Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 09.07.2001

LSG NRW: sowjetunion, flucht, aufenthalt im ausland, lettland, bevölkerung, freiwillige versicherung, ultra petita, verfolgter, begriff, eigentum

Landessozialgericht NRW, L 3 RJ 116/00
Datum:
09.07.2001
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
3. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 3 RJ 116/00
Vorinstanz:
Sozialgericht Düsseldorf, S 39 (8) RJ 78/96
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts
Düsseldorf vom 28.06.2000 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat auch
die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren zu
erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
1
Streitig ist, ob der Kläger als Verfolgter im Sinne des Gesetzes zur Regelung der
Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung
(WGSVG) anzusehen und damit berechtigt ist, Beiträge zur deutschen gesetzlichen
Rentenversicherung zu entrichten.
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Der 1923 in Y ..., Kreis R ..., Lettland, geborene Kläger ist Jude. Er arbeitete bis Juni
1941 als Verkaufsgehilfe in R ... Im Juli 1941 flüchtete er vor den Deutschen in das
Innere der Sowjetunion. Nach Kriegsende lebte und arbeitete der Kläger wieder in
Lettland, 1979 wanderte er nach Australien aus. Seit 1983 ist er australischer
Staatsangehöriger.
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Am 27.09.1990 beantragte der Kläger Altersruhegeld unter Anerkennung seiner
Versicherungszeiten und Zulassung zur Beitragsentrichtung zur deutschen gesetzlichen
Rentenversicherung. Er beschrieb sein Verfolgungsschicksal dahingehend, dass er bei
Ausbruch des deutsch-russischen Krieges in R ... gewohnt habe. Nachdem die
Deutschen im Juni 1941 R ... und Lettland eingenommen hätten, hätten sofort
Judenverfolgungen begonnen und es seien täglich Erschießungen vorgenommen
worden. Da er als Jude um sein Leben gefürchtet habe, sei er nach Russland geflüchtet.
Dort sei er gefaßt und zunächst zu Zwangsarbeiten in Sibirien herangezogen und später
zum Bahnbau für das russische Militär im Ural eingesetzt worden.
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Die Schwester des Klägers, Frau S ... Z ..., bestätigte in einer schriftlichen Erklärung,
dass der Kläger von 1941 bis 1945 in K ... gelebt und Zwangsarbeit geleistet habe. Auch
die Zeugin T. V ... machte entsprechende Angaben.
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Aus der von der Beklagten beigezogenen BEG-Akte der Mutter des Klägers, Frau V ... B
... ergibt sich, dass diese ein Verfolgungsschicksal in Ghettos und Konzentrationslagern
beschrieben und angegeben hat, sie habe ab Juli 1941 das Judenkennzeichen tragen
müssen und sei am 02.10.1941 mit ihren beiden Kindern in das Ghetto Riga
eingewiesen worden. Aus der ebenfalls beigezogenen BEG-Akte der Schwester des
Klägers ist ersichtlich, dass diese ebenfalls ein Verfolgungsschicksal in Ghettos bzw.
Konzentrationslagern geltend gemacht und erklärt hat, sie sei im 0ktober 1941 mit ihren
Eltern in das Ghetto Riga eingewiesen worden.
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Während die Beklagte auf der Grundlage von § 17 a FRG Beitrags- bzw.
Beschäftigungszeiten nach §§ 15, 16 FRG mit Unterbrechungen von Juni 1939 bis
Februar 1979 anerkannt hat, lehnte sie mit Bescheiden vom 17.02.1993 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 29.02.1996 sowie mit nach Klageerhebung
erstelltem Bescheid vom 05.01.2000 die Zulassung des Klägers zur Entrichtung von
Beiträgen ab. Eine Nachentrichtungsmöglichkeit nach § 21 Abs. 1 Satz 1 WGSVG
scheitere daran, dass ein Nachentrichtungsantrag nach § 10 WGSVG nicht bis zum
31.12.1975 gestellt worden sei. Weil für den Kläger unabhängig von einer
Vorversicherungszeit nicht das Recht zur freiwilligen Versicherung bestanden habe, sei
auch § 22 WGSVG für ihn nicht einschlägig. Schließlich sei der Kläger nicht nach § 9
WGSVG in der bis zum 31.12.1991 geltenden Fassung versicherungsberechtigt, weil er
kein Verfolgter im Sinne des § 1 BEG sei.
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Im Klageverfahren hat der Kläger zuletzt nur noch gemeint, aufgrund seines Schicksals
sei er als Verfolgter anzusehen und jeden falls gemäß § 9 WGSVG a.F. zur freiwilligen
Versicherung zuzulassen. Zum Beleg seiner Verfolgteneigenschaft hat der Kläger
Antragsunterlagen der Claims Conference vorgelegt.
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Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, dass derjenige, der aus Verfolgungsfurcht vor
den heranrückenden deutschen Truppen floh, der jedoch in dem Staat blieb, in dessen
Machtbereich er schon bisher lebte, grundsätzlich nicht als Verfolgter anzusehen sei.
Gestützt auf die Ausführungen des BSG im Urteil vom 09.08.1995 - 13 RJ 25/94 - hat sie
gemeint, dass die Verfolgteneigenschaft lediglich dann anerkannt werden könne, wenn
die nicht durch Gewaltmaßnahmen bedrohte Bevölkerung vor den heranrückenden
deutschen Truppen nicht geflüchtet sei. Lediglich wenn ein überwiegender
Personenkreis die Flucht ergriffen habe, der mit Verfolgung durch die
Nationalsozialisten rechnen mußte, sei auch die Flucht des Klägers als
verfolgungsspezifischer Tatbestand i.S. des BEG anzusehen.
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Das Sozialgericht hat zur Klärung der Frage, ob in Lettland auf grund des Einmarsches
der deutschen Truppen im Jahr 1941 eine allgemeine, größere Bevölkerungsteile
umfassende Fluchtbewegung einsetzte, oder ob überwiegend der Personenkreis floh,
der von der nationalsozialistischen Verfolgung bedroht war, geschichtswissen
schaftliche Ermittlungen durchgeführt. Es hat Anfragen gerichtet an das Gerhard-
Hauptmann-Haus - deutsch/osteuropäisches Forum -, das Institut für interdisziplinäre
baltische Studien an der Universität Münster, die Universitätsbibliothek Düsseldorf, die
baltische historische Kommission sowie das Institut für baltische Studien in Stockholm.
Es hat ferner einen Buchauszug "Die Presse in Riga während der deutschen
Besatzung" beigezogen.
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Mit Urteil vom 28.06.2000 hat es die angefochtenen Bescheide auf gehoben und die
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Beklagte verurteilt, den Kläger zur Nachentrichtung freiwilliger Beiträge nach § 9
WGSVG a.F. zuzulassen und ihm Altersruhegeld unter Berücksichtigung der
festgestellten Zeiten zu gewähren. Es hat den Kläger als Verfolgten i. S. des § 9
WGSVG a.F. angesehen. Hinsichtlich der Gründe wird auf das Urteil des Sozialgerichts
verwiesen.
Gegen diese am 19.07.2000 zugestellte Entscheidung richtet sich die am 03.08.2000
erhobene Berufung der Beklagten.
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Die Beklagte meint weiter, der Kläger sei nicht als Verfolgter anzusehen.
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Die Beklagte beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 28.06.2001 abzuändern und die Klage
abzuweisen.
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Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er hält das angefochtene Urteil für richtig.
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Im Berufungsverfahren wurde eine weitere Auskunft des Instituts ür baltische Studien,
auf deren Inhalt verwiesen wird, beigezogen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt
der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der
mündlichen Verhandlung gewesen sind, verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Der Senat konnte die Streitsache in Abwesenheit des Klägers verhandeln und
entscheiden, da er mit der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§§
110 Abs. 1 Satz 2, 126 SGG).
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Die Berufung der Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet.
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Allerdings hat das Sozialgericht nicht lediglich über den Klageantrag entschieden, der
auf die Anerkennung von Fremdbeitragszeiten und die Zulassung zur
Beitragsentrichtung gerichtet war, sondern es hat die Beklagte zur Zahlung von
Altersruhegeld verurteilt. Damit hat das Sozialgericht die Vorschrift des § 123 SGG
verletzt. Nach dieser Vorschrift darf das Gericht nicht mehr zusprechen als gewollt ("ne
ultra petita"). Der Kläger hat jedoch lediglich die Zurückweisung der Berufung beantragt
und damit konkludent im Berufungsverfahren eine Klageerweiterung ausgesprochen
(hierzu Meyer-Ladewig, SGG, 6.Auflage, Rdnr. 6 zu § 123). Diese ist zulässig, da die
Beklagte ihr nicht widersprochen hat und die Erweiterung der Klage zudem sachdienlich
ist (§ 99 Abs. 1 SGG). Der Leistungsantrag entspricht dem ursprünglich im
Verwaltungsverfahren gestellten Antrag, die bisherigen Beweisergebnisse sind
verwertbar. Den Leistungsantrag hat die Beklagte zwar nicht ausdrücklich, jedoch
mindestens dadurch dem Sinne nach abgelehnt, dass sie die Aufhebung der
Verurteilung zur Rentenzahlung beantragt hat.
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Das Sozialgericht hat zu Recht entschieden, dass der Kläger zur Entrichtung freiwilliger
Beiträge nach § 9 WGSVG (in der Fassung vom 22.12.1970 - BGBl. I, 1946 -, gültig vom
01.02.1971 - 31.12.1991; im Folgenden: a.F.) zuzulassen ist. Der insoweit maß
gebliche, gemäß § 96 SGG zum Gegenstand des Verfahrens gewordene
Ablehnungsbescheid vom 05.01.2000, ist rechtswidrig im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1
SGG.
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Nach § 9 WGSVG a.F. konnten Verfolgte mit einer Versicherungszeit von mindestens 60
Kalendermonaten, deren rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit
aus Verfolgungsgründen unterbrochen oder beendet worden ist, oder die bis zum
Beginn der Verfolgung eine Ausfallzeit zurückgelegt haben, sich auf Antrag in dem
Zweig der Rentenversicherung weiterversichern, zu dem sie den letzten Beitrag vor dem
Inkrafttreten des WGSVG entrichtet haben, auch wenn die Voraussetzungen des § 1233
RVO, 10 AVG nicht vorliegen.
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§ 9 WGSVG wurde durch Art. 21 Nr. 2 RRG 1992 mit Wirkung ab 01.01.1992 (Art. 85
Abs. 1 RRG 1992) neu gefasst. Die ursprünglich in § 9 WGSVG enthaltene Regelung
findet sich jetzt in § 10 WGSVG in der ab 01.01.1992 geltenden Fassung. Die Vorschrift
hat vor allem Bedeutung für Verfolgte mit gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland, die
nach den allgemeinen Regeln (§§ 1233 RVO, 7 SGV VI, freiwillige Versicherung bei
Auslandswohnsitz nur für Deutsche) oder nach über- bzw. zwischenstaatlichem Recht
(z. B. Zusatzabkommen zum DISVA) nicht zur freiwilligen Versicherung berechtigt sind.
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Der Kläger hat den Antrag auf Entrichung freiwilliger Beiträge am 27.09.1990 gestellt, so
dass § 9 WGSVG noch einschlägig ist.
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Der Kläger hat eine Versicherungszeit von mehr als 60 Kalendermonaten zurückgelegt.
Dies ergibt sich aus dem von der Beklagten anerkannten Versicherungsverlauf. Die
Zeiten sind glaubhaft und unstreitig; glaubhaft und unstreitig ist auch, dass der Kläger
bis zum Beginn der behaupteten Verfolgungszeit beschäftigt war. Unter einer
rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit ist neben einer
Pflichtversicherung nach früheren reichsgesetzlichen Vorschriften auch eine aufgrund
des FRG anzuerkennende Beitragszeit und Beschäftigungszeit (§§ 15, 16 FRG) zu
verstehen (vgl. auch Verbandkommentar Rdnr. 3 zu § 10 WGSVG i.V.m. Rdnr. 17,6 zu §
1 WGSVG), so dass bei Bejahung der Verfolgteneigenschaft auch von einer
Unterbrechung einer rentenversicherungspflichtigen Tätigkeit ausgegangen werden
kann.
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Mit dem Sozialgericht und entgegen der Meinung der Beklagten ist auch die Eigenschaft
des Klägers als Verfolgter im Sinne des § 9 WGSVG a.F. zu bejahen.
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Für das WGSVG ist grundsätzlich der Begriff des Verfolgten im Sinne des BEG
maßgeblich (§ 1 Abs. 1 WGSVG, vgl. dazu auch BSG, Urteil vom 09.08.1995 - 13 RJ
25/94 -). Verfolgter ist hiernach, wer Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung ist.
Opfer nationalsozialistischer Verfolgung ist, wer (u. a.) aus Gründen der Rasse oder des
Glaubens durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden ist und
hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen, in
seinem beruflichen oder wirtschaftlichen Fortkommen erlitten hat (§ 1 Abs 1 BEG). Der
Kläger ist Opfer im Sinne dieser Vorschrift.
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Glaubhaft und im Übrigen zwischen den Beteiligten nicht streitig ist zunächst, dass der
Kläger nach der Besetzung R ... durch die deutschen Truppen in die Sowjetunion
geflohen ist. Der Kläger konnte seine Angaben bestätigende Zeugenaussagen vorlegen
(Erklärungen der Zeugen P ... und L ...), und er verfügt über eine Bescheinigung für eine
in der Sowjetunion zurückgelegte Beschäftigung, die von der Beklagten anerkannt wird.
Die BEG-Erklärung der Mutter, sie wäre mit "ihren beiden Kindern" im Oktober 1941 in
das Ghetto Riga eingeliefert worden, dürfte unzutreffend sein. Ein Ghettoaufenthalt wäre
für den Anspruch des Klägers günstig, denn das würde ohne weiteres dessen
Verfolgteneigenschaft begründen. Wäre der Kläger nicht sogleich in die Sowjetunion
geflüchtet, sondern unmittelbar nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen ausgesetzt
gewesen, ist anzunehmen, dass er diesen entschädigungsrechtlich für ihn günstigen
Sachverhalt mitgeteilt hätte.
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Die Annahme der Verfolgteneigenschaft des Klägers scheitert entgegen der Annahme
der Beklagten nicht daran, dass der Kläger nicht unmitttelbar Opfer konkreter
nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen geworden ist, weil er sich der in R ... nach
der deutschen Besatzung einsetzenden Judenverfolgung durch Flucht in das Innere der
Sowjetunion entzogen hat. Gemäß § 2 Abs. 1 BEG sind nationalsozialistische
Gewaltmaßnahmen solche Maßnahmen, die aus den Verfolgungsgründen des § 1 BEG
auf Veranlassung oder mit Billigung einer Dienststelle oder eines Amtsträgers des
Reiches, eines Landes, einer sonstigen Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des
öffentlichen Rechts, der NSDAP, ihrer Gliederungen oder ihrer angeschlossenen
Verbände gegen den Verfolgten gerichtet worden sind. Nach der Rechtsprechung des
BGH und ihm folgend des BSG ist der Begriff der konkreten Verfolgung nicht auf
unmittelbare Eingriffe in die Lebenssituation des Verfolgten beschränkt sondern auch
erfüllt, wenn eine allgemeine Verfolgungsgefahr bestand, die bei verständiger
Würdigung erwarten ließ, dass der Einzelne in absehbarer Zeit von
nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen betroffen wird, und er sich dieser Gefahr
durch Auswanderung oder auf andere Weise entzieht. Insbesondere bei den
Gruppenverfolgten - so auch den Juden - ist danach eine konkrete Verfolgung in diesem
Sinne bejaht worden, wenn Gruppenverfolgte die Gefahr eines gewaltsamen Zugriffs mit
gutem Grund als gegenwärtig ansehen durften und sich ihr durch Flucht entzogen
haben (BGH, RzW 1975, 265; BSG SozR 5070 § 9 Nr. 3). Der Kläger war
Gruppenverfolgter im Sinne dieser Ausführungen. Zum Zeitpunkt seiner Flucht aus R ...
im Juli 1941 stand die Gefahr einer solchen Verfolgung auch unmittelbar bevor, denn R
... wurde bereits wenige Tage nach dem Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion
(22.06.1941) von der rasch vor stoßenden 18. Armee der Deutschen Wehrmacht am 02.
Juli 1941 eingenommen (BSG, Urteil vom 09.08.1995 - 13 RJ 25/94 - mit Hinweis auf
die einschlägige historische Literatur).
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Der Verfolgteneigenschaft des Klägers steht auch nicht entgegen, dass er aus Lettland,
das sich bereits am 05. August 1940 unter sowjetischem Druck als 15. sozialistische
Sowjetrepublik der UdSSR angeschlossen hatte, in das Innere der Sowjetunion floh und
damit in dem Staat blieb, in dessen Bereich er schon bisher lebte.
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Allerdings ist nach ständiger Rechtsprechung des BGH derjenige, welcher aus
Verfolgungsgründen vor den heranrückenden deutschen Gruppen floh, dabei jedoch in
dem Staat blieb, in dessen Machtbereich er schon bisher lebte, nicht
entschädigungsberechtigt für Schäden, die bei oder infolge der Flucht außerhalb des
deutschen Einflussgebietes entstanden sind (BGH RZW 1974, 204; RzW 1977, 168).
Diese Rechtsprechung ist für das WGSVG übernommen worden (BSG vom 09.08.1995
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a.a.O., dort auch Hinweise auf die Entscheidung des Senates vom 15.05.1987 - L 3 J
102 /84 -).
Diese Folgerung des BGH kann jedoch nicht ohne weiteres auf das WGSVG und den
dieses Gesetz prägenden Verfolgtenbegriff übertragen werden:
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Der Rechtsprechung des BGH liegt der Gedanke zugrunde, dass jüdische Flüchtlinge,
die im eigenen Land vor den herannahenden deutschen Truppen flohen, ein Teil
fliehender Bevölkerungsmassen waren, die das gemeinsame ungewisse Schicksal der
Flucht in das Landesinnere aus Furcht vor dem unmittelbaren Kriegsgeschehen und
dem fremden Besatzungsregime auf sich nahmen. Die Verfolgung möge als
maßgeblicher oder zusätzlicher Beweggrund für das Ausweichen in das Innere des
Landes feststellbar sein, sie allein rechtfertige es nicht, die Teilnahme am weithin
verbreiteten Schicksal der übrigen zivilen Bevölkerung als entschädigungsrechtlich
bedeutsam anzusehen (BGH RzW 1974 und 1977 a.a.O.).
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Diese Auffassung verkennt, dass das Schicksal der osteuropäischen Juden ein gänzlich
anderes gewesen ist, als das der übrigen Zivilbevölkerung. Den Juden, und nur ihnen,
drohte bei Verbleiben im deutschen Einflussbereich der nahezu sichere Tod. Die Juden
waren nicht Opfer eines allgemeinen Kriegsschicksales, sondern sie waren -
einschließlich Frauen, Alten und Kindern - systematisch staatlich organisierten
Massenmorden ausgesetzt. Hieran beteiligten sich insbesondere auch im Baltikum nicht
nur das deutsche Besatzungsregime, sondern auch weite Teile der einheimischen
Bevölkerung, deren latenter Antisemitismus durch den Einmarsch der Deutschen
entfesselt wurde (so auch Schwarz, RZW 1980, 1 f.; vgl. auch Rasehorn,
Urteilsanmerkung, RZW 1974, 204; vgl. im Übrigen auch Heer, Blutige Ouvertüre, in:
Die Zeit Nr. 26, vom 21.06.2001, S. 90).
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Juden waren damit zur Rettung ihres Lebens unmittelbar und alternativlos gezwungen,
Besitz, Eigentum und Beruf aufzugeben und in das Innere der Sowjetunion zu fliehen,
gleichgültig wer dort herrschte und welches Schicksal sie dort erwartete (hierzu Werner
RZW 1973, 361 f.). Einem derartigen Zwang unterlag die übrige, nicht speziell von der
Nationalsozialisten verfolgte Zivilbevölkerung nicht. Sie hatte die Wahl, ob sie sich dem
Kriegsgeschehen und der deutschen Herrschaft aussetzte, oder ob sie es vorzog, in die
von Stalin beherrschte Sowjetunion zu fliehen. Wenn einige Bevölkerungsteile ebenso
wie die Juden es vorzogen, zu fliehen, kann dies daran, dass die Juden in jedem Fall
Verfolgte des nationalsozialistischen Unrechtsregimes waren, nichts ändern.
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Dem kann nicht entgegengehalten werden, daß sich aus den Kampfhandlungen und
den Umständen eines Besatzungsregimes auch für die übrige Bevölkerung Härten
ergaben und auf die Bedürfnisse der Bevölkerung "kaum Rücksicht genommen" wurde
(so BGH RzW 1977 a.a.O.). Diese Gefahrenlage ist nämlich mit der, in der sich die
Juden befanden, überhaupt nicht vergleichbar. Die Flucht entstand vielmehr aus einer
Gefahrenlage heraus, die für Juden durch die nationalsozialistische Judenverfolgung
gegenüber der nichtverfolgten Bevölkerungsgruppen unvergleichlich erhöht war (i.S.
von BGH RzW 1977 a.a.O.).
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Die Prämisse des BGH ist jedenfalls für das WGSVG auch deshalb nicht anzuwenden,
weil bei der Anwendung des WGSVG für die Zurechnung eines Schadens zu einer
Ursache (hier Flucht zur nationalsozialistischen Judenverfolgung) die Kausalitätslehre
der wesentlichen Ursache gilt. Diese Kausalitätslehre ist für alle sozialrechtlichen
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Ansprüche anzuwenden. Als Ursache im Rechtssinne gelten hiernach unter Abwägung
ihres verschiedenen Wertes die Bedingungen, die wegen ihrer besonders engen
Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Haben mehrere
Ursachen an der Entstehung des Schadens mitgewirkt, ist vergleichend zu bewerten,
welche von ihnen gleichwertig und welche wegen ihrer geringen Wirkung für den
eingetretenen Schaden derart unbedeutend sind, dass sie praktisch außer Betracht
bleiben müssen. Entscheidendes Kriterium für die Beurteilung der rechtlichen
Wesentlich keit ist der Schutzzweck des Gesetzes (allgemein zur sozialrechtlichen
Kausalitätslehre Erlenkämper/Fichte, Lehrbuch zum Sozialrecht, S. 74 f. mit zahlreichen
weiteren Nachweisen).
Durch § 9 WGSVG soll ein sozialrechtlicher Schaden ausgeglichen werden, der
rechtlich wesentlich durch nationalsozialistische Verfolgungen entstand. Selbst wenn
auch allgemeine Kriegsereignisse Grund für die Flucht in das Innere der Sowjetunion
waren, so ist doch angesichts des oben geschilderten spezifisch jüdischen Schicksals
die Tatsache, dass der Kläger Jude war, mindestens gleichwertig - wenn nicht sogar
überwiegend - der Grund für die Flucht neben dem allgemeinen Kriegsschicksal, so
dass das Schicksal des Klägers der nationalsozialistischen Verfolgung zugerechnet
werden muss.
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Der Anwendung der sozialrechtlichen Kausalitätstheorie steht auch nicht entgegen,
dass der Begriff des Verfolgten im Sinne des WGSVG mit dem Begriff des Verfolgten
i.S.d. BEG identisch ist. Denn es handelt sich auch beim BEG um ein Gesetz, das
aufgrund von Tatbeständen, für die sich die öffentliche Hand einstandpflichtig erklärt hat,
subjektiv öffentliche Rechte auf Leistungen begründet, so dass es jedenfalls bei der
Beurteilung von Zurechnungsfragen auch bei Anwendung des BEG geboten ist, die
Theorie der rechtlich wesentlichen Ursache zugrunde zu legen (anders BGH RzW 1977
a.a.O., Anwendung der zivilrechtlichen Adäquanztheorie ).
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Die Verfolgteneigenschaft des Klägers wäre zudem auch dann zu bejahen, wenn man
der Auffassung des BGH grundsätzlich folgen würde. Denn das Sozialgericht hat zu
Recht entschieden, dass es überwiegend wahrscheinlich im Sinne des § 3 Abs. 1
WGSVG ist, dass nach dem Einmarsch der deutschen Truppen im Jahre 1941 keine
allgemeine, große Bevölkerungsteile erfassende Fluchtbewegung einsetzte. Für die
Annahme einer derartigen Fluchtbewegung sprechen keinerlei Gesichtspunkte. Auch
der BGH hat in der Entscheidung vom 04.04.1974 keine Belege dafür angeführt, dass es
(aus Polen) "fliehende Bevölkerungsmassen" gegeben haben könnte, von denen die
Juden lediglich ein Teil waren. Der entsprechenden Rechtsprechung des BGH liegt
offenbar ganz allgemein der Gedanke zugrunde, dass es bei Einmarsch einer fremden
Macht ein häufiges Phänomen ist, dass die Bevölkerung vor den herannahenden
Truppen flieht. Dies mag sein, gilt jedoch dann nicht, wenn die herannahenden Truppen
von der Bevölkerung nicht als Feinde, sondern als Befreier angesehen wurden, wie es
beim Baltikum naheliegt, das kurz vorher völkerrechtlich fragwürdig an die Sowjetunion
angeschlossen wurde. Der BGH hätte auch in den von ihm entschiedenen Fällen seine
Annahme, es habe "fliehende Bevölkerungsmassen" gegeben, mindestens belegen
müssen. Jedenfalls gibt es keinen allgemein gültigen Erfahrungssatz dahingehend,
dass bei einem Kriegsausbruch stets Bevölkerungsmassen fliehen. Die vom BGH im
Urteil vom 04.04.1974 gemachte Aussage ist daher nicht verallgemeinerungsfähig.
44
Gegen eine solche Massenflucht aus dem Baltikum sprechen dem gegenüber
zahlreiche Gesichtspunkte: Das BSG hat in der Entscheidung vom 09.08.1995 bereits
45
darauf hingewiesen, dass Lettland im Gegensatz zu Polen vor dem Angriff des
Deutschen Reiches auf die Sowjetunion von dieser einseitig annektiert worden ist.
Deshalb spricht bereits eine Vermutung dafür, dass die lettische Bevölkerung in den
deutschen Truppen zunächst keine unerwünschte Besatzungsmacht, sondern die
"Befreier" von der Sowjetherrschaft sah und nicht den zurückweichenden
Fremdherrschern nacheilte, um bei ihnen Schutz zu suchen. Dafür spricht auch der
Umstand, dass das deutsche Reich vor der Besetzung über einen längeren Zeitraum
hinweg gute Beziehungen zu den baltischen Staaten gepflegt hatte.
Die vom BSG geäußerte Vermutung wird durch die vom Sozialgericht angestellten
geschichtswissenschaftlichen Ermittlungen bestätigt: Nach den Auskünften des
wissenschaftlichen Mitarbeiters K ... K ... vom Institut für baltische Studien vom
16.07.1999 und 15.02.1001 war ein unkontrollierter Grenzübertritt von der lettischen
SSR zur russichen SFFR oder weißrussischen SSR nicht möglich. Bereits dieser
Umstand spricht gegen eine "Massenflucht".
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Von der Sowjetunion wurden zwischen 40 000 und 60 000 Personen evakuiert. Bei
knapp zwei Millionen Einwohnern stellt auch dieser Umstand keine "Massenflucht" dar.
Überwiegend wahrscheinlich ist auch, dass hauptsächlich priviligierte Personen, wie
Rotarmisten, Mitglieder der KPdSU und ihre Familienangehörigen evakuiert wurden.
Hierfür sprechen auch die Ausführungen in der zeitgeschicht lichen Studie von Werner,
RZW 1973, 361 f. (366). Demgegenüber lebten in Lettland nach der Auskunft der
Heimatauskunftsstelle und des Instituts für baltische Studien nur ca. 90 000 Juden, von
denen 20 000, also ein sehr wesentlicher Anteil, geflohen ist.
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Der vom Sozialgericht beigezogene Aufsatz "Die Presse in Riga während der
deutschen Besatzung" belegt, dass es eine starke nationalsozialistisch geprägte
Strömung in Lettland gegeben hat, was ebenfalls dafür spricht, dass in Lettland die
Deutschen jedenfalls nicht als Feind, vor dem man "massenhaft" floh, angesehen
wurden. Auch aus dem Gerhard-Hauptmann-Haus heißt es, dass "die Letten eher vor
den Russen geflohen wären, als vor den Deutschen" (Auskunft der Bibliotheksleiterin G
... vom 13.01.1988).
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Zusammenfassend kommt K ... zu dem Ergebnis, dass eine allgemeine, größere
Bevölkerungsteile erfassende Fluchtbewegung nicht einsetzte, sondern dass es eine
von der Sowjetmacht gesteuerte Evakuierung gab, der sich viele Juden angeschlossen
haben.
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Hinzuweisen ist im übrigen darauf, dass die entsprechende historische Frage nicht
"aufgeklärt" werden muß (so aber BSG vom 09.08.1995 a.a.0.). Vielmehr ist es gemäß §
3 Abs. 1 WGSVG ausreichend, dass glaubhaft ist, dass eine entsprehende Massenflucht
nicht stattgefunden hat. Dies ist - wie dargelegt - der Fall.
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Mit dem Sozialgericht ist der Senat schließlich der Auffassung, dass überwiegend
wahrscheinlich ist, dass dem Kläger infolge der Flucht in das Innere der Sowjetunion ein
Schaden an den Rechtsgütern im Sinne des § 1 Abs. 1 BEG entstanden ist. Wie das
Sozialgericht zu Recht ausgeführt hat, blieb dem Kläger nach dem Einmarsch der
deutschen Truppen in R ... wenig Zeit, um vor den gleich einzusetzenden
Verfolgungsmaßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung zu fliehen. Es entspricht
damit allgemeiner Lebenserfahrung, dass er Eigentum in R ... zurücklassen musste und
sonstige Einbußen am Vermögen erlitt. Nachgewiesen ist zudem, dass der Kläger
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infolge der Flucht Schaden an seinem beruflichen Fortkommen erlitt, da er die bis Juni
1941 ausgeübte Tätigkeit als Verkaufshilfe sofort aufgeben musste, und er in der
anschließenden Verfolgungszeit keine adäquate Beschäftigung ausüben konnte.
Der Kläger hat aufgrund der anerkannten Versicherungszeiten auch einen Anspruch auf
Altersruhegeld gemäß § 1248 Abs. 5, Abs. 7 Satz 3 RVO.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1
SGG zugelassen.
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