Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 13.02.2008

LSG NRW: lebensmittel, unterhalt, ukraine, altersrente, wartezeit, gegenleistung, versicherungspflicht, verfügung, beitragszeit, glaubhaftmachung

Landessozialgericht NRW, L 8 R 192/07
Datum:
13.02.2008
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
8. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 8 R 192/07
Vorinstanz:
Sozialgericht Düsseldorf, S 53 (27,51) R 231/05
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 5a R 64/08 R
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts
Düsseldorf vom 08.06.2007 geändert. Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtzügen nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Gewährung einer Altersrente. Streitig ist
dabei insbesondere, ob zu Gunsten der Klägerin sog. Ghetto-Beitragszeiten nach dem
Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG)
berücksichtigt werden können.
2
Die Klägerin ist am 00.00.1928 in Slawuta/Ukraine als sowjetische Staatsangehörige
geboren. Sie ist jüdischen Glaubens, lebt seit 1962 in Israel und besitzt die israelische
Staatsangehörigkeit. Sie ist als Verfolgte des Nationalsozialismus im Sinne des § 1 Abs.
1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) anerkannt und erhielt eine Beihilfe wegen
Freiheitsentziehung (§ 43 BEG) vom 05.10.1941 bis 25.09.1942 (Bescheid vom
19.06.1972).
3
Im Entschädigungsverfahren gab die Klägerin am 01.06.1966 an:
4
"Bei Beginn des 2. Weltkrieges im Jahre 1939 lebte ich in Ostrok (Polen). Bei Beginn
der Verfolgung wohnte ich in Ostrok (Polen). Bald nach Besetzung unserer Ortschaft
durch die Deutschen musste ich das vorgeschriebene Judenkennzeichen ab Oktober
1941 ununterbrochen tragen. Bei Errichtung des Ghetto in Ostrok im Monat ca.
September 1941 wurde ich gleich dorthin eingewiesen und verblieb in demselben bis
zur Liquidation. Im Monat September 1942 gelang es mir aus dem Ghetto Ostrok zu
flüchten und seit damals lebte ich in der Illegalität in Ostrok. Im Monat Februar 1944
wurde ich endlich befreit und nahm Aufenthalt in Luck (Polen), von wo ich mich 1946
nach Lodz (Polen) begab. Dort verblieb ich bis November 1962 und übersiedelte dann
5
nach Israel. Im Monat November 1962 wanderte ich nach Israel aus.".
Am 24.01.1968 erklärte die Klägerin ebenfalls im Entschädigungsverfahren:
6
"Zu Beginn der NS-Verfolgung wohnte ich mit meinen Eltern in Ostrog, Polen. Nach der
Besetzung unseres Wohnortes durch die Deutschen musste ich, wie alle Juden in
Ostrog, ab September/Oktober 1941 ein Judenkennzeichen tragen und im Ghetto Ostrog
mit vielen anderen jüdischen Einwohnern unserer Stadt unter menschenunwürdigen
Bedingungen hausen. Ich litt Hunger, Kälte und Entbehrungen und war der rohen
Willkür der deutschen Ghettobehörden ausgesetzt, die mich misshandelten und
bedrohten. Diese Leiden musste ich im jugendlichen Alter von kaum 13 Jahren erdulden
und Gewalt- und Terrorakten beiwohnen.
7
Als sich die Verhältnisse im Ghetto Ostrog immer mehr verschärften und die
Liquidierung begann, gelang es mir, unter Lebensgefahr aus dem Ghetto zu entlaufen
und bei christlichen Familien unterzukommen. "
8
Der Zeuge F E gab am 00.00.1970 an, die Antragstellerin E C sei ihm aus frühester
Kindheit her als E L aus dem Ghetto Ostrog her bekannt, da sie damals kaum 11 Jahre
alt gewesen sei. Er sei mit der Antragstellerin von September 1941 ein ganzes Jahr lang
im Ghetto Ostrog inhaftiert gewesen und bezeuge aus eigener Kenntnis, dass sie dort
totale Freiheitsentziehung erlitten und das vorgeschriebene Judenkennzeichen
ununterbrochen getragen habe. Ein Jahr später sei E L, jetzt C, aus dem Ghetto Ostrog
verschwunden und sie hätten einander erst in Israel vor kurzem bei einer
Zusammenkunft der Landsmannschaft der ehemaligen Verfolgten aus Ostrog
wiedergetroffen.
9
In einer "Negativerklärung" gab die Klägerin am 10.04.1972 an, weder deutscher
Volkszugehörigkeit zu sein, noch dem deutschen Sprach- und Kulturkreis anzugehören.
10
Am 12.09.2003 beantragte die Klägerin die Zahlung einer Regelaltersrente ab dem
01.07.1997 unter Hinweis auf das ZRBG. In dem Fragebogen für die Anerkennung von
Zeiten unter Berücksichtigung der Vorschriften des ZRBG gab die Klägerin am
24.12.2003 an, die Arbeitsleistung sei im Ghetto Ostrog, Westukraine, zurückgelegt
worden. Die Beschäftigung im Ghetto habe September 1941 begonnen und September
1942 geendet. Die Arbeitsleistung sei innerhalb des Ghettos in einer Schneiderwerkstatt
erfolgt. Sie sei weder auf dem Weg von und zur Arbeit noch während der Arbeit bewacht
worden. Der Arbeitseinsatz sei durch Vermittlung des Judenrates zustande gekommen.
Sie habe Reinigungs- und Näharbeiten verrichtet. Sie habe täglich 6-8 Stunden
gearbeitet. Die Arbeit sei mit zusätzlichen Lebensmitteln entlohnt worden. Barlohn habe
sie nicht erhalten. Für ihre Tätigkeit habe sie Mittagessen als Sachbezüge erhalten.
Zeugen für die Arbeitszeiten im Ghetto könne sie nicht mehr benennen. In dem
Rentenantragsformular erklärte die Klägerin ebenfalls am 24.12.2003, nicht dem
deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört zu haben und über Beiträge zur
israelischen Nationalversicherung (Bituach Leumi) für den Zeitraum von 1963 bis 1987
zu verfügen. Die Höhe des Entgelts für ihre Tätigkeit im Ghetto Ostrog sei ihr nicht
erinnerlich.
11
Nach Beiziehung und Auswertung der Entschädigungsakten betreffend die Klägerin
lehnte die Beklagte den Rentenantrag mit Bescheid vom 25.05.2004 ab. Es sei nicht
glaubhaft gemacht worden, dass die Klägerin eine Beschäftigung gegen Entgelt i. S.
12
des § 1 ZRBG ausgeübt habe.
Gegen diesen Bescheid richtete sich der am 27.05.2004 bei der Beklagten
eingegangene Widerspruch der Klägerin. Zur Begründung ihres Widerspruchs erklärte
die Klägerin am 01.07.2004:
13
"Ich befand mich im Ghetto Ostrog von September 1941 bis September 1943. Mit Hilfe
vom Judenrat habe ich Arbeit in der Schneiderwerkstatt gefunden und bekam dafür
zusätzliche Lebensmittel. Bei meinen Angaben für E-Verfahren habe ich meine Arbeit in
der Schneiderwerkstatt nicht erwähnt, weil keiner mich darüber gefragt hat, damals war
es nur wichtig, dass ich mich im Ghetto befand. In Wirklichkeit habe ich im Ghetto in der
Schneiderwerkstatt gearbeitet, sonst konnte ich dort nicht existieren."
14
Die Beklagte zog erneut die Entschädigungsakten betreffend die Klägerin bei. Von der
Jewish Claims Conference (JCC) - Art. 2-Fonds - zog die Beklagte das von der Klägerin
ebenfalls am 24.12.2003 ausgefüllte Antragsformular in Kopie bei. Die Klägerin gab
darin an, sich von September 1941 bis September 1942 im Ghetto Ostrog, Ukraine,
aufgehalten zu haben. Von September 1942 bis Februar 1944 habe sie sich in den
Dörfern in der Umgebung von Ostrog versteckt. Vom Jahre 1940 an habe sie bei ihren
Verwandten in Ostrog gelebt. Die Eltern mit den Geschwistern hätten in Slawuta
gewohnt und seien am Anfang des Krieges Richtung Ural geflüchtet. Als der Krieg
begonnen habe, sei sie mit den Verwandten ins Ghetto geraten. Die Bedingungen seien
dort sehr schwer gewesen. Sie habe verschiedene Arbeiten erfüllt. Im September 1942
sei es ihr gelungen zu flüchten und sich bis zum Ende des Krieges habe sie sich bei
den Christen in den Dörfern in der Umgebung von Ostrog versteckt.
15
Mit Widerspruchsbescheid vom 21.04.2005 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Sie führte zur Begründung unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundessozialgerichts
(BSG) vom 07.10.2004 (B 13 RJ 59/03 R) aus, mangels Entgeltlichkeit seien die
Voraussetzungen des § 1 ZRBG nicht erfüllt. Nach Auffassung des BSG müsse das
Entgelt nicht nur eine Mindesthöhe erreichen, um überhaupt als Versicherungspflicht
begründen zu können, sondern es dürfe auch nicht nur in der bloßen Gewährung von
freiem Unterhalt bestehen, weil ansonsten Versicherungsfreiheit kraft Gesetzes vorliege
(§ 1228 Abs. 1 Nr. 2 RVO n.F.).
16
Mit ihrer am 03.05.2005 zum Sozialgericht (SG) Düsseldorf erhobenen Klage hat die
Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt. Sie sei von September 1941 bis September 1943
im Ghetto Ostrog gewesen und habe sich zur Verbesserung ihrer Lage über den
Judenrat Tätigkeiten als Näherin in der Schneiderwerkstatt freiwillig gesucht. Laut
eigener Erklärung habe sie für die Tätigkeit Sachbezüge in Form von täglich Essen am
Arbeitsplatz und wöchentlich zusätzlichen Lebensmitteln für zu Hause erhalten. Sie
erinnere sich an Kartoffeln, Brot, Mehl, Öl, Graupen, Zucker, Margarine. Die
Lebensmittel seien teilweise für andere Lebensmittel eingetauscht worden. Da sie die
Lebensmittel zur beliebigen Verfügung erhalten habe, liege keine Versicherungsfreiheit
im Sinne von § 1227 RVO a.F. vor. Ferner sei die Geringfügigkeitsgrenze wegen der
erheblichen Bedeutung von Lebensmitteln während des 2. Weltkrieges bei weitem
überschritten.
17
Die Klägerin hat schriftsätzlich sinngemäß beantragt,
18
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 25.05.2004 in der Fassung des
19
Widerspruchsbescheides vom 21.04.2005 zu verurteilen, ihr Regelaltersrente unter
Berücksichtigung von Ghetto-Beitragszeiten für den Zeitraum von September 1941 bis
September 1943 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
20
die Klage abzuweisen.
21
Zur Begründung hat sie auf die Ausführungen im angefochtenen
Widerspruchsbescheiden verwiesen.
22
Mit dem Einverständnis der Beteiligten hat das SG ohne mündliche Verhandlung
entschieden und mit dem Urteil vom 08.06.2007 die Beklagte unter entsprechender
Aufhebung des Bescheides vom 25.05.2005 und des Widerspruchsbescheides vom
21.04.2005 verurteilt, der Klägerin eine Altersrente unter Berücksichtigung einer
Beitragszeit vom 01.09.1941 bis 30.09.1942 und Ersatzzeiten nach Maßgabe des ZRBG
ab Antragstellung zu gewähren, und im Übrigen die Klage abgewiesen. Das SG hat zur
Begründung im Wesentlichen ausgeführt, die Klägerin habe auf die für eine
Altersrentengewährung nach § 35 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI)
erforderliche allgemeine Wartezeit anrechenbare Pflichtbeitragszeiten nach den §§ 1, 2
ZRBG. Dies gelte für den Zeitraum bis 30.09.1942. Die Klägerin habe sich vom
01.09.1941 bis 30.09.1942 im Ghetto Ostrog aufgehalten, das sich in einem Gebiet
befunden habe, das vom Deutschen Reich besetzt gewesen sei. Es sei auch glaubhaft,
dass die Klägerin eine Beschäftigung gegen Entgelt ausgeübt habe (§ 1 Abs. 1 Satz 1
Nr. 1 lit. b ZRBG). Über dieses Tatbestandsmerkmal seien Ghetto-Arbeitszeiten nach
dem Typus einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung einerseits von der
nichtversicherten Zwangsarbeit andererseits abzugrenzen. Dabei liege Entgeltlichkeit
der Tätigkeit vor, wenn der Betroffene für seine Arbeit eine Gegenleistung in
nennenswertem Mindestumfang erhalten habe. Für die Qualifizierung als "Entgelt"
komme es nicht auf die Art und Höhe, auch nicht auf die Angemessenheit oder gar auf
die Gerechtigkeit der Vergütung an. Unerheblich sei auch, in welcher Form die
Einnahmen bezogen worden sei, es könnten Geld- oder Sachbezüge sein.
Entscheidend sei nur, ob die Zuwendung tatsächlich wegen der geleisteten Arbeit und
nicht aus anderen Gründen erfolgt sei (Bezugnahme auf BSG, Urteil vom 14.12.2006, B
4 R 29/06 R; Urteile des SG Hamburg vom 09.02.2006, S 9 RJ 896/03‚ vom 03.05.2006,
S 10 RJ 944/03‚ vom 17.06.2003, S 19 RJ 1061/03, und vom 02.05.2006, S 20 RJ
611/04). Dies berücksichtigend sei es glaubhaft (§ 1 Abs. 2 ZRBG i.V.m. § 3 WGSVG),
dass die Klägerin entgeltlich gearbeitet habe. Sie habe im Fragebogen glaubhaft
dargelegt, dass sie für ihre Tätigkeit im Ghetto zusätzliche Nahrungsmittel erhalten
habe. Nach der oben aufgeführten Rechtsprechung des BSG und des SG Hamburg, der
sich die Kammer anschließe, seien gerade zusätzliche Lebensmittel unter
Ghettobedingungen besonders wertvoll und oft entscheidend für das Überleben ganzer
Familien gewesen. Weiter stelle die von der Klägerin im Ghetto Ostrog ausgeübte Arbeit
eine freiwillige Arbeitsleistung und nicht Zwangsarbeit dar. Es sei glaubhaft, dass die
Klägerin die Beschäftigung im Ghetto Ostrog aus freiem Willensentschluss
aufgenommen habe. Der gesetzlich geforderte "eigene Willensentschluss" sei auch
dann gegeben gewesen, wenn die Beschäftigung gesucht und gefunden wurde, um
unter den zunehmend katastrophalen Lebensbedingungen des Ghettos überleben zu
können und der Deportation und Vernichtung zu entgehen. Dass die Klägerin zur Zeit
der Arbeitsaufnahme erst 13 Jahre alt gewesen sei, stehe der Annahme einer zu
entschädigenden freiwilligen Beschäftigung gegen Entgelt nicht entgegen. Das ZRBG
23
verlange nämlich nicht das Vorliegen eines bestimmten Mindestalters. Soweit die
Klägerin beantrage, ihr ab 1. Juli 1997 Altersrente auch für die Zeit vom 01.10.1942 bis
30. September 1943 zu gewähren, sei die Klage abzuweisen. Nach § 3 ZRBG hätten
nur solche Rentenanträge rückwirkende Fiktion, die bis zum 30.06.2003 gestellt worden
seien. Der Rentenantrag der Klägerin sei aber erst am 08.09.2003 gestellt worden. Im
Zeitraum vom 01.10.1942 bis 30. September 1943 sei ein Aufenthalt der Klägerin im
Ghetto nicht glaubhaft gemacht.
Gegen das ihr am 09.07.2007 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 20.07.2007
Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt sie vor, es sei nicht ausreichend glaubhaft im
Sinne einer guten Möglichkeit, dass die Klägerin die von ihr im Rentenverfahren
angegebene Tätigkeit im Ghetto Ostrog ausgeübt habe. Die Klägerin habe im
zeitnäheren Entschädigungsverfahren die jetzt behaupteten zwei Tätigkeiten nicht
genannt. Im Hinblick auf ihre Schilderung vom 24.01.1968 im Entschädigungsverfahren
sei aber die Erwähnung einer - wie auch immer gearteten - Tätigkeit (auch unter Zwang)
in diesem Zusammenhang zu erwarten gewesen. Die von der Klägerin angegebene
Gegenleistung für ihre Arbeit stelle nach Auffassung der Beklagten kein ausreichendes
Entgelt dar, um eine Beitragszeit nach dem ZRBG anrechnen zu können. Es werde nicht
dem weiten Entgeltbegriff des 4. Senats des BSG gefolgt, sondern dem des 13. Senats
des BSG, nach dem die Gegenleistung für die Arbeit nicht nur eine Mindesthöhe
erreichen müsse, um überhaupt als solche Versicherungspflicht begründen zu können,
sondern auch nicht nur in der bloßen Gewährung von freiem Unterhalt bestehen dürfe,
weil ansonsten Versicherungsfreiheit kraft Gesetzes vorliege (§ 1228 Abs. 1 Nr. 2 RVO
n.F.). Selbst ganz geringe Geldleistungen lösten ebenfalls keine Versicherungspflicht
aus, sie hätten nur Taschengeldcharakter. Die von der Klägerin lediglich pauschal
angegebenen zusätzlichen Lebensmittel und Mittagessen könnten jedoch keinen
wesentlichen Umfang gehabt haben, wie aus der Aussage der Klägerin im
Entschädigungsverfahren zu schließen sei, sie habe unter Hunger, Kälte und
Entbehrungen gelitten. Sie stellten damit auch keine angemessene Gegenleistung für
die geleistete Arbeit dar. Nach den Angaben im Entschädigungsverfahren sei außerdem
nicht von einer aus eigenem Willensentschluss aufgenommenen Beschäftigung
auszugehen. Vielmehr sprächen die Aussagen, dass sie der rohen Willkür der
deutschen Ghettobehörden ausgesetzt und von diesem misshandelt und bedroht
worden sei, gegen die freiwillige Aufnahme einer solchen Tätigkeit. Eine
Regelaltersrente habe auch dehalb nicht zugesprochen werden dürfen, da die für einen
Rentenanspruch erforderliche allgemeine Wartezeit von fünf Jahren nicht erfüllt sei. Die
vom Vordergericht zugesprochenen Ghetto-Beitragszeiten umfassten jedoch nur einen
Zeitraum von 13 Monaten, so dass 47 Kalendermonate fehlten.
24
Die Beklagte beantragt,
25
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 08.06.2007 zu ändern und die Klage
abzuweisen.
26
Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,
27
die Berufung zurückzuweisen.
28
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und stützt sich auf das Urteil des BSG
vom 14.12.2006 (B 4 R 29/06 R). Die Tätigkeit in der Schneiderwerkstatt gegen
Entlohnung sei im Sinne der Ausführungen zum § 2 ZRBG eidesstattlich erklärt worden
29
und es gebe keinen Grund ihr Unglaubwürdigkeit zu unterstellen. Eine freiwillige
Tätigkeit im Ghetto sei begehrt gewesen und habe den Regelfall dargestellt. Die Höhe
der Entlohnung der jüdischen Arbeiter sei gesetzlich festgelegt gewesen.
Zwangsarbeiten seien überwiegend nur tageweise vorgekommen und hätten nicht den
Regelfall dargestellt. Beschäftigungen i. S. des ZRBG seien möglich und verbreitet
gewesen. Hierzu hätten Tätigkeiten in den Betrieben gehört, die aufgrund von
deutschen Bestellungen oder in Zusammenarbeit mit deutschen Firmen tätig gewesen
seien, außerdem bei den Einrichtungen des Judenrates sowie bei privaten Betrieben,
die für den Binnenbedarf gearbeitet hätten (Dienstleistungen, Handwerksbetriebe,
Einzelhandel).
Auf den der Klägerin vom Senat übersandten Fragebogen hat sie folgende Angaben
gemacht:
30
Zeugen könnten nicht mehr benannt werden. Weitere Schilderungen ihres
Verfolgungsschicksals bestünden nicht.
31
Von September 1941 bis September 1942 habe sie sich im Ghetto Ostrog aufgehalten.
Davor sei sie bei den Verwandten in Ostrog gewesen. Nach dem Ghettoaufenthalt habe
sie sich in der Umgebung von Ostrog versteckt. Sie habe zuerst Reinigungsarbeiten
verrichtet in den Diensträumen. Einige Monate später habe sie angefangen, in der
Schneiderwerkstatt zu arbeiten, (der Rest des Satzes war für die Übersetzerin nicht
lesbar). An die Anschrift der Arbeitsstätte könne sie sich nicht erinnern. Ihr Arbeitgeber
sei der Judenrat gewesen. Die Reinigungsarbeiten habe sie von September bis
November verrichtet. Die restliche Zeit habe sie in der Schneiderwerkstatt gearbeitet. Es
habe keine Zeiträume gegeben, in denen von ihr keine Arbeit ausgeübt worden sei. Sie
habe 8 Stunden pro Tag gearbeitet. Sie habe jeden Tag das Mittagessen und zusätzlich
Proviant zum Mitnehmen nach Hause erhalten. Als Gegenleistung für die verrichtete
Arbeit habe sie einmal wöchentlich Lebensmittel erhalten: Brot, Nudeln, Grütze,
Kartoffeln Zucker. An die Mengen könne sie sich nicht erinnern. Sie könne sich nicht an
den Umfang der Lebensmittel erinnern, die ihr für den eigenen Bedarf zur Verfügung
gestanden haben. Es habe keine Veränderungen gegeben. Die Lebensmittel habe sie
vom Vertreter des Judenrates erhalten. Sie selbst habe arbeiten wollen. Die Arbeit habe
sie mit Hilfe des Judenrates bekommen. Sie sei nicht zu den Arbeiten aufgefordert
worden. Es habe keine Pflicht bestanden, die konkret von ihr ausgeführten Arbeiten zu
verrichten. Sie sei nicht zur Arbeit gezwungen worden. Es habe die Möglichkeit
bestanden, sich gegen die Aufnahme der Arbeiten zu entscheiden. Eine Bewachung sei
weder auf dem Weg von und zur Arbeit noch während der Arbeit erfolgt. Sie sei während
der Arbeitsausübung nicht misshandelt worden. Auf die Frage "Haben sich Angehörige
von Ihnen zur gleichen Zeit mit Ihnen in einem Ghetto in Ostrog aufgehalten?" hat die
Klägerin geantwortet: "Ich war allein im Ghetto." Sie habe von 8 Uhr morgens bis 4 Uhr
nachmittags gearbeitet, und danach habe sie sich versteckt, um nicht zur Zwangsarbeit
herangezogen zu werden.
32
Auf Anfrage des Senats hat die JCC ihre Unterlagen zu den der Klägerin aus dem Art. 2-
sowie Zwangsarbeiterfonds geleisteten Zahlungen übersandt. Die JCC hat mitgeteilt,
dass die Klägerin eine Entschädigung aus dem Zwangsarbeiterfonds aufgrund ihres
Verfolgungsschicksals im Ghetto Ostrog in den Jahren 1941-1942 erhalten habe.
Leistungen aus dem Härtefonds seien nicht beantragt worden.
33
Nach dem über die Beklagte von der israelischen Nationalversicherung beigezogenen
34
Versicherungsverlauf verfügt die Klägerin über 286 Beitragsmonate zur israelischen
Nationalversicherung.
Der ITS hat auf die Anfrage des Senats mitgeteilt, dass zur Klägerin keine Angaben
gemacht werden könnten.
35
Nach der von der Deutschen Botschaft in Israel übersandten Sterbebescheinigung ist
der Zeuge F E am 04.07.1987 verstorben.
36
Das den Beteiligten bekannte Gutachten von Prof. Dr. Golczewski zur Region
Reichskommissariat Ukraine und Rückwärtiges Heeresgebiet Süd vom 17.02.2007
(erstellt für das SG Hamburg in den Verfahren S 20 J 107/97 u.a.) ist zum Gegenstand
des Verfahrens gemacht werden worden.
37
Das Gericht hat die bei der Bezirksregierung Düsseldorf - Dezernat 10
(Wiedergutmachung) - geführte Entschädigungsakte der Klägerin mit dem Az. 10. Art. V
000 beigezogen.
38
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der
Verwaltungsakte der Beklagten und der vorgenannten Entschädigungsakte, der
Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
39
Entscheidungsgründe:
40
Der Senat konnte gemäß §§ 153 Abs.1, 110 Abs.1, 126 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in
Abwesenheit der Klägerin und ihres Bevollmächtigten verhandeln und entscheiden, weil
ihr Prozessbevollmächtigter in der Terminsmitteilung, die ihm am 28.01.2008 gegen
Empfangsbekenntnis zugestellt worden ist, auf diese Möglichkeit hingewiesen worden
war.
41
Nachdem nur die Beklagte das Urteil des SG Düsseldorf vom 08.06.2007 angefochten
hat, ist im Hinblick auf die Berücksichtigung etwaiger Ghetto-Beitragszeiten nur noch der
Zeitraum von September 1941 bis September 1942 streitbefangen.
42
Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Die angefochtenen Bescheide sind
nicht rechtswidrig und beschweren die Klägerin daher nicht iS von § 54 Abs. 2 Satz 1
SGG. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Altersrente.
43
Wie der Senat bereits mit näherer Begründung entschieden hat (zB Urteil v. 06.06.2007,
L 8 R 54/05, www.sozialgerichtsbarkeit.de), folgt der Anspruch auf Altersrente allein aus
dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI), ohne dass das ZRBG eine
eigenständige Anspruchsgrundlage darstellen würde (ebenso BSG, Urteil v.
26.07.2007, B 13 R 28/06 R, aA BSG, Urteil v. 14.12.2006, B 4 R 29/06 R).
Rechtsgrundlage für den Anspruch auf Altersrente kann daher im Fall der Klägerin nur §
35 SGB VI sein. Diese Vorschrift ist trotz des Auslandswohnsitzes der Klägerin (vgl. §
30 Abs. 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch) anwendbar (vgl. dazu BSG, Urteil v.
14.07.1999, B 13 RJ 75/98 R; BSG, Urteil v. 13.08.2001, B 13 RJ 59/00 R).
44
Nach § 35 SGB VI haben Versicherte Anspruch auf Altersrente, wenn sie das 65.
Lebensjahr vollendet und die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren erfüllt haben. Als auf
die Wartezeit anrechenbare Versicherungszeiten kommen hier nur Beitrags- und
45
Ersatzzeiten iS der §§ 50 Abs. 1 Nr. 1, 51 Abs. 1 und 4 SGB VI in Betracht. Dabei finden
nach § 250 Abs. 1 SGB VI Ersatzzeiten allerdings nur dann Berücksichtigung, wenn vor
Beginn der Rente zumindest ein Beitrag wirksam entrichtet worden ist oder als wirksam
entrichtet gilt; denn Ersatzzeiten sollen nach dem Gesetzeswortlaut nur "Versicherten",
dh Personen zugute kommen, die bereits Beitragsleistungen erbracht haben (BSG,
Urteil v. 07.10.2004, B 13 RJ 59/03 R, mwN).
Die Klägerin hat jedoch keine auf die Wartezeit anrechenbaren Beitragszeiten
zurückgelegt. Beitragszeiten sind Zeiten, für die nach Bundesrecht oder den
Reichsversicherungsgesetzen Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge gezahlt worden
sind (§§ 55 Abs. 1 Satz 1, 247 Abs. 3 Satz 1 SGB VI) oder als gezahlt gelten (§ 55 Abs.
1 Satz 2 SGB VI).
46
Nach § 2 Abs. 1 ZRBG gelten Beiträge als gezahlt für Zeiten der Beschäftigung von
Verfolgten in einem Ghetto. Voraussetzung ist gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG, dass die
Verfolgten sich zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten haben, das in einem vom
Deutschen Reich besetzten oder ihm eingegliederten Gebiet gelegen hat und dort eine
Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss gegen Entgelt ausgeübt haben. Ferner
darf für die betreffenden Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem System der
sozialen Sicherheit erbracht werden. Die Anspruchsvoraussetzungen müssen glaubhaft
gemacht werden (§ 1 Abs. 2 ZRBG iVm § 3 Gesetz zur Regelung der
Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung
[WGSVG]). Glaubhaft gemacht ist eine Tatsache, wenn ihr Vorliegen nach dem
Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche verfügbaren Beweismittel erstrecken
sollen, überwiegend wahrscheinlich ist, dh mehr für als gegen sie spricht, wobei
gewisse noch verbleibende Zweifel unschädlich sind (vgl. BSG, Beschluss vom
08.08.2001, B 9 V 23/01 B, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4).
47
Von den vorgenannten Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG kann schon die
Ausübung einer Beschäftigung gegen Entgelt gem. § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1. a) und b)
ZRBG nach den eigenen Angaben der Klägerin, an deren Richtigkeit zu zweifeln kein
Anlass besteht, nicht im Sinne einer Glaubhaftmachung festgestellt werden.
48
Entgelt in diesem Sinne ist als ein die Versicherungspflicht in der deutschen
Rentenversicherung begründendes Entgelt anzusehen (BSG, Urteil vom 07.10.2004,
aaO). Maßgebend sind dabei die Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO)
in der im Streitzeitraum geltenden Fassung (aF). Zum Entgelt gehörten dabei nach §
160 aF neben Gehalt oder Lohn auch Gewinnanteile, Sach- und andere Bezüge, die der
Versicherte, wenn auch nur gewohnheitsmäßig, statt des Gehalts oder Lohnes oder
neben ihm von dem Arbeitgeber oder einem Dritten erhielt. Jedoch war eine
Beschäftigung, für die als Entgelt nur freier Unterhalt gewährt wurde, versicherungsfrei
(§ 1227 RVO aF; vgl. zum Folgenden insbesondere BSG, Urteil vom 30.11.1983, 4 RJ
87/92; vom 07.10.2004, aaO; Mentzel/Schulz/Sitzler, Kommentar zum
Versicherungsgesetz für Angestellte, 1913, § 7 Anm. 3; RVO mit Anmerkungen,
herausgegeben von Mitgliedern des Reichsversicherungsamtes, 1930, § 1227 RVO
Anm. 1 ff.). Als freier Unterhalt iS von § 1227 RVO aF ist dabei dasjenige Maß von
wirtschaftlichen Gütern anzusehen, das zur unmittelbaren Befriedigung der notwendigen
Lebensbedürfnisse des Arbeitnehmers erforderlich ist, nicht aber das, was darüber
hinausgeht. Zum freien Unterhalt gehören insbesondere Unterkunft, Beköstigung und
Kleidung. Die betreffenden Sachbezüge müssen nach Art und Maß zur Bestreitung des
freien Unterhalts geeignet und bestimmt sein. Bei Gewährung von Lebensmitteln ist
49
daher zu prüfen, ob sie nach Umfang und Art des Bedarfs unmittelbar zum Verbrauch
oder Gebrauch gegeben werden (dann freier Unterhalt) oder aber zur beliebigen
Verfügung, wie es zB bei Deputaten der Fall ist. Die Grenze des freien Unterhalts ist
insbesondere dann überschritten, wenn die gewährte Menge erheblich das Maß des
persönlichen Bedarfs übersteigt. Das ist insbesondere dann anzunehmen, wenn die
gewährten Sachbezüge ausreichen, nicht nur den freien Unterhalt des Beschäftigten
selbst, sondern auch eines nicht bei demselben Arbeitgeber beschäftigten
Familienangehörigen sicherzustellen (vgl. VDR, Kommentar zur RVO, 5. Aufl., 1954, §
1228 Rdnr. 5). Stehen Art und Umfang gewährter Lebensmittel bzw. Sachbezüge nach
Ausschöpfung aller sonstigen Beweismittel, zB der glaubhaften Angaben der Klägerin
bzw. des Klägers, vernommener Zeugen, Angaben in einem
Sachverständigengutachten oder aufgrund eindeutiger historischer Quellen nicht fest, so
kann ein entsprechender Umfang im Einzelfall als glaubhaft gemacht angesehen
werden, wenn die gute Möglichkeit besteht, dass ein Dritter, insbesondere ein
Familienangehöriger, hiervon über einen erheblichen Zeitraum zumindest entscheidend
mitversorgt worden ist (sog. Hilfskriterium bei Beweisnot; vgl. Senat, Urteil v.
06.06.2007, aaO). Da andererseits unter den freien Unterhalt iS des § 1227 RVO aF nur
Sachleistungen fallen, erfüllen Geldleistungen seine Voraussetzungen nicht, auch wenn
sie den unbedingt zum Lebensunterhalt erforderlichen Betrag nicht erreichen.
Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist nicht glaubhaft, dass die Klägerin für die von ihr
nach ihren Angaben von September bis November 1941 verrichteten
Reinigungsarbeiten und den anschließend ausgeübten Arbeiten in der
Schneiderwerkstatt mehr als Lebensmittel im Umfang lediglich freien Unterhalts erhalten
hat. Sie selbst hat im Verwaltungsverfahren angegeben, ein Mittagessen und
zusätzliche Lebensmittel als Entlohnung für die von ihr verrichtete Arbeit bekommen zu
haben. Barlohn habe sie nicht erhalten. Auf den Fragebogen des Senats hat sie
ergänzend angegeben, dass sie jeden Tag das Mittagessen und zusätzlich Proviant
zum Mitnehmen nach Hause erhalten habe. Sie habe wöchentlich Lebensmittel
erhalten: Brot, Nudeln, Grütze, Kartoffeln, Zucker. An die Mengen könne sie sich nicht
erinnern. Sie könne sich nicht an den Umfang der Lebensmittel erinnern, der ihr für den
eigenen Bedarf zur Verfügung stand. Sie sei allein im Ghetto gewesen. Aufgrund dieser
Angaben kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie über eine Verpflegung bei
der Arbeit hinaus noch Lebensmittel erhalten hat, die sie zur freien Verfügung gehabt
hätte oder zur Unterstützung von Angehörigen oder anderen Dritten hätte verwenden
können, was die Klägerin letztlich auch selbst nicht geltend gemacht hat. Deutlich wird,
dass die Verpflegung, die die Klägerin jeweils erhielt, ausschließlich für ihren
Lebensunterhalt bestimmt war und damit allenfalls die Gewährung freien Unterhalts auf
niedrigem Niveau darstellte. Dies macht auch die Schilderung der Klägerin im
Entschädigungsverfahren, im Ghetto Ostrog unter Hunger, Kälte und Entbehrungen
gelitten zu haben, deutlich. Eine äußerst schlechte Versorgungssituation wird auch von
Prof. Dr. Golczewski in seinem Gutachten vom 17.02.2007 über die Region
Reichskommissariat Ukraine beschrieben (S. 19 f des Gutachtens). Danach befriedigten
die offiziellen Zuteilungen (wenn sie denn überhaupt bereitgestellt wurden) im
allgemeinen nicht einmal die geringsten Lebensbedürfnisse, was unter anderem damit
zusammenhing, dass die Deutschen mit den landwirtschaftlichen Erträgen der Ukraine
die Reichsbevölkerung versorgten, wodurch für den Konsum der einheimischen
Bevölkerung kaum etwas übrig blieb. Die niedrigen Rationen für Ukrainer wurden für
Juden noch einmal reduziert und wurden auch nicht immer ausgeliefert.
50
Das Hilfskriterium bei Beweisnot kommt der Klägerin nicht zugute. Denn die
51
Lebensmittel, die die Klägerin als Mittagessen oder zur Mitnahme erhielt, konnten noch
nicht einmal ihren eigenen Bedarf decken. Darüber hinaus wurde von der Klägerin eine
Mitversorgung Dritter auch nicht geltend gemacht. Sie gab selbst an, allein im Ghetto
Ostrog gewesen zu sein. Eltern und Geschwister konnten sich nach ihrer Erklärung der
Klägerin gegenüber der JCC vom 24.12.2003 in die Sowjetunion Richtung Ural flüchten.
Sie wohnte zum Beginn der NS-Verfolgung bei Verwandten in Ostrog, mit denen sie ins
Ghetto geraten sei. Über deren Schicksal ist nichts bekannt. Angaben der Klägerin
hierzu fehlen. Zu weiteren Ermittlungen sieht sich der Senat im Hinblick darauf, dass
nicht einmal der eigene Lebensmittelbedarf der Klägerin gedeckt war, nicht gedrängt. Zu
Art und Umfang der Entlohnung der Klägerin können weitere Ermittlungen nicht mehr
durchgeführt werden. Die Klägerin erinnert sich nicht mehr an konkrete Mengen. Der
einzig als Zeuge in Betracht kommende F E ist am 04.07.1987 verstorben.
Unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen lässt sich noch nicht einmal im
Sinne einer Glaubhaftmachung feststellen, dass die Lebensmittel, die die Klägerin für
die von ihr verrichteten Arbeiten erhielt, Entgeltcharakter aufwiesen. Denn allzu
geringfügige Leistungen außerhalb eines jeden Verhältnisses zur erbrachten Leistung
haben keinen Entgeltcharakter (BSG, Urteil vom 07.10.2004, B 13 RJ 59/03 R). Die
Angaben der Klägerin im Entschädigungsverfahren zu ihren von Hunger, Kälte und
Entbehrungen geprägten Lebensbedingungen und die von Prof. Dr. Golczewski
dargestellten zeitgeschichtlichen Erkenntnisse zur Versorgungssituation in der Ukraine
unter der Herrschaft der deutschen Besatzer lassen nur den Schluss zu, dass die der
Klägerin gewährten Leistungen in keinem Verhältnis zu den von ihr an sieben Tagen in
der Woche und acht Stunden täglich verrichteten Reinigungs- und Näharbeiten standen.
Sie waren noch nicht einmal ausreichend, um den Unterhaltsbedarf der Klägerin zu
decken. Art und Umfang der gewährten Leistung geben Anhaltspunkte dafür, dass die
gewährte Leistung nicht als Bezahlung im Sinne einer Entlohnung der geleisteten
Arbeit, sondern nur zu Aufrechterhaltung der Arbeitskraft der Arbeitenden auf niedrigem
Niveau gedacht war.
52
Auch der sog. Anspruchstheorie ist nicht zu folgen (Senat, Urteil vom 04.07.2007, L 8 R
74/05, www.sozialgerichtsbarkeit.de). Die Anwendung der Anspruchstheorie setzt das
Bestehen eines dem Grunde nach versicherungspflichtigen
Beschäftigungsverhältnisses voraus, das durch Vereinbarung zwischen den Beteiligten
zustande kommt (vgl. BSG, Urteil vom 18.06.1997, 5 RJ 66/95). Typisch ist mithin, dass
auf beiden Seiten jeweils eigene Entschlüsse zur Beschäftigung vorliegen, die nach
dem Modell der Erklärungen bei einem Vertragsschluss geäußert werden. Nach seinem
unmittelbaren Zweck und dem daran ausgerichteten Inhalt ist das Arbeits-
/Beschäftigungsverhältnis ein Austausch wirtschaftlicher Werte iS einer
Gegenseitigkeitsbeziehung. Auszutauschende Werte sind die Arbeit einerseits sowie
das dafür zu zahlende Arbeitsentgelt - der Lohn - andererseits (BSG aaO). Eine
derartige auf den vorbeschriebenen Austausch wirtschaftlicher Werte gerichtete
Vereinbarung zwischen der Klägerin und ihrem Arbeitgeber, dem Judenrat, ist nicht iS
einer Glaubhaftmachung festzustellen. Vielmehr sprechen sämtliche Anhaltspunkte
gegen eine solche Übereinkunft. Wie bereits vorstehend dargelegt wurde, spricht die
Gewährung von derartig geringen Leistungen, die nicht einmal die Gewährung freien
Unterhalts darstellt, in Verbindung mit den historischen Erkenntnissen von der
Versorgungssituation in der Ukraine unter der deutschen Besatzung, die eine darüber
hinausgehende Leistungsgewährung auch gar nicht zuließ, dafür, dass damit nicht eine
Arbeitsleistung entgolten, also ein wirtschaftlicher Wert gewährt, sondern das Überleben
als immaterieller Wert sichergestellt werden sollte. Damit wurde ein dem Grunde nach
53
versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis nicht begründet.
Da bereits eine Beschäftigung gegen Entgelt nicht festgestellt werden kann, kann
dahinstehen, ob die weiteren Voraussetzungen einer Ghetto-Beitragszeit erfüllt sind.
54
Die von der Klägerin im Ghetto Ostrog von September 1941 bis September 1942
verrichteten Arbeiten können auch nicht nach den §§ 15, 16 FRG i. V. m. § 20 WGSVG
bzw. § 17 a FRG oder § 12 WGSVG als Versicherungszeiten angerechnet werden.
55
Die Arbeit der Klägerin im Ghetto Ostrog unterfiel nicht den
Reichsversicherungsgesetzen, da sie nicht die deutsche Staatangehörigkeit besaß. Die
Stadt Ostrog lag im damals sogenannten Reichskommissariat Ukraine, in dem die
Reichsversicherungsgesetze für Personen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit
besaßen, nicht galten (vgl. BSG, Urteil vom 23.08.2001, B 13 RJ 59/00 R, zum sog.
Generalgouvernement). Eine Anrechnung als Versicherungszeit richtet sich daher nach
den §§ 15, 16 FRG i. V. m. § 20 WGSVG bzw. § 17 a FRG. Die Voraussetzungen dieser
Vorschriften liegen jedoch nicht vor, wobei dahinstehen kann, ob die Klägerin dem dSK
angehört hat, was sie allerdings verneint hat.
56
Eine Anrechnung als Beitragszeit nach § 15 Abs. 1 FRG kommt nicht in Betracht, da
eine Beitragsentrichtung zu einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen
Rentenversicherung weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht ist. Die
Voraussetzungen des § 15 Abs. 3 FRG sind bereits deshalb nicht erfüllt, da - wie oben
bereits ausgeführt worden ist - ein nach deutschem Recht dem Grunde nach
rentenversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis nicht im Sinne einer guten
Möglichkeit festgestellt werden kann. Auch § 16 FRG greift nicht zu Gunsten der
Klägerin ein, da die von ihr ausgeübten Tätigkeiten nicht nach dem am 01.03.1957
geltenden Bundesrecht (§§ 1227, 1228 RVO n.F.) Versicherungspflicht in den
gesetzlichen Rentenversicherungen begründet hätte, wenn sie im Gebiet der BRD ohne
das Beitrittsgebiet verrichtet worden wären.
57
Da nicht im Sinne einer Glaubhaftmachung festgestellt werden kann, dass die Klägerin
eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt hat, liegen die
Voraussetzungen des § 12 WGSVG ebenfalls nicht vor.
58
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.
59
Das Gericht hat die Revision wegen seiner von dem Urteil des BSG vom 14.12.2006 (B
4 R 85/06 R) abweichenden Auslegung des Tatbestandsmerkmals "gegen Entgelt", auf
der seine Entscheidung beruht, sowie wegen der grundsätzlichen Bedeutung der
Rechtssache zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).
60