Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 03.07.2008

LSG NRW: europäischer gerichtshof für menschenrechte, wirksamer rechtsbehelf, egmr, rechtsschutz, grundrecht, zivilprozessordnung, fahrkarte, gebäude, konvention, rechtskraft

Landessozialgericht NRW, L 7 B 204/08 AS
Datum:
03.07.2008
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
7. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 7 B 204/08 AS
Vorinstanz:
Sozialgericht Detmold, S 10 AS 215/07
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Untätigkeitsbeschwerden des Beschwerdeführers vom 30.05.2008
werden zurückgewiesen. Der Antrag auf Bewilligung von
Prozesskostenhilfe für die Durchführung der
Untätigkeitsbeschwerdeverfahren unter Beiordnung von Frau
Rechtsanwältin N aus N wird abgelehnt. Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
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Mit seinen am 30.05.2008 erhobenen Untätigkeitsbeschwerden richtet sich der
Antragssteller gegen eine Untätigkeit des Sozialgerichts (SG) Detmold in den Verfahren
S 10 AS 158/07, S 10 AS 215/07 sowie S 10 AS 257/07. Seine
Untätigkeitsbeschwerden haben keinen Erfolg.
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1. Einen eigenständigen Rechtsbehelf der Untätigkeitsbeschwerde gibt es nach
derzeitiger Rechtslage nicht. Denn die Untätigkeitsbeschwerde ist derzeit im Gesetz
nicht vorgesehen.
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Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung kann der Rechtsbehelf der
Untätigkeitsbeschwerde auch nicht durch richterrechtliche Rechtsfortbildung entwickelt
bzw. begründet werden. Denn dies widerspräche dem rechtsstaatlichen Erfordernis der
Messbarkeit und Vorhersehbarkeit des staatlichen Handelns (so Bundessozialgericht
(BSG), Beschluss vom 21.05.2007, B 1 AR 4/07 S, SozR 4-1500 § 160a Nr. 17 m.N.
auch zur Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs sowie des
Bundesverwaltungsgerichts).
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Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat entschieden, dass sich aus dem
Rechtsstaatsgebot das Gebot der Rechtsmittelklarheit ableitet (BVerfGE 107, 395 (416)).
Dies bedeutet, dass dem Rechtsuchenden der Weg zur Überprüfung richterlicher
Entscheidungen klar vorzuzeichnen ist. Die richterrechtliche Schaffung ungeschriebener
außerordentlicher Rechtsbehelfe widerspräche diesem Gebot (BSG a.a.O., vgl. hierzu
Söhngen in: JurisPR-SozR 22/2007, Anm. 5; dem 1. Senat des BSG folgend: BSG,
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Beschluss des 2. Senats vom 04.09.2007, B 2 U 308/06 B, SozR 4-1500 § 160a Nr. 18;
BSG, Beschluss des 7. Senats vom 28.02.2008, B 7 AL 109/07 B, Juris; BSG,
Beschluss des 6. Senats vom 06.02.2008, B 6 KA 61/07 B, Juris; vgl. ferner
Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 13.03.2008, 7 B 4/08, Juris). Das
Bundesverfassungsgericht hat mit Kammerbeschluss vom 16.01.2007 (1 BVR 2803/06,
NJW 2007, 2538) entschieden, dass es "gegen die verfassungsrechtlichen
Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit (verstößt), wenn von der Rechtsprechung
außerordentliche Rechtsbehelfe außerhalb des geschriebenen Rechts geschaffen
werden, um tatsächliche oder vermeintliche Lücken im bisherigen Rechtsschutzsystem
zu schließen".
Der EGMR geht mittlerweise davon aus, dass eine richterrechtliche begründete
außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde kein wirksamer Rechtsbehelf gegen eine
überlange Verfahrensdauer ist (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 08.06.2006 NJW
2006, S. 2389 ff.).
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2. Die Untätigkeitsbeschwerden des Beschwerdeführers wären im Übrigen - ihre
Statthaftigkeit unterstellt - auch unbegründet. Denn eine objektiv vorwerfbare Untätigkeit
des SG ist in den drei von dem Beschwerdeführer gerügten Verfahren nicht erkennbar.
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a) Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz, dass für die Verwaltungsgerichte aus
Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) und im Übrigen aus dem Rechtstaatsprinzip abgeleitet
wird, fordert die Beendigung eines Gerichtsverfahrens in angemessener Zeit (BVerfGE
60, 253 (269); 93, 1 (13)). Dies entspricht den Anforderungen aus Art. 6 Abs. 1 der
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (MRK) an
Gerichtsverfahren in einem demokratischen Rechtstaat (vgl. Europäischer Gerichtshof
für Menschenrechte (EGMR) vom 01.07.1997, NJW 1997, S. 2809 (2810)). Ob eine
Verfahrensdauer noch angemessen ist, hängt von mehreren Faktoren ab. Dies sind die
Natur des Verfahrens und die Bedeutung der Sache (vgl. BVerfGE 46, 17 (29)), die
Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer für die Beteiligten (vgl. BVerfG, Beschluss
der 1. Kammer des Ersten Senats vom 06.05.1997, NJW 1997, S. 2811 (2812)), die
Schwierigkeit der Sachmaterie, das den Beteiligten zuzurechnende Verhalten,
insbesondere Verfahrensverzögerung durch sie, sowie gerichtlich nicht zu
beeinflussende Tätigkeiten Dritter, vor allem der Sachverständigen (vgl. BVerfG,
Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20.07.2000, NJW 2001, S. 214 (215);
vgl. auch EGMR vom 27.07.2000, NJW 2001, S. 213).
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b) Vor diesem rechtlichen Hintergrund ist eine objektiv vorwerfbare Untätigkeit des SG
in den drei gerügten Verfahren nicht ersichtlich.
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Der Senat verkennt dabei nicht, dass die sozialgerichtlichen Verfahren, in denen um
Grundsicherungsleistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II)
gestritten wird, für den Beschwerdeführer von grundsätzlicher Bedeutung sind. Auf der
anderen Seite ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer in den parallel
zu diesen sozialgerichtlichen Hauptsachverfahren geführten einstweiligen
Rechtschutzverfahren bereits effektiven und schnellen Rechtsschutz erhalten hat. So
verpflichtete der erkennende Senat mit Beschluss vom 29.10.2007 (L 7 B 217/07 AS ER
und L 7 B 218/07 AS) den Grundsicherungsträger dazu, dem Antragsteller vorläufig für
die Zeit vom 05.07.2007 bis zum 30.11.2007 Leistungen der Grundsicherung für
Arbeitsuchende nach dem SGB II in Höhe der vollen Regelleistung zu gewähren. Mit
Beschluss des erkennenden Senats vom 18.06.2008 (L 7 B 174/08 AS ER) wurde der
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Grundsicherungsträger einstweilen verpflichtet, dem Antragsteller für den Zeitraum vom
01.05.2008 bis zum 31.10.2008 die Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts
vorläufig zu erbringen.
Bei der Prüfung, ob das Grundrecht des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz
verletzt wurde, ist zudem - wie dargelegt - insbesondere auch das den Beteiligten
zuzurechnende Verhalten in den Blick zu nehmen. Der Beschwerdeführer hat durch
sein eigenes prozessuales Verhalten zu einer Verzögerung der diversen
Rechtsstreitigkeiten beigetragen. Denn in dem Zeitraum ab August 2007 führte er allein
vor dem Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - neben den vorliegenden drei
Untätigkeitsbeschwerdeverfahren - 14 weitere Beschwerdeverfahren. In den
verschiedenen sozialgerichtlichen Verfahren hatte der Antragsteller zudem
Befangenheitsgesuche sowie Dienstaufsichtsbeschwerden und Anhörungsrügen
erhoben. Das Verfahren verzögert sich schon aus praktischen Gründen
(Aktenanforderung und -übersendung etc.) zwangsläufig, wenn unter voller
Ausschöpfung sämtlicher durch die Rechtsordnung bereitgestellter Rechtsbehelfe
mehrere Spruchkörper mit der Angelegenheit (zeitgleich) befasst werden. Der
Beschwerdeführer hat in den Verfahren vor dem SG ferner eine Vielzahl von
Schriftsätzen und Eingaben (per E-Mail) eingereicht, die auch aufgrund des sich zum
Teil wiederholenden Inhalts eine zügige Bearbeitung des Rechtsstreits nicht gefördert
haben. Der Beschwerdeführer ist zudem bislang in keinem Fall der Anordnung des
persönlichen Erscheinen nachgekommen, so dass die Erörterungstermine, die sowohl
das SG als auch der erkennende Senat (in dem Verfahren L 7 B 174/08 AS ER, dort im
Gebäude des SG Detmold) anberaumt hatten, in der Sache nicht zu der beabsichtigten
Aufklärung des Sachverhalts beitragen konnten. Hierbei ist dem Beschwerdeführer
insbesondere angeboten worden, ihm die für die Wahrnehmung der Erörterungstermine
erforderliche Fahrkarte für die Benutzung öffentlicher Verkehrmittel vorab zu
übersenden.
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Entgegen der Rechtsauffassung des Beschwerdeführers ist der Sachverhalt schließlich,
soweit es die hier gerügten sozialgerichtlichen Hauptsacheverfahren betrifft, derzeit
noch nicht abschließend geklärt. Dies betrifft insbesondere - jedenfalls für die
Vergangenheit - die Hilfebedürftigkeit des Antragstellers (§ 9 SGB II).
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3. Da die Rechtsverfolgung des Beschwerdeführers aus den dargestellten Gründen
keine Aussicht auf Erfolg hat, war sein Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe
abzulehnen (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) ).
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4. Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
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5. Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht angreifbar (§ 177 SGG).
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