Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 16.08.2000

LSG NRW: diabetes mellitus, betroffene person, trauma, versorgung, icd, anerkennung, ausgabe, wahrscheinlichkeit, hilflosigkeit, verwaltungsverfahren

Landessozialgericht NRW, L 10 V 6/98
Datum:
16.08.2000
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
10. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 10 V 6/98
Vorinstanz:
Sozialgericht Detmold, S 13 (19) V 51/92
Sachgebiet:
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts
Detmold vom 19.11.1997 abgeändert. Der Beklagte wird unter
Aufhebung des Bescheides vom 20.03.1990 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 28.07.1992 verurteilt, die Bescheide vom
10.02.1954 und 26.04.1954 zurückzunehmen und dem Kläger unter
Anerkennung einer chronischen posttraumatischen Belastungsstörung
ab Januar 1986 Versorgung nach einer MdE um 40 v.H. zu gewähren.
Der Beklagte trägt 3/4 der erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten
des Klägers in beiden Rechtszügen. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten um die Anerkennung von Schädigungsfolgen und die
Gewährung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
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Der 1923 geborene Kläger absolvierte nach Besuch der Volksschule (1929 - 1937) im
Betrieb seines Vaters eine Tischlerlehre (1937 - 1940) und war dort anschließend bis zu
seiner Einziehung zum Reichsarbeitsdienst (RAD) im August 1941 als Geselle tätig.
Aus dem RAD wurde er im Mai 1942 entlassen; sein wegen einer
Arbeitsdienstbeschädigung (Belastungsbeschwerden in den Beinen bzw. Folgen einer
Venenentzündung) gestellter Antrag auf Fürsorge und Versorgung blieb ohne Erfolg
(Bescheide vom 12.10. und 02.12.1942). Am 01.04.1943 wurde der Kläger zur
Wehrmacht eingezogen; im April 1945 geriet er in russische Gefangenschaft, aus der er
am 22.12.1947 entlassen wurde. Wegen des auf den militärischen Dienst
zurückzuführenden Gesundheitsschadens "Dystrophie" gewährte ihm die
Landesversicherungsanstalt (LVA) Westfalen Heilbehandlung (Bescheid vom
23.03.1948).
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1952 beantragte der Kläger Versorgung nach dem BVG mit der von seinem Hausarzt Dr.
R ... gestützten Begründung, dass ein 1952 festgestellter Diabetes mellitus auf die
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kriegsbedingte Dystrophie zurückzuführen sei. Nach Einholung eines Gutachtens lehnte
der Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 10.02.1954 und Widerspruchsbescheid vom
26.04.1954 mit der Begründung ab, dass kein ursächlicher Zusammenhang zwischen
der Zuckerkrankheit und dem Wehrdienst oder der Gefangenschaft bestehe. Auch im
nachfolgenden Rechtsstreit hatte der Kläger mit seinem Begehren keinen Erfolg (Urteil
des Sozialgerichts (SG) Detmold vom 25.02.1957, II. KB 2979/54).
Im Januar 1990 beantragte er insbesondere unter Hinweis auf seine Belastungen
während der Kriegsgefangenschaft erneut Versorgung. Der Beklagte lehnte den Antrag
mit auf § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) gestütztem Bescheid vom
20.03.1990 und Widerspruchsbescheid vom 28.07.1992 mit der Begründung ab, dass
ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Auftreten der insulinpflichtigen
Zuckerstoffwechselstörung und den besonderen Einflüssen, insbesondere während der
Kriegsgefangenschaft, nicht wahrscheinlich sei.
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Mit seiner Klage vom 01.09.1992 hat der Kläger vorgetragen, seit seiner Entlassung aus
der Kriegsgefangenschaft habe er keinen Tritt mehr gefasst. Er habe seinen Beruf nicht
mehr ausüben können und nur sporadisch im elterlichen Betrieb mitgearbeitet. Sein
Hausarzt Dr. R ... habe schon in dem Rentenverfahren vor dem SG Detmold - S 7(16) J
32/91 - bestätigt, dass er nach dem Kriege unter schubweise auftretenden fieberhaften
Erkrankungen und Phobien gelitten habe und psychisch sehr alterniert gewesen sei.
Die Erlebnisse im Krieg und in der Kriegsgefangenschaft hätten ihn nicht nur physisch
sondern auch psychisch zerstört. Noch heute drehe sich sein ganzes Denken um die
damaligen Ereignisse. Von den Kriegsereignissen werde er noch immer so geplagt,
dass er dauernd den Verwandten davon erzähle. Er werde mitten in der Nacht wach,
weil er Alpträume habe. Während der Gefangenschaft seien sie ständig geschlagen
worden und hätten Nichts zu essen und zu trinken bekommen. Das ganze erste Jahr
habe er auch im Winter bei -40° draußen stehen bleiben müssen. Die Gefangenen
hätten sich dann immer zu größeren Gruppen zusammengestellt; die in der Mitte seien
einigermaßen warm geworden, während die am äußeren Rand an der Kälte gestorben
seien. Das ganze Lager habe ca. 3.000 Insassen gehabt und sei praktisch jedes Jahr
neu aufgefüllt worden, weil fast alle starben. Mit anderen habe er die Leichen dann
selbst zur Abraumhalde bringen und dort mit Schlacke bedecken müssen. Er habe
Probleme mit dem Gehen und deshalb besondere Angst gehabt, dass es ihn im Lager
auch erwischen würde. Kameraden hätten ihn über längere Zeit immer mit ins Bergwerk
getragen, um zu verhindern, dass er totgeschlagen werde. Den Krieg habe er nur
überlebt, weil er Sanitätssoldat gewesen sei. Als solcher habe er sehr viele Tote
gesehen. Er habe als Sanitätssoldat an Hinrichtungen teilnehmen müssen; er habe die
Delinquenten betreut. Viele hätten vor der Erschießung noch die Namen und
Anschriften von Verwandten gesagt und um deren Benachrichtigung gebeten. Dies sei
jedoch nicht möglich gewesen, weil er Nichts habe aufschreiben dürfen. Dies habe ihn
sehr belastet. Die durch die Extrembelastung bedingte Persönlichkeitsveränderung sei
nicht erkannt worden. Die psychische Seite sei wegen seiner einseitigen Festlegung,
dass die Zuckerkrankheit für seine Probleme verantwortlich sei, nie richtig aufgeklärt
worden.
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Der Kläger hat beantragt,
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den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 20.03.1990 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 28.07.1992 zu verurteilen, unter entsprechender
Aufhebung des Bescheides vom 10.02.1954 als Schädigungsfolge einen
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"Persönlichkeitswandel durch Extrembelastung" anzuerkennen und
Versorgungsleistungen nach einer MdE um 60 gemäß den gesetzlichen Bestimmungen
zu gewähren.
Der Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er hat die Auffassung vertreten, dass die vorhandene Persönlichkeitsstörung nicht auf
den Kriegsdienst zurückgeführt werden könne. Von Bedeutung sei insoweit, dass
psychische Probleme während der Untersuchungen nach dem Krieg nicht festgestellt
worden seien; es habe auch keine nervenärztliche Behandlung stattgefunden. Die
spätere Leistungsbeeinträchtigung des Klägers sei im Wesentlichen auf den Diabetes
mellitus zurückzuführen. Es bestünden auch keine typischerweise für einen
Persönlichkeitswandel sprechenden Auffälligkeiten. Eine Angstsymptomatik, ein
depressives Syndrom oder eine Psychose seien nicht festzustellen.
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Das SG Detmold hat ein internistisches Gutachten von Dr. B ..., Medizinische Klinik der
Städtische Krankenanstalten B ...- M ..., und ein Gutachten von dem Neurologen und
Psychiater Dr. R ... eingeholt. Dr. B ... hat in seinem Gutachten vom 04.03.1996
ausgeführt, dass der bestehende Diabetes mellitus nicht auf den Wehrdienst oder die
Kriegsgefangenschaft des Klägers zurückzuführen sei. Dr. R ... (Gutachten vom
09.12.1995, ergänzende Stellungnahme vom 27.09.1996, Aussage vom 19.11.1997) hat
unter Berücksichtigung der Aussage des als sachverständigen Zeugen vernommenen
Dr. R ... einen Persönlichkeitswandel durch Extrembelastung mit einer MdE von 60 v.H.
als Schädigungsfolge gewertet. Der Kläger sei während der Wehrmachtszeit und der
Kriegsgefangenschaft tief in das Persönlichkeitsgefüge eingreifenden und andauernden
Belastungen ausgesetzt gewesen, die zu dem Persönlichkeitswandel mit erheblichen
sozialen Anpassungsschwierigkeiten geführt hätten. Selbst wenn bereits vor dem Krieg
eine dann allerdings gering ausgeprägte Persönlichkeitsstörung vorgelegen haben
sollte, sei diese durch die kriegsbedingte Extrembelastung richtunggebend
verschlimmert worden.
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Das SG hat den Beklagten mit Urteil vom 19.11.1997 antragsgemäß verurteilt.
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Gegen das am 09.01.1998 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung des Beklagten
vom 06.02.1998, die er im Wesentlichen damit begründet, dass die bei dem Kläger
bestehenden Einschränkungen auf die Zuckererkrankung zurückzuführen seien.
Hinsichtlich der psychischen Verfassung sei im Laufe der Zeit - ähnlich wie bei den
anderen Heimkehrern aus der Kriegsgefangenschaft - eine Besserung eingetreten. Die
Zeugenaussagen, insbesondere die des Dr. R ..., seien widersprüchlich; früher habe
dieser Arzt den Diabetes mellitus eindeutig in den Vordergrund gestellt. Insbesondere
sei nicht nachvollziehbar, dass der Kläger wesentlich leistungsgemindert gewesen sei;
so habe er später noch als Tierpräparator gearbeitet, insbesondere aber auch in der
Betreuung von Pflegekindern. Es fehle fast jegliche nach der ICD (international
classification of deseases) 10 bzw. dem DSM (diagnostic and statistical manual of
mental disorders) IV zu fordernde Symptomatik.
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Der Beklagte beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Detmold abzuändern und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
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die Berufung des Beklagten zurückweisen, soweit dieser die Abweisung einer auf eine
MdE von 40 v.H. gerichteten Klage begehrt.
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Er hat darauf hingewiesen, dass in dem Rechtsstreit ausschließlich der
psychische/psychiatrische Teil der bei ihm vorliegenden Schädigungsfolgen, nämlich
eine posttraumatische Belastungsstörung bzw. ein Persönlichkeitswandel, geltend
gemacht werde.
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Es wurden die Zeugen G ... A ..., H ... A ..., H ... H ..., P ... K ..., C ... P ...-C ..., H ... P ..., I ...
P ..., M ... P ..., Dr. K ... R ... und C ... S ... vernommen und ein Gutachten nebst er
gänzenden Stellungnahmen (25.02.1999; 23.07.1999, 16.02.2000) von Prof. Dr. F ...,
Leiter der Sektion Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinik T ...,
eingeholt. Dieser hat eine posttraumatische Belastungsstörung mit einer MdE von 40
v.H. als Schädigungsfolge beschrieben; sowohl die nach der ICD 10 als auch dem DSM
IV geforderten Kriterien seien erfüllt.
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Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten,
die Verwaltungsvorgänge des Beklagten, die Akten des SG Detmold (Aktenzeichen S
7(16) J 32/91) sowie die Rentenakten der LVA Westfalen (Versicherungsnummer ...)
Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand mündlicher Verhandlung
gewesen sind.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung des Beklagten ist nur zum Teil begründet. Der Kläger hat wegen
der Schädigungsfolgen "posttraumatische Belastungsstörung" - entsprechend seinem
dem Beweisergebnis angepassten Klageantrag - lediglich Anspruch auf Versorgung
nach einer MdE von 40 v.H.
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Nach § 44 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar
geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im
Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem
Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb
Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind.
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Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt; denn der Kläger hatte von Anfang an
Anspruch auf Anerkennung einer posttraumatischen Belastungsstörung und daraus
folgend auf Versorgungsrente; der Bescheid vom 10.02.1954 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 26.04.1954 war unrichtig.
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Nach § 1 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) erhält derjenige wegen der
gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen einer Schädigung Versorgung, der diese
Schädigung durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch
einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes
oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse erlitten hat. Einer
Schädigung in diesem Sinne stehen Schädigungen gleich, die durch eine
Kriegsgefangenschaft herbeigeführt worden sind (§ 1 Abs. 2 Buchst. b) BVG). Der
Versorgungsanspruch setzt voraus, dass durch schädigende Einwirkungen eine
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gesundheitliche (Primär-) Schädigung eingetreten ist und dass Gesundheitsstörungen
vorliegen, die als Folgen dieser Schädigung zu beurteilen sind. Militärische
Dienstverrichtung bzw. Kriegsgefangenschaft, schädigende Einwirkungen, (Primär-)
Schädigung und Schädigungsfolgen müssen mit an Sicherheit grenzender, ernste
vernünftige Zweifel ausschließender Wahrscheinlichkeit erwiesen sein (vgl. BSG SozR
3850 § 51 Nr. 9). Für den Nachweis des ursächlichen Zusammenhanges zwischen
(Primär-) Schädigung und Schädigungsfolgen genügt nach § l Abs. 3 Satz 1 BVG
Wahrscheinlichkeit.
Der Kläger war sowohl während seines Wehrdienstes als auch während seiner
Kriegsgefangenschaft erheblichen psychischen Belastungen ausgesetzt. Der Senat
folgt den dazu von dem Kläger gemachten - im Tatbestand im Einzelnen aufgeführten
und auch von dem Beklagten nicht in Zweifel gezogenen - Angaben; diese sind
widerspruchsfrei und nach den Umständen des Falles in vollem Umfang glaubhaft (vgl.
auch § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung); die
Angaben über die Verhältnisse während der Kriegsgefangenschaft werden zudem von
dem Zeugen Sch., der mit dem Kläger zusammen in Kriegsgefangenschaft war,
bestätigt.
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Auf diese psychischen Belastungen ist die bei dem Kläger bestehende
posttraumatische Belastungsstörung ursächlich zurückzuführen. Dies ergibt sich aus der
schlüssigen und überzeugenden Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. F ..., die
nicht nur - wie auch die Stellungnahmen des Beklagten - auf einer umfangreichen
Aktenanalyse sondern zusätzlich auch entsprechend den Forderungen der Sektion
"Versorgungsmedizin" des ärztlichen Sachverständigenbeirats beim Bundesministerium
für Arbeit und Sozialordnung (ÄSVB) vom 12./13.11.1997 zu Punkt 1.1 - Post
traumatische Belastungsstörung - Klinik und Begutachtung - auf einer sorgfältigen
psychiatrischen Untersuchung des Klägers beruht.
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Bei dem Kläger bestehen durchgehend seit seiner Rückkehr aus der
Kriegsgefangenschaft von den vernommenen Zeugen bestätigte Auffälligkeiten wie z.B.
nächtliche Alpträume, tagsüber auftretende, heftig emotional gefärbte Erinnerungen,
vegetative Erregbarkeit und eine kontinuierliche, heftig emotional getönte Befassung mit
dem Thema Krieg u.ä. Die Angaben der Zeugen stimmen zwar - worauf der Beklagte zu
Recht hinweist - in Teilbereichen nicht immer vollständig überein. Dies kann aber
bereits im Hinblick darauf, dass die Zeugen rückblickend teilweise über einen Zeitraum
von weit über 40 Jahren berichten mussten, auch nicht gefordert werden, zumal schon
aufgrund der unterschiedlichen Intensität der Beziehung der Zeugen zu dem Kläger
auch unterschiedliche Kenntnis über dessen psychische Befindlichkeiten zu erwarten
ist. Gerade deshalb würde eine vollständige Übereinstimmung der Zeugenaussagen
eher Zweifel an deren Glaubhaftigkeit begründen, während solche Zweifel vorliegend
tatsächlich eben nicht bestehen und auch von dem Beklagten nicht substantiiert
vorgetragen worden sind. Dementsprechend beschreiben die Ehefrau des Klägers I ... P
... und dessen Tochter C ... P ...-C ... die bei dem Kläger vorhandenen Auffälligkeiten
besonders intensiv während z.B. der ehemalige Schulkamerad des Klägers G ... A ...,
der nach dem Krieg in keinem engen Kontakt zu dem Kläger stand, auch keine
psychischen Auffälligkeiten anzugeben vermochte und das ihm gegenüber gezeigte
Verhalten des Klägers als normal bewertete. Von hervorgehobener Bedeutung und die
Angaben der nächsten Angehörigen des Klägers bestätigend sind die Aussagen des
Arztes Dr. R ..., der den Kläger von Jugendzeit an kannte und ihn nach dem Krieg
zunächst zusammen mit seinem Vater und anschließend allein behandelt hat. Im
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Gegensatz zu allen anderen Zeugen verfügt Dr. R ... als Allgemeinmediziner über eine
medizinische Ausbildung und ist deshalb zu einer sachkundigen Beschreibung der von
ihm bei dem Kläger seit dessen Rückkehr aus der Gefangenschaft festgestellten
Symptome in der Lage. Von der Richtigkeit seiner Angaben, der Kläger sei als
gebrochener Mann aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrt, er sei seitdem depressiv
gestimmt, weinerlich, introvertiert, vollkommen eingekapselt, frustriert und von
Angstzuständen beeinträchtigt, ist der Senat ebenso überzeugt wie von der Richtigkeit
der anderen Zeugenaussagen. Die Angaben des Dr. R ... sind auch nicht in sich
widersprüchlich. Dr. R ... hat zwar in seinen in dem Verwaltungsverfahren nach dem
Schwerbehindertengesetz abgegebenen Befundberichten vom 28.11.1979 und
03.04.1981, wie auch der Beklagte vorträgt, lediglich physische Beeinträchtigungen
geschildert. Er hat aber bereits 1984, also Jahre vor dem hier streitigen
Versorgungsantrag des Klägers, über dessen Depressionen berichtet und schon in dem
Rentenverfahren S 16 J 32/91 auf eine psychische Alteration des Klägers und dessen
Phobien hingewiesen. Ergänzend hat er nachvollziehbar dargelegt, dass in den
Nachkriegsjahren Fragen der Psyche bzw. Psychotherapie keine große Rolle und auch
von ihm als Allgemeinmediziner mit chirurgischer Ausbildung psychischen
Komponenten zunächst - im Gegensatz zu späteren Zeiten - nur sekundäre Bedeutung
zugemessen wurde.
Der Sachverständige Prof. Dr. F ... hat die von dem Kläger gezeigten Auffälligkeiten
zutreffend als Symptome einer auf die Erlebnisse während Wehrdienst und
Kriegsgefangenschaft zurückzuführenden Belastungsstörung gewertet. Seine
Beurteilung stimmt sowohl mit den Vorgaben der "Anhaltspunkte für die ärztliche
Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem
Schwerbehindertengesetz" (AHP), denen im Interesse einer objektiven und
objektivierbaren Bewertung und einer am Gleichheitsgebot orientierten
Gleichbehandlung normähnliche Wirkung beizumessen ist (vgl. BSGE 72, 285, 286 =
SozR 3-3870 § 4 Nr. 6; BSGE 75, 176, 177 f = SozR 3-3870 § 3 Nr. 5, bestätigt durch
Beschluss des BVerfG vom 06.03.1995, SozR 3-3870 § 3 Nr. 6; BSG SozR 3-3870 § 4
Nr. 19), als auch den die AHP ergänzenden Ausführungen des ÄSVB vom
12./13.11.1997 zu Punkt 1.1, ergänzt durch die ICD 10 und das DSM IV, überein.
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Nach Nr. 71 AHP kommen durch psychische Traumen bedingte Störungen nach
langandauernden psychischen Belastungen (z.B. in Kriegsgefangenschaft) in Betracht,
sofern die Belastungen ausgeprägt und mit Erleben von Angst und Ausgeliefertsein
verbunden waren. Die Störungen können nach ihrer Art, Ausprägung, Auswirkung und
Dauer verschieden sein; sie können kurzfristig, von einer Dauer von ein bis zu zwei
Jahren oder auch anhaltend sein. Anhaltend kann sich eine Chronifizierung der
Störungen mit Misstrauen, Rückzug, Motivationsverlust, Gefühl der Leere und
Entfremdung ergeben. Diese nach den AHP für die Diagnose einer chronifizierten
Belastungsstörung erforderlichen Voraussetzungen werden von den ICD 10 und DSM
IV bzw. dem ÄSVB vom 12./13.11.1997 zu Punkt 1.1 nicht nur ebenfalls gefordert,
sondern noch weiter spezifiziert. Auch die dort aufgeführten Voraussetzungen, dass A.
die betroffene Person Opfer oder Zeuge eines Ereignisses war, bei dem das eigene
Leben oder das anderer Personen bedroht war oder eine ernste Verletzung zur Folge
hatte oder eine Bedrohung für die eigene physische Unversehrtheit oder für die anderer
Personen darstellte, und dass die Reaktion des/der Betroffenen Gefühle von intensiver
Angst, Hilflosigkeit oder Entsetzen beinhaltete, B. ein ständiges Wiedererleben des
traumatischen Erlebnisses auf mindestens einer der im DSM IV genannten Arten
geschildert wird, C. eine anhaltende Vermeidung von Stimuli, die mit dem Trauma in
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Verbindung stehen, oder eine Einschränkung der allgemeinen Reagibilität, die vor dem
Trauma nicht vorhanden war, in mindestens drei der im DSM IV genannten Merkmale
zum Ausdruck kommt, D. anhaltende Symptome eines erhöhten Erregungsniveaus
vorliegen, die vor dem Trauma nicht vorhanden waren und die durch mindestens zwei
der im DSM IV genannten Merkmale gekennzeichnet sind, sind erfüllt.
zu A:
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Der Kläger hat während des Wehrdienstes bzw. der Gefangenschaft nicht nur ein
schwerwiegendes Ereignis erlebt; er war vielmehr Opfer gleich vieler gravierender,
anhaltender schädigender Einwirkungen. Er hat Ereignisse erlebt bzw. war mit
Erlebnissen konfrontiert, die den drohenden und auch den tatsächlichen Tod, ernsthafte
Verletzungen, Gefahren der körperlichen Unversehrtheit sowohl der eigenen als auch
anderer Personen beinhaltet haben. Seine Reaktion darauf bestand in intensiver Furcht,
Hilflosigkeit und Entsetzen.
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zu B:
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Die traumatischen Ereignisse werden von dem Kläger auf nicht nur eine Art der im DSM
genannten Arten, sondern sogar auf zwei Arten ständig wiedererlebt, nämlich zum
Einen durch widerkehrende und eindringliche belastende Erinnerungen an die
Ereignisse und zum Anderen durch themenbezogene Alpträume.
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zu C:
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Nach der Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. F ... liegen mindestens drei der im
DSM IV genannten Merkmale vor, nämlich (1.) ein bewusstes Vermeiden von
Gedanken, Gefühlen oder Gesprächen, die mit dem Trauma in Verbindung stehen, (2.)
ein bewusstes Vermeiden von Aktivitäten, Orten oder Menschen, die Erinnerungen an
das Trauma wachrufen, sowie (3.) eine eingeschränkte Bandbreite des Affekts.
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Entgegen der Auffassung des Beklagten kann demgegenüber aus dem Umstand, dass
der Kläger wiederholt Kriegsereignisse schildert, nicht geschlossen werden, dass kein
Vermeidungsverhalten vorliegt. Gerade wiederkehrende und eindringliche
Erinnerungen sind Voraussetzung nach Punkt B und können schon begrifflich deshalb
nicht als Ausschlusskriterium bei Punkt C gewertet werden. Gefordert wird auch
vielmehr ein Vermeidungsverhalten gegenüber den Reizen - so auch die von dem
Beklagten vorgelegte Ausarbeitung "Posttraumatische Belastungsstörung", S. 488, -
bzw. gegen über äußeren Anlässen - so Prof. Dr. F ... -, die mit dem Trauma in
Verbindung stehen. Der Sachverständige geht dementsprechend zutreffend von einem
Vermeidungsverhalten aus. Dies wird u.a. durch die glaubhaften Äußerungen des
Klägers "Er hasse alles, was mit Krieg zu tun habe, könne auch keine Gewehre sehen,
auch nicht, wenn es Holzgewehre von Kindern seien.", "Kriegsszenen ... könne er nicht
ansehen, fühle sich elend.", "Mit dem Schützenverein, der überwiegend mit Waffen zu
tun hat, wollte ich nach dem Krieg und will ich auch heute nichts zu tun haben." oder
"Nach dem Krieg konnte ich wegen meiner Erlebnisse während des Krieges und der
Gefangenschaft nicht mehr in die Kirche gehen. Ich war schon vorher mit dem Verhalten
der Kirche während des Krieges nicht einverstanden." belegt.
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Zudem sprechen die Aussagen der Zeugen auch dafür, dass als zusätzliches viertes
Merkmal i.S.d. der DSM IV bei dem Kläger ein deutlich vermindertes Interesse bzw. eine
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verminderte Teilnahme an wichtigen Aktivitäten besteht. Insbesondere nach den
Aussagen der Ehefrau und der Tochter des Klägers, aber auch nach der des Dr. R ... hat
sich der Kläger seit seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft eingekapselt und lediglich
an den Hobbys Garten und Basteln - darunter fällt auch die von dem Beklagten
angeführte Tätigkeit als Tierpräparator - Interesse gezeigt, während er ansonsten keine
nennenswerten, insbesondere keine wesentlichen beruflichen Aktivitäten entfaltet hat,
wofür letztlich auch die Höhe seines Altersruhegeldes von 216,12 DM (Dezember 1992)
spricht. Auch bei der Betreuung der von seiner Familie aufgenommenen Pflegekinder
hat der Kläger nur in geringem Umfang mitgewirkt (Aussagen der Ehefrau und der
Tochter des Klägers).
zu D.
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Als nicht vor dem Trauma vorhandene anhaltende Symptome erhöhten Arousals bzw.
Erregungsniveaus liegen bei dem Kläger nach den Feststellungen des
Sachverständigen Prof. Dr. F ... zumindest Übererregbarkeit, Konzentrationsstörungen
und Durchschlafstörungen vor.
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Auch die weiteren Voraussetzungen, dass das Störungsbild länger als 1 Monat vorliegt
(Punkt E) und dass das Störungsbild in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder
Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen Funktionsbereichen
verursacht (Punkt F), sind erfüllt.
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Der von dem Beklagten als Ursache für die Beeinträchtigungen des Klägers angeführte
Diabetes mellitus kann nicht nur aufgrund der Ausführungen des Prof. Dr. F ... sondern
auch im übrigen ganz offensichtlich nicht in ursächlichen Zusammenhang mit den o.a.
Symptomen - insbesondere emotional gefärbte Kriegserinnerungen, entsprechende
Befassung mit dem Thema Krieg oder von diesem Thema geprägte Alpträume -
gebracht werden. Gleichermaßen kann der erst in den letzten Jahren aufgetretene
dementielle Abbau nicht Ursache für die schon seit 1947/48 bestehenden Auffälligkeiten
sein. Ebenso besteht kein einziger Anhaltspunkt dafür, dass bei dem Kläger schon vor
seinem Wehrdienst eine psychischen Erkrankung bestand.
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Die durch die in ihren Auswirkungen unverändert bestehende Belastungsstörung
hervorgerufene MdE ist seit Januar 1986 (§ 44 Abs. 4 SGB X) in Übereinstimmung mit
Prof. Dr. F ... mit 40 v.H. zu bemessen. Bei dem Kläger liegen stärker behindernde
Folgen psychischer Traumen vor, die zu einer wesentlichen Einschränkung der Lebens-
und Gestaltungsfähigkeit geführt haben und mit den AHP Nr. 26.3 sowohl nach der
Ausgabe 1996 (S. 60) als auch der Ausgabe 1983 (S. 48) eine MdE von 40 bedingen.
Dr. R ... ist zwar sogar von auf einer Persönlichkeitsveränderung beruhenden
erheblichen sozialen Anpassungsschwierigkeiten, die eine höhere MdE bedingen,
ausgegangen; der Sachverständige Prof. Dr. F ... hat dafür aber keine Anhaltspunkte
gesehen, zumal das psychische Krankheitsbild zwischenzeitlich auch von der
schädigungsunabhängigen dementiellen Entwicklung beeinflusst wird.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
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Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht
vor.
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