Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 02.12.1997

LSG NRW (bundesrepublik deutschland, chemische industrie, kläger, entlassung aus der haft, gegenstand des verfahrens, industrie, verfassungskonforme auslegung, tätigkeit, leitende stellung, berufliche tätigkeit)

Landessozialgericht NRW, L 6 V 17/94
Datum:
02.12.1997
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
6. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 6 V 17/94
Vorinstanz:
Sozialgericht Detmold, S 7 (19) V 77/89
Sachgebiet:
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Detmold
vom 24. November 1993 abgeändert. Der Beklagte wird unter
entsprechender Abänderung der Bescheide vom 25. Januar und 23.
November 1989 sowie 13. Mai und 03. November 1992 verurteilt, dem
Kläger ab Februar 1978 Berufsschadensausgleich unter
Berücksichtigung des Einkommens eines technischen Angestellten der
Leistungsgruppe II im Wirtschaftsbereich "Mineralölverarbeitung" als
Vergleichseinkommen zu gewähren. Der Beklagte hat dem Kläger die
außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten. Die
Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
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Streitig ist die Höhe des Berufsschadensausgleichs (BSA) nach dem
Bundesversorgungsgesetz (BVG) in Verbindung mit dem Häftlingshilfegesetz (HHG).
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Der im Mai 1924 in Oberschlesien geborene Kläger lebte nach dem Kriege in der
früheren DDR. Dort schloß er sowohl ein Studium zum Diplom-Wirtschaftler (1952) als
auch ein Studium zum Diplom-Chemiker (1962) erfolgreich ab. Bereits ab Mitte August
1954 war er beim V ... L ... "W ... U ..." (im folgenden: L ... W ...) als Betriebswirtschaftler
tätig. 1962 übernahm er dort eine neue Funktion als Diplom-Chemiker in der Abteilung
Forschung und Entwicklung. 1965 übernahm er die Leitung der ökonomischen
Abteilung in der Abteilung Forschung und Entwicklung und war gleichzeitig Angehöriger
der Forschungsleitung der L ... W ...
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Im September 1965 wurde der Kläger inhaftiert und anschließend wegen Vorbereitung
der Republikflucht zu 21 Monaten Gefängnis verurteilt.
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Nach der Entlassung aus der Haft wurde er im Juli 1967 wieder bei den L ... W ...
zunächst als ökonomischer Mitarbeiter und später als Abteilungsökonom in der neu
gegründeten Hauptabteilung Hydrierung eingestellt. Aufgrund einer
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Strukturveränderung wurde er ab Januar 1970 als Ökonom für Rationalisierung im
Bereich der Erdölverarbeitung eingesetzt, wo er ab März 1971 Abteilungsökonom
wurde. Im Januar 1972 wurde er im Betrieb "Primärverarbeitung" als Ökonom für
Produktion eingesetzt. Ende August 1973 schied er aus gesundheitlichen Gründen aus
dem Erwerbsleben aus und bezog vom FDGB M ... eine Invalidenrente. Nach der
Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland im November 1977 zog er aufgrund
des gleichen Versicherungsfalles Rente wegen Erwerbsunfähigkeit von der
Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA).
Der Beklagte gewährte ihm wegen der Haftschädigungsfolge psychoreaktive
Persönlichkeitsstörung Versorgung nach einem Grad der Minderung der
Erwerbsfähigkeit (MdE) um 25 v.H. (Bescheid vom 13. Januar 1989) und lehnte die
Gewährung einer höheren Versorgung sowie eines Berufsschadensausgleiches
zunächst ab (Bescheid vom 25. Januar 1989; Widerspruchsbescheid vom 28. November
1989). Während des anschließenden Klageverfahrens gewährte er rückwirkend wegen
der Haftschädigungsfolgen organische Hirnschädigung und Hirnleistungsschwäche,
psychoreaktive Persönlichkeitsstörung und diskrete Halbseitensymptomatik rechts
Versorgung nach einem Grad der MdE um 60 v.H., wobei er wegen eines
schädigungsbedingten Ausscheidens aus dem Erwerbsleben im Alter von 49 Jahren
(1973) eine besondere berufliche Betroffenheit annahm (Bescheide vom 12. November
1991 sowie vom 18. und 19. März 1992). Wegen dieses schädigungsbedingten
Ausscheidens aus dem Erwerbsleben gewährte er des weiteren ab Februar 1978
Berufsschadensausgleich und legte als Vergleichseinkommen (VE) das
Durchschnittseinkommen eines technischen Angestellten im Wirtschaftsbereich
"Chemische Industrie", Leistungsgruppe II, zugrunde. Bei dieser Einstufung ging er
davon aus, daß der Kläger aufgrund seiner beruflichen Qualifikationen und der früher
verrichteten Tätigkeit wahrscheinlich ohne die Schädigungsfolgen wieder in der
Chemischen Industrie, mindestens Leistungsgruppe II, tätig geworden wäre (Bescheide
vom 13. Mai und 03. November 1992).
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Im folgenden hat der Kläger das Klageverfahren im wesentlichen für erledigt erklärt und
lediglich noch die Gewährung eines höheren BSA geltend gemacht. Er hat gemeint, das
VE sei wegen der zuletzt von ihm verrichteten Tätigkeit dem Wirtschaftsbereich
"Mineralölverarbeitung" zu entnehmen.
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Der Kläger hat beantragt,
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den Beklagten unter Abänderung der Bescheide vom 13. Mai und 03. November 1992
zu verurteilen, bei der Berechnung des Berufsschadensausgleiches das
Vergleichseinkommen im Industriebereich "Mineralölverarbeitung" zugrundezulegen.
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Der Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er hat die von ihm vorgenommene Einstufung weiter für zutreffend erachtet.
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Das Sozialgericht (SG) hat eine Auskunft des Verbandes der Chemischen Industrie e.V.,
F ..., eingeholt, wonach die jetzige L ... W ... AG dort Mitglied ist, und alsdann die Klage
abgewiesen, weil es sich bei den L ... W ... um einen Mischkonzern gehandelt habe, der
außer Benzin noch andere chemische Produkte hergestellt habe und somit dem
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Industriebereich "Chemische Industrie" zuzuordnen sei (Urteil vom 24. November 1993,
den Klägerbevollmächtigten zugestellt am 30. Dezember 1993).
Mit seiner Berufung vom 26. Januar 1994 hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt.
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Der Senat hat die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den Bundesminister für
Arbeit und Sozialordnung, zum Verfahren beige laden (Beschluss vom 03. September
1996).
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Der Kläger meint, er sei in den Wirtschaftsbereich "Mineralölverarbeitung" einzustufen,
weil er ab März 1971 in der neu gebildeten Abteilung "Primäre Erdölverarbeitung" tätig
gewesen sei. Dieser Bereich sei zwischenzeitlich als L ... R ... Gesellschaft mbH aus der
L ... W ... AG ausgegliedert. Entscheidend sei nicht, welcher Tarifvertrag maßgeblich sei,
sondern in welcher Höhe Einkommen erzielt werde. Nach westdeutschen Maßstäben
habe er bei den L ... W ... ein Spitzengehalt bezogen, das nur für wenige Arbeitnehmer
dieses Betriebes erreichbar war.
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Durch den Bescheid vom 13. Mai 1992 sei bindend eine Eingruppierung in die
Leistungsgruppe II für technische Angestellte erfolgt, er habe diese Entscheidung
lediglich hinsichtlich des zugrundegelegten Wirtschaftsbereiches angefochten. Eine
Einstufung gemäß § 3 Abs. 5 der Verordnung zur Durchführung des § 30 Abs. 3 bis 6
BVG (Berufsschadensausgleichsverordnung - BSchAV -) stelle keine angemessene
Bewertung seiner Tätigkeit und seiner akademischen Ausbildung dar, sofern man hier
nicht das Einkommen der Besoldungsgruppe A 16 des Bundesbesoldungsgesetzes
(BBesG) zugrundelegte.
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Der Kläger beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 24.11.1993 abzuändern und den Beklagten
unter Abänderung des Bescheides vom 13.05.1992 in der Gestalt des Bescheides vom
03.11.1992 zu verurteilen, ihm ab Februar 1978 Berufs schadensausgleich nach einem
Vergleichseinkommen der Leistungsgruppe II der technischen Angestellten im
Wirtschaftsbereich "Mineralölverarbeitung" zu gewähren.
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Der Beklagte und die Beigeladene beantragen,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Der Beklagte hat zunächst maßgeblich darauf abgestellt, daß sowohl die L ... W ... AG
als auch die L ... R ... Gesellschaft mbH dem Arbeitgeberverband "Chemie und
artverwandte Industrie Ost e.V." sowie der Berufsgenossenschaft der chemischen
Industrie an gehörten. Aufgrund der Umstrukturierungen habe die frühere
Hauptabteilung Hydrierung erst ab Juli 1990 zum Wirtschaftsbereich
"Mineralölverarbeitung" gerechnet werden können. Da der Kläger aber bereits im Mai
1989 das 65. Lebensjahr vollendet habe, wäre er bis zu diesem Zeitpunkt
höchstwahrscheinlich in der chemischen Industrie tätig gewesen.
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Später hat der Beklagte seine eigene Einstufung gänzlich für unzutreffend gehalten und
gemeint, der Kläger sei aufgrund seiner ab geschlossenen Hochschulausbildungen
zwingend nach § 3 Abs. 5 BSchAV einzustufen, so daß als VE das Endgrundgehalt der
Besoldungsgruppe A 15 BBesG zugrundezulegen sei. Daran ändere auch die Tatsache
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nichts, daß dieses VE seit Juli 1992 sogar unter dasjenige der Leistungsgruppe II im
Wirtschaftsbereich "Chemische Industrie" abgesunken sei. Der Umstand, daß die
allgemeine Einkommensentwicklung in bestimmten Wirtschaftsbereichen stärker
vorangeschritten sei als im öffentlichen Dienst, dürfte dem Verordnungsgeber bekannt
gewesen sein, habe ihn jedoch nicht zu einer Änderung der BSchAV veranlaßt. Der
Beklagte sehe keine Möglichkeit, diese eindeutigen Vorschriften zu korrigieren. Die
unterschiedliche Einkommensentwicklung betreffe genauso diejenigen
Leistungsempfänger, bei denen die Einstufung im Juli 1992 bereits bindend festgestellt
gewesen sei.
Auch die Beigeladene ist der Auffassung, daß wegen der abgeschlossenen
Hochschulausbildung des Klägers § 3 Abs. 5 BSchAV zwingend anzuwenden sei. Die
Tatsache, daß das VE in Einzelfällen niedriger sei als eine Einstufung in die
Leistungsgruppe II bestimmter Wirtschaftsbereiche, rechtfertige die Abkehr von dieser
zwingenden Vorschrift nicht, weil diese Einstufung vom Verordnungsgeber gewollt sei.
Mögliche Unterschiede zu anderen VE habe der Gesetz- bzw. Verordnungsgeber im
Hinblick auf die notwendig generalisierende und pauschalierende Ausgestaltung des
BSA in Kauf genommen. Es bestehe kein Bedarf für eine Änderung dieser Vorschriften.
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Wegen der Darstellung der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes nimmt
der Senat auf die Gerichtsakten, insbesondere die im Berufungsverfahren eingeholten
Auskünfte der L ... R ... mbH und des Statistischen Bundesamtes, die Verwaltungsakten
des Beklagten (Grdl.-Nr. 450 291), die Personalakten des V ... L ... W ... "W ... U ...", die
Krankenakte der Betriebspoliklinik L ..., die Rentenakten der BfA Berlin (Vn.: ...) sowie
die Vorprozeßakten des SG Detmold (Az.: S 18 (2) V 340/79) Bezug. Sämtliche Akten
sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Berufung ist begründet.
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Entgegen der Auffassung des SG ist der Kläger durch die angefochtenen Bescheide
vom 25. Januar und 23. November 1989, sowie durch die zum Gegenstand des
Verfahrens gewordenen (§ 96 SGG) Bescheide vom 13. Mai und 03. November 1992
insoweit beschwert, als der Beklagte nicht einen höheren Berufsschadensausgleich
unter Zugrundelegung des Einkommens eines technischen Angestellten der
Leistungsgruppe II im Wirtschaftsbereich "Mineralölverarbeitung" als VE gewährt hat, §
54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Diese Bescheide sind insoweit rechtswidrig, weil der Kläger
einen Anspruch auf Gewährung von BSA unter Zugrundelegung des bezeichneten
Vergleichseinkommens hat, §§ 30 Abs. 3 bis 5, 14 BVG, 2 Abs. 1 Satz 1 Ziffer 1, 3 Abs.
1 BSchAV. Die Sonderregelungen des § 3 Abs. 4 und 5 BSchAV finden keine
Anwendung.
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Zu Recht hat der Beklagte dem Kläger BSA gewährt, weil dieser schädigungsbedingt
aus dem Erwerbsleben ausgeschieden ist. Eben falls zu Recht hat er das maßgebliche
VE der Leistungsgruppe II für technische Angestellte entnommen. Unzutreffend ist
lediglich der aus dem Bereich "Grundstoff- und Produktionsgüterindustrie" gewählte
Wirtschaftsbereich, da entsprechend dem Begehren des Klägers hier nicht die
allgemeine "Chemische Industrie", sondern die "Mineralölverarbeitung" den
zutreffenden Wirtschaftsbereich darstellt.
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Entgegen der Auffassung des Klägers ist Streitgegenstand allerdings nicht lediglich die
Frage, welchem Wirtschaftsbereich das maßgebliche VE zu entnehmen ist. Denn dabei
handelt es sich lediglich um eine Anspruchsvoraussetzung des streitigen Anspruchs auf
Gewährung von BSA. Es ist aber nicht möglich, lediglich Feststellungen zu einzelnen
Tatbestandsmerkmale eines bewilligenden Bescheides anzufechten. Angefochten ist
vielmehr der Verfügungssatz, der sich über den geltendgemachten Anspruch insgesamt
verhält.
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Begehrt ein Kläger also eine höhere Leistung mit der Behauptung, eine andere
Einstufung als die vom Beklagten vorgenommene sei zutreffend, so ist der Anspruch
insgesamt originär zu prüfen (BSGE 39, 14, 17). Dies gälte selbst dann, wenn sich im
Laufe des Verfahrens herausstellte, daß überhaupt kein Anspruch auf BSA zu steht; ob
es in einem solchen Fall aus Rechtsgründen bei der bindenden Feststellung im
angefochtenen Bescheid verbleiben muß, kann hier offenbleiben.
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Zur Überzeugung des Senats steht fest, daß der Kläger ohne die Schädigungsfolgen in
der Bundesrepublik Deutschland wahrscheinlich eine leitende Stellung in einem
Industrieunternehmen der Mineralölverarbeitung bekleidet hätte, da er auch in der DDR
in diesem Wirtschaftsbereich zuletzt tätig war.
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Nach § 30 Abs. 5 Satz 1 BVG ist das VE der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe zu
entnehmen, der der Beschädigte ohne die Schädigung nach seinen
Lebensverhältnissen, Kenntnissen und Fähigkeiten und dem bisher betätigten Arbeits-
und Ausbildungswillen wahrscheinlich angehört hätte. Dies bedeutet, daß der
wahrscheinliche berufliche Werdegang des Klägers hypothetisch - d.h. unter
Weglassung der Schädigung - nachzuzeichnen ist.
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Der Senat geht davon aus, daß der Kläger auch ohne die Schädigungsfolgen etwa zum
gleichen Zeitpunkt in die Bundesrepublik Deutschland gelangt wäre, da seine berufliche
Karriere in der DDR allein durch die Verbüßung der Haftstrafe und die damit einher
gehenden besonderen Umstände jedenfalls insoweit beendet war, als eine mit
besonderem Vertrauen einhergehende berufliche Führungsposition für ihn nicht mehr
erreichbar war. Die bis zur Schädigung in der DDR verrichtete berufliche Tätigkeit dürfte
sich indes von der später verrichteten Tätigkeit inhaltlich nicht wesentlich unterschieden
haben, da die nach der Haftverbüßung erfolgte Umsetzung nicht auf Folgen der
Schädigung, sondern auf die verbüßte Haftstrafe und deren Begleitumstände
zurückzuführen sein dürfte. Der berufliche Werdegang in der DDR nach der Verbüßung
der Haftstrafe zeigt, daß der Kläger auch weiterhin unter besonderer Ausnutzung seines
Fachwissens eingesetzt wurde und ihm auch dabei wiederum ein beruflicher Aufstieg
gelang. Dies hat auch die BfA im Rentenbescheid vom 26. Juni 1978 dadurch
dokumentiert, daß sie ab Mai 1969 wieder das zuvor auch bis September 1965
zugrundegelegte Entgelt der Leistungsgruppe 1 der damaligen Anlage 1 zum
Fremdrentengesetz zugrundegelegt hat. Dann ist es aber wahrscheinlich, daß der
nachweislich hochqualifizierte Kläger mit seinem besonderen Fachwissen in einem
Industrieunternehmen der Minerlölverarbeitung, zum Beispiel als Controller (vgl.
Auskunft der L ...- R ... Gesellschaft mbH vom 19. Januar 1995) gearbeitet hätte.
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Bei dieser Einschätzung kommt es entgegen der Auffassung des Beklagten nicht darauf
an, ob und in welcher Form sich die früheren L ... W ... zwischenzeitlich umstrukturiert
haben, insbesondere ob und ab wann der Zweig, in dem der Kläger tätig war, eindeutig
der Mineralölindustrie zuzuordnen war und welchen Anteil er an der
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Gesamtwertschöpfung oder am Erlös der L ... W ... oder ihrer Rechtsnachfolger hatte.
Nach dem Gesetz ist vielmehr wesentlich auf die Kenntnisse und Fähigkeiten sowie den
bisher betätigten Arbeits- und Ausbildungswillen abzustellen. Danach spricht alles
dafür, daß der Kläger zuletzt in einer Abteilung tätig war, die bei wertender funktionaler
Betrachtung dem Wirtschaftsbereich Mineralölverarbeitung zuzuordnen war. Dies folgt
aus dem aktenkundigen beruflichen Werdegang des Klägers sowie aus den Auskünften
der L ... R ...-Gesellschaft mbH und des Statistischen Bundesamtes.
Bereits die vor der Schädigung ausgeübten Tätigkeiten des Klägers dürften seit seinem
Wechsel in die Abteilung Forschung und Entwicklung im März 1962 wesentlich mit der
Erdölverarbeitung zu tun gehabt haben, zumal der Kläger durch seine Diplomarbeit
offenbar ein besonderes Interesse und besondere Fähigkeiten in diesem Bereich
nachgewiesen hatte. Ob die letzte (ab Januar 1965) vor der Schädigung verrichtete
Tätigkeit als Leiter der ökonomischen Gruppe der Hauptabteilung Forschung
schwerpunktmäßig diesem Bereich zuzuordnen war, kann letztlich offenbleiben.
Jedenfalls - und darauf kommt es entscheidend an - ist die nach der Schädigung von
1967 bis 1973 ausgeübte Tätigkeit inhaltlich eindeutig diesem Tätigkeitsbereich
zuzuordnen. So war er ab Januar 1970 als Ökonom für Rationalisierung im Bereich
Erdölverarbeitung eingesetzt, wo er 1971 Abteilungsökonom und 1972 Ökonom für
Produktion im Bereich der Primärverarbeitung wurde. Diese Einschätzung wird durch
die Auskünfte der L ...-R ...-Gesellschaft mbH sowie des statistischen Bundesamtes in
Wiesbaden bestätigt. Die Leuna-Raffinerie-Gesellschaft mbH ordnet sich in Kenntnis
der maßgeblichen Kriterien als Rechtsnachfolgerin für den Tätigkeitsbereich, in dem der
Kläger früher tätig war, selbst dem Wirtschaftsbereich "Mineralölverarbeitung" zu. Das
Statistische Bundesamt sieht keine Anhaltspunkte, dieser Einstufung zu widersprechen.
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Entgegen der Auffassung des SG und des Beklagten ist es für diese wertende
Einordnung unerheblich, welcher Tarifvertrag heute für die L ...-R ...-Gesellschaft mbH
maßgeblich ist, welchem Arbeitgeberverband dieses Unternehmen angehört und
welche Berufsgenossenschaft zuständig ist. Diese sich aus der Logik des
Sachzusammenhanges ergebende Folgerung sieht der Senat auch durch die Auskunft
des Statistischen Bundesamtes vom 17. August 1995 bestätigt. Danach wird bei der
statistischen Ermittlung der maß geblichen Durchschnittseinkommen in Kauf
genommen, daß in einigen dem Wirtschaftsbereich "Mineralölverarbeitung"
zuzuordnenden Unternehmen tatsächlich ein Tarifvertrag der allgemeinen chemischen
Industrie maßgeblich ist, der folglich bei der Ermittlung der maßgeblichen
Durchschnittseinkommen keine Berücksichtigung findet.
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Folglich spielt es bei der pauschalen, generalisierten Entschädigung beim BSA keine
Rolle, daß es im allgemeinen Erwerbsleben auch Tätigkeiten gibt, die - obwohl
funktional dem Wirtschaftsbereich "Mineralölverarbeitung" zugehörig - aufgrund
tariflicher Besonderheiten tatsächlich geringer entlohnt werden.
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Entgegen der später vom Beklagten und auch von der Beigeladenen geäußerten
Auffassung ist ein Absinken des VE durch einen Aufstieg des Klägers von der
Leistungsgruppe II in die Leistungsgruppe I (§ 3 Abs. 4 BSchAV) oder aufgrund der
priviligierenden Sonderregelung des § 3 Abs. 5 BSchAV nicht zum Nachteil des Klägers
zu berücksichtigen.
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Dabei bestehen bereits erhebliche Bedenken, ob diese Regelungen in Fällen wie dem
vorliegenden wegen der unterschiedlichen Entwicklungen der Einkommen in der
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privaten Wirtschaft einerseits und im öffentlichen Dienst andererseits noch i.S. von Art.
80 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) mit der gesetzlichen
Ermächtigungsgrundlage für die BSchAV (jetzt: § 30 Abs. 14 BVG) und mit Art. 3 Abs. 1
GG vereinbar sind. Denn aus dem Gesamtregelungszusammenhang der Vorschriften
zum BSA wird hinreichend deutlich, daß sowohl § 3 Abs. 4 als auch § 3 Abs. 5
BSchAVO eine den Beschädigten begünstigende Regelung darstellen, wobei diese
Vorschrift ihm eine Beweiserleichterung einräumen will, während jene ihm bei
konkretem Nachweis einer wahrscheinlich höher qualifizierten Tätigkeit als diejenige
der Leistungsgruppe II eine Vergünstigung gewährt. Über das Rundschreiben der
Beigeladenen vom 23. März 1992 - VI a 1-53056 - (BArbBl. 1992, S. 116ff) gilt für in der
früheren DDR berufstätige Beschädigte im Ergebnis die gleiche Beweiserleichterung
wie nach § 3 Abs. 5 BSchAV; hierin empfiehlt die Beigeladene unter anderem für
Beschädigte, die ihr Berufsleben in der ehemaligen DDR zurückgelegt haben, bei
Hochschulabsolventen die Einstufung in die Leistungsgruppe I der Angestellten.
Seit Juli 1985 kann diese Höherstufung indes für den Wirtschaftsbereich
"Mineralölverarbeitung" nicht mehr verwirklicht werden, weil ab diesem Zeitpunkt das
Einkommen der Leistungsgruppe II bereits das nach § 3 Abs. 4 und 5 BSchAVO
höchstens zugrunde zulegende VE der Besoldungsgruppe A 15 BBesG - Endstufe -
übersteigt. Hier dürfte der Verordnungsgeber zur Anpassung der BSchAV aufgerufen
sein (vgl. BSG Urteil vom 25.06.1986 Az.: 9 a RV 39/84, S. 11ff). Ob in derartigen Fällen
eine gesetzes- und verfassungskonforme Auslegung dieser Vorschriften, etwa durch
Zugrundelegung der Besoldungsgruppe A 16 BBesG, angezeigt ist oder ob eine
grundsätzliche strukturelle Änderung der VO durch den Verordnungsgeber erfolgen
muß, kann für die Beurteilung des vorliegenden Falles im Ergebnis dahinstehen.
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Denn der Kläger hat lediglich die Zugrundelegung eines VE der Leistungsgruppe II im
Wirtschaftsbereich "Mineralölverarbeitung" begehrt; er hat durch die damit erfolgte
Beschränkung seines Begehrens konkludent auf eine höhere Einstufung verzichtet.
Diese aus Sicht des Klägers konsequente und einheitliche Antragstellung, mit der er
gleichzeitig einräumt, daß ihm auch für den Zeitraum von Februar 1978 bis Juni 1985
das bis dahin noch höhere VE nach der Besoldungsgruppe A 15 BBesG nicht zusteht,
trägt auch dem zu treffenden Einwand des Beklagten, das VE müsse durchgehend
einheitlich festgestellt werden, Rechnung. Ob und inwieweit in ähn lich gelagerten
Fällen, in denen bereits vor Juli 1985 bindend eine Einstufung nach § 3 Abs. 4 oder 5
BSchAVO vorgenommen war, auf Antrag des Betroffenen wegen einer wesentlichen
Änderung der tatsächlichen Verhältnisse eine Neueinstufung vorzunehmen ist, kann
hier unentschieden bleiben.
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Der Senat hat keine Bedenken, von der Wirksamkeit eines Verzichts auf die einseitig
begünstigende Einstufung nach § 3 Abs. 4 und/oder 5 BVG auszugehen. Diesen
Verzicht hat der Kläger hier durch seine schriftliche Erklärung, er beantrage die
Zugrundelegung des VE nach der Leistungsgruppe II im Wirtschaftsbereich
"Mineralölverarbeitung", konkludent ausgesprochen.
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Bei der Sondereinstufung nach § 3 Abs. 4 und 5 BSchAVO handelt es sich nicht, wie
Beklagter und Beigeladene meinen, um zwingende Einstufungsvorschriften, sondern
um einseitig privilegierende Sondervorschriften, auf deren Anwendung verzichtet
werden kann, selbst wenn damit nicht auf die Sozialleistung insgesamt verzichtet wird.
Denn bei teilbaren Ansprüchen kann auch nur auf einen Teil des Anspruchs verzichtet
werden (Hauck-Haines Sozialgesetzbuch, SGB I, Kommentar Allgemeiner Teil, Stand
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Januar 1997, § 46 4 a; (Lilge/v. Einem in Gesamtkommentar zur Sozialversicherung,
(GK), Stand August 1997, § 46 SGB I 1 d, 2). Dabei kann offenbleiben, ob dies auf der -
entsprechenden - Anwendung des § 46 Sozialgesetz buch 1. Buch (SGB I) oder auf
Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts zu gründen ist (vgl. BSGE 60, 11ff =
SozR 3870 § 3 SchwbG Nr. 21 = Breithaupt 1986, 877ff). Auf die Anwendung einsei tig
begünstigender Rechtsvorschriften darf ein Sozialleistungsempfänger jederzeit
verzichten (BSG a.a.O.).
Öffentliche Interessen stehen dem nicht entgegen; insbesondere ist unerheblich, daß
sich für den Kläger ab 1985 durch den Verzicht ein höherer Zahlbetrag ergibt.
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Denn der Kläger verzichtet zunächst nur - abstrakt - auf eine allgemein günstigere
Rechtsposition, die sich erst im konkreten Einzelfall in einem höheren Zahlbetrag
niederschlägt. Die Zulässigkeit eines solchen Verzichts kann aber nicht davon
abhängen, wie es sich im konkreten Falle auswirkt.
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Die aus dem Verzicht resultierend höhere Belastung des Beklagten ist auch bei
entsprechender Anwendung des § 46 Abs. 2 SGB I zu lässig; hier ist nur die Belastung
eines anderen Sozialleistungsträgers, nicht aber die stärkere Belastung des gleichen
geregelt; diese soll zulässig bleiben (GK a.a.O. 5.).
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Der Senat verkennt auch nicht den Einwand der Beigeladenen, es handele es sich bei
dem gesetzlichen Gesamtkonzept des BSA um eine pauschalierte, an einem
durchschnittlichen Berufserfolg orientierte und in der Höhe begrenzte Abgeltung von
beruflichen Schäden. Dieser Einwand ist jedoch vorliegend nicht stichhaltig. Denn der
Gesetzgeber hat deutlich gemacht, daß der Ausgleich der beruflichen Schäden am
individuellen beruflichen Erfolg festgemacht werden soll. Dann entspricht es aber dieser
gesetzlichen Konzeption nicht mehr, wenn der BSA bei höherem beruflichen Erfolg im
Vergleich zu denjenigen Beschädigten, die lediglich einen geringeren beruflichen Erfolg
aufzuweisen haben, absinkt. Vielmehr muß es dem Beschädigten möglich sein, auf die
mit § 3 Abs. 5 BSchAVO bezweckte Besserstellung zu verzichten, um sich in die -
zumindest nachgewiesene - niedrigere - Leistungsgruppe einstufen zu lassen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 Abs. 1 SGG, wobei die erstinstanzliche
Kostenentscheidung auch insoweit zu korrigieren ist, als das SG bei seiner
Kostenentscheidung das wesentliche Obsiegen des Klägers in erster Instanz
unberücksichtigt gelassen hat.
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