch einem Versicherten, der erst durch Eingliederung seines
Heimatgebiets in das Deutsche Reich in den Geltungsbereich der
Reichsversicherungsgesetze gelangt und nach dem Ende der Verfolgungsmaßnahmen
ausgewandert sei, die Folgezeit bis Ende 1949 als Verfolgungsersatzzeit im Sinne einer
rentenunschädlichen "Überlegungsfrist" anzurechnen sei. Der Umstand, dass die
dortige Klägerin (die in Lodz geboren und dort bis zu ihrer Befreiung im Januar 1945
nationalsozialistischer Verfolgung ausgesetzt war) - außer während ihrer
Verfolgungszeit - einen Bezug zur deutschen Rentenversicherung zu keinem weiteren
Zeitpunkt aufgewiesen habe, schließe - so das BSG in der genannten Entscheidung -
ihren Anspruch auf Anrechnung von Verfolgungsersatzzeiten grundsätzlich nicht aus;
denn allein mit Zurücklegung dieser Zeiten sei ein Tatbestand gesetzt worden, der - in
Verbindung mit der Verfolgteneigenschaft - das Geltendmachen einer Ersatzzeit im
Sinne von § 250 Abs.1 Nr.4 SGB VI ermögliche. Der Senat verkennt in diesem
Zusammenhang nicht, dass die Entscheidung des BSG vom 29.03.2006 (B 13 RJ 7/05
R) auf Grund der dortigen Formulierung, die (den Verfolgten bis zum 31.12.1945
zustehende) Überlegungsfrist sei "jedenfalls dann" einzuräumen, wenn Deutschland
nicht lediglich kurzfristige Zwischenstation bei der Ausreise gewesen, sondern - wie in
dem dort zu entscheidenden Fall - ein gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland (im
Anschluss an den Aufenthalt in den (ehemaligen) eingegliederten und besetzten
Gebieten) begründet worden sei, missverständlich ist. Daraus lässt sich jedoch -
entgegen der Auffassung der Beklagten - nicht schließen, dass nunmehr ein Aufenthalt
in Deutschland im Anschluss an den Aufenthalt in den (ehemaligen) eingegliederten
oder besetzten Gebieten grundsätzlich Voraussetzung für die Anerkennung einer
Ersatzzeit wegen verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes ist; denn dies würde eine
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völlige Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil vom 13.09.1978
- 5 RJ 86/77 - und vom 14.08.2003 - B 13 RJ 27/03 R -) bedeuten, ohne dass der 13.
Senat dies - was ggf. aber zu erwarten gewesen wäre - in seiner Entscheidung vom
29.03.2006 in irgend einer Weise kenntlich gemacht hat.
Soweit die Beklagte schließlich unter Berufung auf das Urteil des BSG vom 08.09.2005
(B 13 RJ 20/05 R) die Auffassung vertritt, eine Ersatzzeit wegen verfolgungsbedingten
Auslandsaufenthaltes liege mangels eines entsprechenden Schadens nicht vor, wenn
dem Verfolgten aufgrund des verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes eine
Beitragszahlung zur deutschen Rentenversicherung ohnehin nicht möglich gewesen
sei, vermag dies eine andere Beurteilung vorliegend nicht zu rechtfertigen; denn der der
Entscheidung des BSG zugrunde liegende Sachverhalt ist mit dem hier zu
entscheidenden nicht vergleichbar. Während in dem dortigen Streitverfahren die
Klägerin zu keiner Zeit einen Bezug zu den Reichsversicherungsgesetzen aufwies (sie
floh aus ihrer Heimat, in der zu keinem Zeitpunkt die Reichsversicherungsgesetze
galten, in ein drittes Land und kehrte nach der Befreiung in ihre Heimat zurück), ist
vorliegend - wie bereits ausgeführt - durch den Aufenthalt des Klägers in
Niederschlesien bis zum Kriegsende ein solcher Bezug gegeben.
28
Da somit bereits die Voraussetzungen für die Anerkennung einer Ersatzzeit wegen
eines verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts vom 09.05.1945 bis zum 31.12.1949
erfüllt sind, bedarf es vorliegend keiner Prüfung mehr, ob in dem streitigen Zeitraum
darüber hinaus eine Anschlussersatzzeit wegen Arbeitsunfähigkeit vorliegt.
29
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der
Sache.
30
Der Senat hat im Hinblick auf die dargestellten, nicht eindeutigen Ausführungen des
BSG (Urteil vom 29.03.2006 - B 13 RJ 7/05 R -) zu der Frage, ob die Anerkennung eines
verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts als Ersatzzeit zumindest eine
Zwischenstation in Deutschland erfordert, gem. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG die Revision
zugelassen.
31