Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 10.12.2009

LSG NRW (haus, hilfsmittel, ärztliche verordnung, vergütung, kläger, pacta sunt servanda, abgabe von hilfsmitteln, notwendigkeit, pauschale, abgabe)

Landessozialgericht NRW, L 16 KR 155/08
Datum:
10.12.2009
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
16. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 16 KR 155/08
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 44 KR 170/06
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Berufungen der Kläger wird das Urteil des Sozialgerichts
Dortmund vom 19. August 2008 geändert. Es wird festgestellt, dass die
Mitglieder der Klägerin zu 1) für die Zeit vom 01.01.2005 bis zum
30.06.2009 berechtigt waren, zusätzliche Pauschalen gemäß § 5 Absatz
9 des Landesvertrages vom 10.11.1993 für Haus- oder
Krankenhausbesuche auch bei der Versorgung mit Hilfsmitteln der
Produktgruppen 08 (Einlagen), 17 (Hilfsmittel zur Kompressionstherapie)
und 29 (Hilfsmittel zur Stomaversorgung) abzurechnen, auch soweit für
diese Hilfsmittel Festbeträge nach § 36 Fünftes Buch des
Sozialgesetzbuchs festgesetzt waren. Die Beklagte wird verurteilt, dem
Kläger zu 2) 130,10 Euro nebst Zinsen in Höhe von acht Prozentpunkten
über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank ab dem 10. Juli
2006 zu zahlen. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits erster
und zweiter Instanz. Die Revision wird nicht zugelassen. Der Streitwert
wird sowohl für das erstinstanzliche Verfahren als auch für das
Berufungsverfahren bezüglich des Feststellungsanspruches der
Klägerin zu 1) auf 50.000,- Euro und bezüglich des Leistungsanspruchs
des Klägers zu 2) auf 130,10 Euro festgesetzt.
Tatbestand:
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Streitig ist, ob die beklagte Krankenkasse vertraglich verpflichtet war, zusätzlich zum
Festbetrag für Hilfsmittel (insbesondere Kompressionsstrümpfe) eine Pauschale für
nach ärztlicher Verordnung durchgeführte Haus- oder Krankenhausbesuche zu zahlen.
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Die Klägerin zu 1) ist eine Innung für Orthopädie-Technik im Lande Nordrhein-
Westfalen, der Kläger zu 2) ein zugelassener Leistungserbringer (Hilfsmittellieferant)
und Mitglied der Klägerin zu 1).
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Zwischen den fünf Innungen für Orthopädie-Technik des Landes Nordrhein-Westfalen
und (u.a.) dem AOK-Landesverband Westfalen-Lippe wurde unter dem 10.11.1993 ein
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Vertrag gemäß § 127 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch ((SGB V); in der Fassung des
Gesetzes vom 21.12.1992, BGBl. I S. 2266) geschlossen, der insbesondere die
Abrechnung und Vergütung der Herstellung, Abgabe und Anpassung von
Körpersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfs- und Verbandsmitteln zum
Gegenstand hatte (im Folgenden: Landesvertrag).
Dieser Landesvertrag, der mit Wirkung vom 01.07.2009 durch einen neuen Vertrag
ersetzt worden ist, enthielt insbesondere folgende Regelungen:
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§ 4 (Art und Umfang der Leistungen) regelte in seinem Abs 1 Satz 1:
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"Art und Umfang der Leistungen im Sinne dieses Vertrages richten sich nach den
gültigen Festbetragsregelungen gemäß § 36 Abs. 2 SGB V sowie nach den
Leistungsbeschreibungen der Vereinbarungen über Höchstpreise (Anlagen 3, 4 und 5)."
7
§ 5 Abs. 9 (Abgabe der Leistungen) des Vertrages lautete:
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"Haus- bzw. Krankenhausbesuche sind unverzüglich durchzuführen, sofern der
Vertrags- bzw. Krankenhausarzt die Notwendigkeit bescheinigt. Die Vergütungen
richten sich nach den in den Anlagen getroffenen Regelungen. Bei Verordnungen durch
einen Krankenhausarzt wird die Notwendigkeit des Krankenhausbesuches unterstellt,
sofern die Versorgung keinen Aufschub duldet".
9
In § 6 Abs. 1 (Vergütung der Leistung) dieses Vertrages hieß es:
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"Sofern Festbeträge nach § 36 Abs. 2 SGB V festgesetzt sind und der Preis des
Leistungserbringers dem anzusetzenden Festbetrag entspricht oder ihn übersteigt,
richtet sich die Vergütung nach den Festbeträgen. Werden die Festbeträge aufgrund
einer Vereinbarung unterschritten, richtet sich die Vergütung in diesem Fall nach den
vereinbarten niedrigeren Beträgen".
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§ 6 Abs. 2 des Vertrages lautete:
12
"Sind Festbeträge nicht festgesetzt, richtet sich die Vergütung der Vertragsleistungen
nach den jeweils vereinbarten Höchstpreisen nach Anlagen 3, 4 und 5. Diese Preise
sind Höchstpreise im Sinne des § 127 Abs. 2 SGB V".
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In Anlage 3 ("Vereinbarung über Höchstpreise für Bandagen und orthopädische
Hilfsmittel") wurde auf die Benennungs- und Preisliste für Bandagen und orthopädische
Hilfsmittel für Nordrhein-Westfalen in der jeweils gültigen Fassung Bezug genommen.
Im Jahre 2005 regelte die Benennungs- und Preisliste unter der Überschrift "Haus- oder
Krankenhausbesuchspauschale", dass die entsprechenden Pauschalen in Rechnung
gestellt werden konnten, sofern vom Vertragsarzt oder Krankenhausarzt die
Notwendigkeit eines Haus- oder Krankenhausbesuches durch den Leistungserbringer
verordnet worden war. Die Besuchspauschale belief sich seinerzeit auf 26,02 Euro.
14
Zum 01.01.2005 wurden auf der Grundlage von § 36 SGB V Festbeträge für Hilfsmittel
bundesweit festgesetzt, so u.a. erstmals für Kompressionsstrümpfe (vgl.
Bekanntmachung der Spitzenverbände der Krankenkassen über die Festsetzung von
bundesweiten Festbeträgen für (u.a.) Kompressionshilfen vom 01.12.2004). Seitdem
vertritt die Beklagte die Auffassung, es könne im Zusammenhang mit der Vergütung für
15
die Versorgung mit Kompressionsstrümpfen nicht mehr auf Anlage 3 bzw. auf die
entsprechende Benennungs- und Preisliste zur Abrechnung von Pauschalen
zurückgegrifffen werden. Diese Preisvereinbarung sei auf festbetragsgeregelte
Hilfsmittel nicht anzuwenden. Am 22.06.2006 haben die Kläger Klage zum Sozialgericht
Dortmund (SG) erhoben. Sie haben vorgetragen, dass die Aufwandsentschädigung für
Haus- und Krankenhausbesuche nicht in den Festbeträgen enthalten sei. Das
entspreche z.B. auch der Auffassung des IKK-Bundesverbandes. Ohnehin hätten
Festbeträge lediglich Bedeutung zwischen Krankenkassen und Versicherten. Der
Kläger zu 2) hat mit seiner Klage in fünf Einzelfällen von Versicherten der Beklagten, in
denen die Versorgung mit Kompressionsstrümpfen im November 2005 erfolgt war,
jeweils eine Haus- oder Krankenhausbesuchspauschale geltend gemacht. Die Beklagte
hat im Wesentlichen vorgebracht, mit der bundesweit einheitlichen Regelung in Gestalt
der Festbetragsfestsetzung sei ein einheitlicher Preis für die entsprechende
Hilfsmittelversorgung hergestellt worden. Daraus folge, dass nunmehr nicht nur keine
höheren Preise mehr für die Hilfsmittel bzw. Kompressionsstrümpfe von den
Krankenkassen zu bezahlen seien, sondern auch keine Zusatzleistungen mehr. Dies
ergebe sich zweifelsfrei auch aus der Bekanntmachung der Festbeträge selbst. Dort
heiße es u.a.: "Mit dem Festbetrag sind sämtliche Kosten, die im Zusammenhang mit
der Abgabe der Produkte für die phlebologische Versorgung entstehen (z.B. die
Materialkosten, das Maßnehmen, die Einweisung in die Handhabung der Produkte und
andere Dienstleistungen), abgegolten." Dass es sich andererseits bei den ehemaligen
Besuchs- und Wegepauschalen nur um Zuschläge und nicht um eigenständige
Leistungen gehandelt habe, ergebe sich aus der Benennungs- und Preisliste selbst, in
der die entsprechenden Positionen mit folgendem Sternchenvermerk versehen seien: "-
Die nach den Verträgen nach § 127 SGB V gesondert abrechnungsfähigen Preise für
Hausbesuche und Wegegeld werden dem Preis für das Hilfsmittel zugeschlagen. Die
Zuzahlung wird aus dem Gesamtbetrag ermittelt". Hilfsweise führt sie zum Anspruch des
Klägers zu 2) aus, selbst wenn die Festbetragsfestsetzung nicht zu der
vergütungsrechtlichen Folge des Wegfalls der Haus- oder Kranken-
hausbesuchspauschale geführt hätte, bestünde in zwei der zur Entscheidung gestellten
Fällen kein Anspruch auf die Pauschale, weil die ärztlichen Verordnungen zwar die
Notwendigkeit der Kompressionsstrumpfversorgung erkennen ließen, nicht jedoch das
Erfordernis eines Krankenhausbesuches.
Das SG hat die Klagen mit Urteil vom 19.08.2008 abgewiesen. Zur Begründung hat es
im Wesentlichen ausgeführt:
16
Die Feststellungsklage der Klägerin zu 1) sei zulässig, aber nicht begründet.
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Die Mitglieder der Klägerin zu 1) seien seit 01.01.2005 nicht mehr berechtigt, im
Rahmen der Kompressionsstrumpfversorgung zusätzlich Haus- oder
Krankenhausbesuchs-pauschalen abzurechnen. Mit der Änderung der Zuordnung durch
die bundesweit erfolgte Festbetragsfestsetzung für Kompressionsstrümpfe ab
01.01.2005 unterfalle die Vergütung für Kompressionsstrümpfe nicht mehr § 6 Abs. 2
des entsprechenden Landesvertrages, sondern ab 01.01.2005 § 6 Abs. 1 dieses
Vertrages. Infolgedessen sei die in Anlage 3 zum Landesvertrag getroffene
Vergütungsregelung gemäß § 6 Abs. 2 des entsprechenden Landesvertrages nicht mehr
einschlägig. Vielmehr sei seit dem 01.01.2005 ausschließlich § 6 Abs. 1 des
entsprechenden Landesvertrages maßgeblich. Nach dieser Regelung existiere
allerdings keine Zusatzvergütungsmöglichkeit im Sinne der Anlage 3 zum
entsprechenden Landesvertrag. Nach alledem sei der Klägerin zu 1) zwar zuzugeben,
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daß die Haus- und Krankenhausbesuchspauschalen nicht bei den Festbeträgen
berücksichtigt worden seien, dies sei allerdings nach dem landesvertraglichen
Regelungswerk unerheblich. Die Klage zu 2) sei als echte Leistungsklage i.S.v. § 54
Abs. 5 SGG zulässig, aber unbegründet. Anspruch auf die streitige Vergütung von Haus-
oder Krankenhausbesuchspauschalen bestehe nach dem oben Gesagten schlechthin
nicht. Gegen das am 04.09.2008 zugestellte Urteil haben die Kläger am 29.09.2008
Berufung eingelegt. Zur Begründung wiederholen und vertiefen sie ihr erstinstanzliches
Vorbringen. Die Vergütungspauschale für Haus- und Krankenhausbesuche sei nicht in
§ 6 Abs. 1 oder Abs. 2 des Vertrages, sondern in dessen § 5 Abs. 9 geregelt. Die
Regelung in § 6 Abs. 1 des Vertrages könne nur so verstanden werden, dass es um die
Kosten des Hilfsmittels gehe, welches im Geschäft des Hilfsmittelerbringers, also im
Sanitätshaus, abgeholt werde. Dem entsprechend hätten die Spitzenverbände auch
mitgeteilt, dass bei der Festbetragsfestsetzung keinerlei Kalkulation für Fahrtkosten
pauschal in Rechnung und in Kalkulation gestellt worden sei. Zu den von den
Festbeträgen erfassten Kosten, die im Zusammenhang mit der Abgabe der Produkte
entstünden (z.B. die Materialkosten, das Maßnehmen, die Einweisung in der
Handhabung der Produkte und andere Dienstleistungen) gehörten Hausbesuche nicht,
weil diese nicht typischerweise mit der Abgabe von Hilfsmitteln im Zusammenhang
stünden, sondern nur in seltenen Fällen zur Abrechnung gelangten, wenn die
besonderen, nach dem Vertrag zu fordernden Voraussetzungen vorliegen, nämlich eine
ärztliche Verordnung oder eine Notwendigkeitsbescheinigung aus dem Krankenhaus.
Es seien also nach § 6 Abs. 1 des Vertrages die Festbeträge für das Hilfsmittel
abzurechnen und die Hausbesuche nach § 5 Abs. 9 als eigenständige Leistungen zu
vergüten und demgemäß mit der jeweiligen Pauschale abzurechnen.
Da der abgeschlossene Vertrag durch die gesetzlichen Vorschriften weder geändert
noch modifiziert worden sei, sei er bis zu 30.06.2009 gültig geblieben; er sei auch von
allen andern beteiligten Krankenkassen mit Ausnahme der AOK Rheinland/Hamburg
noch so angewandt worden, wie er abgeschlossen worden sei.
19
Der Kläger zu 2) ergänzt: Die Notwendigkeit des Hausbesuchs beziehungsweise des
Krankenhausbesuchs sei in allen von ihm zur Entscheidung gestellten Fällen nach-
gewiesen, denn die drei Hausbesuche seien von dem jeweiligen Vertragsarzt gefordert
worden und die Notwendigkeit der beiden Krankenhausbesuche werde nach der
vertraglichen Vereinbarung wegen der Verordnung durch einen Krankenhausarzt
unterstellt. Im Vertragsbereich Westfalen-Lippe sei auch niemals die Forderung erhoben
worden, über die Verordnung hinaus noch weitere Notwendigkeitsbescheinigungen
auszustellen.
20
Die Klägerin zu 1) beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 19.08.2008 aufzuheben und festzustellen,
dass die Mitglieder der Klägerin für die Zeit vom 01.01.2005 bis 30.06.2009 berechtigt
waren, vertraglich vereinbarte zusätzliche Pauschalen für Haus- oder
Krankenhausbesuche auch bei der Versorgung mit Hilfsmitteln der Produktgruppen 08,
17 und 29 abzurechnen, für die ein Festbetrag nach 36 SGB V festgesetzt war.
22
Der Kläger zu 2) beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 19.08.2008 ebenfalls aufzuheben und die
Beklagte zur Zahlung von 130,10 Euro nebst Zinsen in Höhe von 8 % Prozentpunkten
24
über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank ab dem 10.07.2006 zu
verurteilen.
Die Beklagte beantragt,
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die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 19.08.2008
zurückzuweisen.
26
Sie meint, neben der Festbetragsregelung für das Hilfsmittel seien keine weiteren
vertraglichen Regelungen anzuwenden. Für die Zeit bis zum 31.07.2007 sei insofern auf
die eindeutigen Regelungen in § 33 Abs. 2 Satz 1 und 2 sowie auf § 127 Abs. 1 Satz 1
SGB V hinzuweisen. Danach habe es entweder vertragliche Regeln oder eben die
Festpreise gegeben, aber jedenfalls nicht Festpreise zuzüglich irgendwelcher
vertraglicher Regelungen. Mit dem 01.04.2007 sei § 127 SGB V geändert worden.
Seitdem seien in ihrem Vertragsbereich aber keine danach womöglich zulässigen
Verträge geschlossen worden, so dass sich im Ergebnis an der vorherigen Situation
nichts geändert habe.
27
Der Senat hat mit Beschluss vom 29.10.2008 die Berufung des Klägers zu 2)
zugelassen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten der Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Streitakten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen
ist.
29
Entscheidungsgründe:
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Die Berufungen sind zulässig und begründet.
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(1) Die Feststellungklage der Klägerin zu 1) ist zulässig. Die Klägerin zu 1) ist insbeson-
dere berechtigt, die Interessen ihrer Mitglieder auch im gerichtlichen Verfahren in
Prozeß-standschaft zu verfolgen (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 24.11.2004
- B 3 KR 16/03 R). Berechtigtes Interesse an der beantragten Feststellung (§ 55 Abs. 1
Sozialgerichtsgesetz (SGG)) besteht wegen der unsicheren Rechtslage und weil durch
sie die entscheidende Vorfrage für individuelle Ansprüche der Mitglieder der Klägerin zu
1) geklärt wird. Auch enthält der Landesvertrag vom 11.10.1993 in seinem § 13 keine
Regelung, nach der bei Meinungsverschiedenheiten vor Anrufung des Gerichts
zunächst zwingend ein Güte- oder Schlichtungsverfahren durchzuführen wäre, was die
Klage u.U. hätte unzulässig sein lassen können (vgl. dazu z.B. Bundesgerichtshof, NJW
1999, 647 f.). Dass die mögliche Anrufung des Vertragsausschusses nach § 13 Abs. 3
Satz 3 des Landesvertrages sinnvoll gewesen wäre, steht der Zulässigkeit der Klage
nicht entgegen.
32
Die Klage ist auch begründet. Die Mitglieder der Klägerin zu 1) sind im streitigen
Zeitraum vom 01.01.2005 bis zum 30.06.2009 berechtigt gewesen, für von ihnen
entsprechend ärztlicher Verordnung durchgeführte Haus- oder Krankenhausbesuche
zusätzliche Pauschalen auch insoweit abzurechnen, als für die von ihnen gelieferten
Hilfsmittel, namentlich die im Vordergrund stehenden Kompressionsstrümpfe,
Festbeträge nach § 36 SGB V festgesetzt waren.
33
Allerdings entspricht es im Grundsatz Sinn und Zweck der Festbeträge, dass diese nicht
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nur die sächlichen Mittel, sondern auch die mit der Leistungserbringung verbundenen
Dienstleistungen umfassen (vgl. z.B. BSG, Vorlagebeschluss vom 14.06.1995 - 3 RK
23/94 in: Urteilssammlung für die gesetzliche Krankenversicherung (USK) 95167). So
verweist die Beklagte zutreffend darauf, dass nach der Bekanntmachung der
Festbeträge mit dem Festbetrag sämtliche Kosten, die im Zusammenhang mit der
Abgabe der Produkte für die phlebologische Versorgung entstehen, wie zum Beispiel
Materialkosten, das Maßnehmen, die Einweisung in die Handhabung der Produkte und
andere Dienstleistungen, abgegolten sein sollen. Ob allerdings das Gesetz in §§ 127,
33 SGB V nicht nur die denknotwendig, regelmäßig oder typischerweise mit der
Hilfsmittelgewährung verbundenen Leistungen (vor allem Maßnehmen, Anpassung und
Gebrauchseinweisung), sondern in Ausnahmefällen auch die zusätzlich zum Hilfsmittel
ärztlich zu verordnenden Leistungen wie die hier in Rede stehenden Haus- und
Krankenhausbesuche zu den mit dem Festbetrag abgegoltenen Dienstleitungen
rechnen, ist bereits durchaus zweifelhaft. Diese Frage kann hier indes dahin stehen.
Denn es geht in diesem Verfahren ebenso wenig darum, ob die
Festbetragsfestsetzungen rechtswidrig sind, weil sie Kosten für Haus- und
Krankenhausbesuche nicht berücksichtigen, wie in anderen Verfahren geltend gemacht
wurde und wird (vgl. BSG - B 3 KR 35/05 B- , Beschluss vom 28.12.2005 (zu
orthopädischen Einlagen); SG Berlin, Urteil vom 01.08.2007 - S 112 KR 244/07 -
(www.juris.de., u.a. zur Kompressionstherapie)), wie um die von der Beklagten
aufgeworfene Frage, ob nach den jüngeren Fassungen des § 127 SGB V vertragliche
Vereinbarung über Pauschalen für Haus- und Krankenhausbesuche neben
Festbeträgen getroffen werden könnten. Gegenstand des Verfahren ist hier vielmehr
lediglich die Auslegung des erst zum 01.07.2009 abgelösten Landesvertrages vom
10.11.1993. Dieser war für die Beteiligten bis dahin aber auch dann bindend, wenn
Gesetzesänderungen seine Anpassung erforderlich gemacht hätten ("pacta sunt
servanda", vgl. Becker/Kingreen, SGB V, § 127 Rz 31; siehe i.Ü. auch die Gemeinsame
Verlautbarung der Spitzenverbände der Krankenkassen zur Umsetzung des Gesetzes
zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung im Hilfsmittelbereich vom
25.11.2003, Punkt 6.1, wonach die Verträge "ggf. an das neue Recht anzupassen
seien").
Dieser Landesvertrag vom 10.11.1993 begründete in seinem § 5 Abs. 9 Satz 2 das
Recht der Mitglieder der Klägterin zu 1), unter bestimmten Voraussetzungen von der
Beklagten neben dem Festbetrag für Hilfsmittel auch eine bestimmte Pauschale für
Haus- oder Krankenhausbesuche zu fordern. Das ergibt die Auslegung des
Landesvertrages.
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Nur scheinbar spricht § 6 des Landesvertrages gegen eine Berechtigung zur
Geltendmachung einer Pauschale für Haus- oder Krankenhausbesuche in den Fällen,
in denen für das Hilfsmittel Festbeträge nach § 36 SGB V festgesetzt sind. Richtig ist
allerdings, das man über § 6 des Vertrages, der nach seiner Überschrift die "Vergütung
der Leistung" regelt, nicht zur Anwendung der Anlage 3 und damit auch nicht zu einer
Vergütung der Haus- oder Krankenhausbesuche gelangen kann. Denn § 6 Abs. 2 des
Landesvertrages, der hinsichtlich der Vergütung der Vertragsleistungen auf die
Höchstpreise der Anlagen 3, 4 und 5 verweist, greift nicht ein, weil für die hier
betroffenen Hilfsmittel im streitigen Zeitraum Festbeträge festgesetzt waren und der
infolge der Festpreisfestsetzung einschlägige § 6 Abs. 1 des Landesvertrages lediglich
auf die Festbeträge, nicht aber auf irgendwelche (zusätzliche) Pauschalen verweist. Aus
der Tatsache, dass für die hier betroffenen Hilfsmittelfestbeträge im streitigen Zeitraum
Festbeträge festgesetzt waren, folgt gleichwohl nicht, dass ausschließlich die für das
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Hilfsmittel selbst festgesetzten Festbeträge als Vergütung in Betracht kommen.
Entscheidend ist zur Überzegung des Senat insoweit, dass der Landesvertrag in seinem
§ 5 Abs. 9 Satz 2 eine Regelung über Kosten für Haus- und Krankenhausbesuche
enthält, die in systematischer Hinsicht von der eigentlichen Kostenregelung für das
Hilfsmittel selbst (§ 6) und der dortigen Differenzierung danach, ob ein Festbetrag für
das jeweilige Hilfsmittel festgesetzt ist, abgekoppelt ist und zudem alle
Voraussetzungen für den Vergütungsanspruch unmittelbar regelt und lediglich
hinsichtlich der Vergütungshöhe über die Anlage 3 auf die jeweilige Benennungs- und
Preisliste verweist.
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§ 5 des Landesvertrages ist überschrieben "Abgabe der Leistungen" und regelt im
Wesentlichen auch nur das Nähere über die Abgabe der Leistungen, ohne Vergütungs-
regelungen zu treffen, deren Sitz § 6 sein sollte. § 5 macht jedoch in seinem Abs. 9
davon eine Ausnahme. In seinem Satz 1 begründet er die Verpflichtung, Haus- bzw.
Krankenhausbesuche unverzüglich durchzuführen, sofern der Vertrags-
beziehungsweise Krankenhausarzt die Notwendigkeit bescheinigt. Diese ausdrückliche
Verpflichtung zur Durchführung von Haus- bzw. Krankenhausbesuchen gibt diesen
Leistungen bereits eine von den üblichen, mit der Abgabe eines Hilfsmittels
verbundenen (und zweifellos mit dem Festbetrag abgegoltenen) Nebenleistungen - wie
zum Beispiel dem Maßnehmen und der Anpassung - herausgehobene Stellung. Vor
allem aber spricht § 5 Abs. 9 Satz 2 ausdrücklich die Vergütung dieser Haus- bzw.
Krankenhausbesuche an und verweist unmittelbar und unabhängig von den
Vergütungsregelungen des § 6 auf die in den Anlagen getroffenen Regelungen. Damit
haben die Parteien des Landesvertrages vom 10.11.1993 eine Vergütungsregelung für
Haus- bzw. Krankenhausbesuche getroffen, die vertragssystematisch neben der
Vergütungsregelung des § 6 steht und deren Differenzierung nach Festbetrags- oder
Höchstpreishilfsmitteln nicht übernommen hat.
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Weil § 5 Abs. 9 des Landesvertrages alle Voraussetzungen des Anspruchs auf die
Pauschale selbst regelt (Durchführung des Hausbesuchs; dessen durch entsprechende
ärztliche Verordnung bescheinigte medizinische Notwendigkeit), ist die dortige
Verweisung auf die Anlagen nicht als Rechtsgrundverweisung zu verstehen, welche die
Prüfung weiterer Voraussetzungen der auf Höchstbetragsregelungen ausgerichteten
Anlagen erfordern würde. Vielmehr bezieht sich die Verweisung im Ergebnis lediglich
wegen der Höhe der Pauschalen auf die jeweils aktuelle Benennungs- und Preisliste,
die unter den Positionen 99.00.00.001 und 99.00.00.0002 dort Preise für Haus- bzw
Krankenhaus-besuche festgelegt.
39
Diese Auslegung des Landesvertrages entspricht i.Ü., wie in der mündlichen
Verhandlung vor dem Senat herausgestellt worden ist, zumindest im Ergebnis seiner
Handhabung durch die anderen am Vertrag beteiligten Krankenkassen mit Ausnahme
der AOK Rheinland/Hamburg.
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(2) Die Klage des Klägers zu 2) ist als so genannte echte Leistungsklage gemäß § 54
Abs. 5 SGG zulässig, da es sich um einen Parteienstreit im Gleichordnungsverhältnis
handelt, bei dem Regelungen durch Verwaltungsakt nicht zu treffen sind.
41
Die Leistungsklage auf Zahlung von insgesamt 130,10 Euro ist auch begründet. Der
Kläger zu 2) hat für die in den streitgegenständlichen fünf Fällen durchgeführten Haus-
und Krankenhausbesuche Anspruch auf eine Pauschale von jeweils 26,02 Euro.
42
Rechtsgrundlage für das Zahlungsverlangen des Klägers ist § 5 Abs. 9 des
Landesvertrages, der, wie oben ausgeführt, auch bei Leistung von Hilfsmitteln eingreift,
für die ein Festbetrag festgesetzt ist. Die in § 5 Abs. 9 des Landesvertrages bestimmten
Voraussetzungen für die Geltendmachung der Pauschale sind in allen fünf Fällen erfüllt.
43
Das liegt in den drei Fällen, in denen der Kläger zu 2) auf entsprechende Verordnung
des niedergelassenen Vertragsarztes Hausbesuche durchgeführt hat, auf der Hand und
ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig. Aber auch in den beiden Fällen, in denen
die Pauschale für Krankenhausbesuche verlangt wird, sind die Voraussetzungen des §
5 Abs. 9 des Landesvertrages gegeben. Die Notwendigkeit der Krankenhausbesuche
des Klägers zu 2) wird zwar nicht auf den beiden vom Chefarzt des St. W-
Krankenhauses N ausgestellten Verordnungen für "Kompressionsstrümpfe der Klasse II
mit Halterung" festgestellt, bei Verordnungen durch einen Krankenhausarzt wird nach §
5 Abs. 9 Satz 3 des Landesvertrages die Notwendigkeit des Krankenhausbesuches
jedoch unterstellt, sofern die Versorgung keinen Aufschub duldet. Da die Beklagte
nichts dazu vorgetragen hat, dass in den konkreten Einzelfällen die Versorgung trotz
krankenhausärztlicher Verordnung ausnahmsweise Aufschub geduldet hätte, ist hier mit
der Verordnung des Hilfsmittels die Notwendigkeit der beiden Krankenhausbesuche zu
unterstellen. Da die Pauschale im Zeitpunkt der Leistungserbringung durch den Kläger
zu 2) jeweils 26,02 Euro betrug, beläuft sich sein Anspruch aus den zur Entscheidung
des Senats gestellten fünf Besuchsfällen auf insgesamt 130,10 Euro.
44
Der Zinsanspruch des Klägers zu 2) ergibt sich aus dem Verweis in § 69 Abs. 1 Satz 3
SGB V auf § 288 Abs. 2 BGB (vgl. BSG, 19.4.2007- B 3 KR 10/06 R -, USK 2007 - 48).
45
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) i.V.m. § 159 S. 1 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 2
Zivilprozessordnung (ZPO).
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Die Streitwertfestsetzung nach §§ 197a SGG, 63 GKG wegen der Klage zu 1) fußt auf
den Ermittlungen des Senats zum wirtschaftlichen Wert des Klagegegenstandes; der
Streitwert der Klage zu 2) entspricht der Klageforderung.
47
Die Revision war nicht zuzulassen, weil streitenscheidend nicht die Auslegung von
Bundesrecht, sondern die des sich nicht über das Land Nordrhein-Westfalen hinaus
erstreckenden Landesvertrages vom 10.11.1993 war, der irrevisibles Recht i.S. von §
162 SGG darstellt (vgl. BSG, Urteil vom 07.12.2006 - B 3 KR 29/05 R = Sozialrecht
(SozR) 4-2500 § 33 Nr. 14).
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