Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 10.05.2006

LSG NRW: schweigen des gesetzes, vergleich, gesetzeslücke, verwaltungsverfahren, gebühr, vergütung, einverständnis, absicht, erlass, rechtskraft

Landessozialgericht NRW, L 10 B 13/05 SB
Datum:
10.05.2006
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
10. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 10 B 13/05 SB
Vorinstanz:
Sozialgericht Detmold, S 11 SB 13/05
Sachgebiet:
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Sozialgerichts
Detmold vom 23.09.2005 wird zurückgewiesen.
Gründe:
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I.
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In dem abgeschlossenen Verfahren, in dem die Beteiligten um die Feststellung des
Grades der Behinderung mit 100 und der gesundheitlichen Voraussetzungen für die
Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "G" (erhebliche Gehbehinderung) gestritten
haben, hat das Sozialgericht (SG) mit Beschluss vom 28.08.2005 dem Kläger unter
Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten ab Klageerhebung am 03.02.2005
Prozesskostenhilfe bewilligt. Nach Einholung eines ärztlichen Befundberichts hat sich
der Beklagte bereit erklärt, ab Antragstellung die gesundheitlichen Voraussetzungen für
die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "G" festzustellen und die
erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zur Hälfte zu übernehmen.
Der Kläger hat das Angebot angenommen und den Rechtsstreit für erledigt erklärt. Er
hat die Festsetzung folgender Gebühren nach dem am 01.07.2004 in Kraft getretenen
Gesetz über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte
(Rechtsanwaltsvergütungsgesetz - RVG) beantragt:
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Verfahrensgebühr gem. §§ 2, 3, 14 RVG i.V.m. Nr. 3103 VV RVG 170,00 Euro
Terminsgebühr gem. §§ 2, 3, 14 i.V.m. Nr. 3106 VV RVG 200,00 Euro
Erledigungsgebühr gem. §§ 2, 3, 14 i.V.m. Nr. 1006 VV RVG 190,00 Euro
Auslagenpauschale gem. Nr. 7002 VV RVG 20,00 Euro 16 % Mehrwertsteuer 92,80
Euro Gesamtbetrag 672,80 Euro.
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Der Beklagte hat dagegen keine Einwendungen und angekündigt, in Kürze den
hälftigen Betrag in Höhe von 336,40 Euro zu überweisen.
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Mit Beschluss vom 20.07.2005 hat die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle die geltend
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gemachte Vergütung gegen die Landeskasse in Höhe von 220,40 Euro festgesetzt und
ausgeführt, die geltend gemacht Terminsgebühr sei nicht anzusetzen, da weder eine
gerichtliche Entscheidung noch ein Anerkenntnis vorlägen. Mit seiner Erinnerung hat
der Kläger vorgetragen, das Absetzen der Terminsgebühr nach Nr. 3106 VV RVG
widerspreche den Vergütungsgrundsätzen des RVG. Danach ersetze die
Terminsgebühr die bisherige Verhandlungs-, Erörterungs- sowie Beweisgebühr nach §
31 Abs. 1 Nr. 2 - 4 Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung (BRAGO). Sie liege mit 1,2
um 0,2 höher als bisher. Ein grundsätzlicher Wegfall der Terminsgebühr und damit eine
Schlechterstellung des Prozessbevollmächtigten entspreche nicht dem Willen des
Gesetzgebers. Es hätte insofern vielmehr eine Verbesserung eintreten sollen. Des
weiteren gelte der Grundsatz der notwendigen mündlichen Verhandlung, von dem nur
mit vorherigem Einverständnis abgewichen werden dürfe. Wenn sich jedoch wie hier die
Beteiligten einigten bzw. der Rechtsstreit durch ein (Teil)Anerkenntnis der Gegenseite
erledige, ändere dies nichts an diesem Grundsatz und berechtige nicht zur Streichung
der Terminsgebühr. Zudem sehe Nr. 3106 Ziff. 3 VV RVG eine Terminsgebühr vor,
wenn das Verfahren nach angenommenen Anerkenntnis ohne mündliche Verhandlung
ende. Gleiches folge aus Nr. 3104 Abs. 1 Ziff. 1 und 3 VV RVG. Die Terminsgebühr
solle lediglich dann entfallen, wenn gem. Nr. 3104 Abs. 3 VV RVG nicht rechtshängige
Ansprüche protokolliert werden sollten.
Das SG hat mit Beschluss am 23.09.2005 die Erinnerung zurück gewiesen und
ausgeführt, in Fällen, in denen in einem Verfahren, für das eine mündliche Verhandlung
vorgeschrieben sei, ein Vergleich geschlossen werde, sehe Nr. 3106 VV RVG eine
Terminsgebühr nicht vor. Eine etwaige analoge Anwendung der Nr. 3104 VV RVG
scheide insoweit mangels planwidriger Regelungslücke aus, da der Gesetzgeber diese
Vorschrift gerade ausdrücklich nur für anwendbar erklärt habe, soweit in Nr. 3106 VV
RVG nichts anderes bestimmt sei. Hätte er aber gewollt, dass auch in den von Nr. 3106
VV RVG erfassten Fällen die Regelungen der Nr. 3104 VV RVG Anwendung finden,
hätte er keine gesonderte Regelung treffen müssen. Es sei daher davon auszugehen,
dass der Gesetzgeber den Abschluss schriftlicher Vergleiche in Verfahren vor den
Sozialgerichten, in denen Betragsrahmengebühren entstehen, bewusst vom Erheben
einer Terminsgebühr habe ausnehmen wollen. Dafür spreche auch, dass die Regelung
der Nr. 3106 VV RVG im übrigen der Nr. 3104 VV RVG entspreche. Ebenso scheide
eine Anwendung der Nr. 3106 Ziff. 3 VV RVG aus. Unter diese Regelung falle nur ein
Anerkenntnis und nicht auch ein "Teilanerkennnis". Das folge auch aus Nr. 3104 Abs.1
VV RVG, die zwischen einem schriftlichen Vergleich, also einem gegenseitigen
Nachgeben, und einem Anerkenntnis, also dem Anerkennen des Klageanspruchs im
vollen Umfang, unterscheide. Das bewusste Ausklammern des schriftlichen Vergleichs
aus der Regelung der Nr. 3106 VV RVG könne daher nicht über die Subsumtion eines
solchen unter den Begriff des "Anerkenntnisses" umgangen werden. Es falle deshalb
lediglich eine Einigungsgebühr nach den Nrn. 1006, 1005, 1000 VV RVG an.
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Das SG hat die Beschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung der zu entscheidenden
Rechtsfrage zugelassen.
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Gegen den Beschluss hat der Kläger unter Bezugnahme auf seinen Vortrag in der
Erinnerungsschrift Beschwerde eingelegt.
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II.
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Die Beschwerde ist zulässig (§ 56 Abs. 2 Satz 1, § 33 Abs. 3 Satz 2 und 3, § 33 Abs. 4
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Satz 4 RVG)
Sie ist jedoch unbegründet.
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Vorliegend sind die Vorschriften des RVG anzuwenden, da der Auftrag zur Erledigung
der Angelegenheit nach Inkrafttreten dieses Gesetzes erteilt worden ist.
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Zu Recht hat das SG die Erinnerung des Klägers gegen den
Kostenfestsetzungsbeschluss vom 20.07.2005 zurückgewiesen. Bei der Festsetzung
der außergerichtlichen Kosten waren lediglich eine Verfahrens- und Einigungsgebühr
zu berücksichtigen. Eine Terminsgebühr ist nicht angefallen.
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Für die Bestimmung der Terminsgebühr, auch für das sozialgerichtliche Verfahren, gilt
Nr. 3104 VV RVG, die einen Gebührensatz von 1,2 der Gebühr nach § 13 RVG
bestimmt. Handelt es sich - wie hier - indes um ein sozialgerichtliches Verfahren, in dem
Beitragsrahmengebühren entstehen, findet die Spezialvorschrift der Nr. 3106 VV RVG
Anwendung, auf die in Nr. 3104 VV RVG verwiesen wird. Nach Nr. 3106 VV RVG
beträgt die Terminsgebühr 20,00 - 380,00 Euro.
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Die Terminsgebühr entsteht nach Absatz 3 der Vorbemerkung 3 VV für die Vertretung in
einem Verhandlungs-, Erörterungs- oder Beweisaufnahmetermin oder die
Wahrnehmung eines von einem gerichtlich bestellten Sachverständigen anberaumten
Termins oder die Mitwirkung an auf die Vermeidung oder Erledigung des Verfahrens
gerichteten Besprechungen ohne Beteiligung des Gerichts, wobei dies allerdings für
Besprechungen (nur) mit dem Auftraggeber nicht gilt. Der Gesetzgeber hat mit dieser
Ausweitung des Anwendungsbereichs fördern und honorieren wollen, dass der Anwalt
nach seiner Bestellung zum Verfahrens- oder Prozessbevollmächtigten in jeder Phase
des Verfahrens zu einer möglichst frühen, der Sach- und Rechtslage entsprechenden
Beendigung des Verfahrens beitragen soll. Ihm soll nach neuem Recht eine nach
früherem Recht geübte Praxis, einen gerichtlichen Verhandlungstermin anzustreben, in
dem ein ausgehandelter Vergleich nach "Erörterung der Sach- und Rechtslage"
protokolliert wird, um eine Verhandlungs- bzw. Erörterungsgebühr auszulösen, erspart
bleiben (vgl. Gesetzentwurf BT-Drucks. 15/1971, S. 209). Nach dieser Bestimmung ist
keine Terminsgebühr ausgelöst worden, auch nicht nach der dritten Alternative, weil der
Inhalt des außergerichtlichen Vergleichs nicht in entsprechenden Besprechungen
zwischen dem Prozessbevollmächtigten des Klägers und dem Beklagten abgestimmt
worden ist.
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Aber auch die in Nr. 3106 VV RVG aufgeführten Verfahrenskonstellationen sind nicht
gegeben. Danach entsteht eine Terminsgebühr auch, wenn
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1.
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in einem Verfahren, für das mündliche Verhandlung vorgeschrieben ist, im
Einverständnis mit den Parteien ohne mündliche Verhandlung entschieden wird,
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2.
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nach § 105 Abs. 1 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid
entschieden wird oder 3.das Verfahren nach angenommenem Anerkenntnis ohne
mündliche Verhandlung endet.
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Insbesondere ist das Verfahren nicht durch ein angenommenes Anerkenntnis erledigt
worden (§ 101 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Das schriftliche Regelungsangebot
des Beklagten vom 08.06.2005 stellt kein Anerkenntnis dar. Denn der Beklagte hat mit
seinem Angebot nicht dem auf Feststellung des GdB mit 100 und der gesundheitlichen
Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "G" gerichteten
Anspruch des Klägers im vollen Umfang entsprochen, sondern lediglich die
Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" zugestanden. Ob es sich
bei dem Regelungsvorschlag um ein Teilanerkenntnis oder ein Vergleichsangebot
handelt, bedarf keiner abschließenden Beurteilung. Denn Ziff. 3 der Nr. 3106 VV RVG
meint ein Anerkenntnis, dessen Annahme den Rechtsstreit erledigt. Die bloße Annahme
des Vorschlages, die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des
Nachteilsausgleichs "G" festzustellen, hätte den Rechtsstreit nicht beendet. Dazu war
vielmehr noch die Abgabe einer prozessbeendenden Erklärung erforderlich. Dies ist
durch Erledigungserklärung des Klägers erfolgt.
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Eine der Nr. 3104 Abs. 1 Ziff. 1 3. Alt. VV RVG entsprechende Regelung - Entstehen
einer Terminsgebühr auch in den Fällen, in denen in einem Verfahren, für das
mündliche Verhandlung vorgesehen ist, ein schriftlicher Vergleich geschlossen wird -
enthält die Spezialvorschrift der Nr. 3106 VV RVG nicht. Daraus darf aber nicht der
Schluss gezogen werden, dass insoweit eine Gesetzeslücke besteht, die im Wege der
Rechtsprechung geschlossen werden könnte. Zur Ausfüllung von Regelungslücken
sind die Richter nur berufen, wenn das Gesetz mit Absicht schweigt, weil es der
Rechtsprechung überlassen wollte, das Recht zu finden, oder das Schweigen des
Gesetzes auf einem Versehen oder darauf beruht, dass sich der nicht geregelte
Tatbestand erst nach Erlass des Gesetzes durch eine Veränderung der
Lebensverhältnisse ergeben hat (BSG, Urteil vom 10.05.1995 – 1 RK 20/94 -, BSGE 76,
109 ff.; Senatsbeschluss vom 04.09.2002 - L 10 B 2/02 KA ER -). Weder liegt hier ein
absichtliches oder ein versehentliches Schweigen des Gesetzes vor, noch ist nach
Inkrafttreten des RVG eine Gesetzeslücke durch eine Änderung tatsächlicher Umstände
eingetreten. Der Gesetzgeber hat vielmehr ausdrücklich in Nr. 3104 VV RVG auf die
Spezialvorschrift der Nr. 3106 VV RVG verwiesen, sofern es sich um ein
sozialgerichtliches Verfahren handelt, in dem Betragsrahmengebühren entstehen. Hätte
er eine der Nr. 3104 Abs. 1 Ziff. 1 3. Alt. VV RVG entsprechende Vorschrift auch für
diese sozialgerichtlichen Verfahren treffen wollen, hätte er - wie er das hinsichtlich Nr.
3104 Abs. 1 Ziff. 3 ( "Die Gebühr entsteht auch, wenn ... das Verfahren vor dem
Sozialgericht nach angenommenen Anerkenntnis ohne mündliche Verhandlung
angenommen endet") geregelt hat - eine entsprechende Regelung in der Nr. 3106 VV
RVG treffen können. Im übrigen ist der Prozessbevollmächtigte entgegen seiner
Auffassung durch diese Regelung nicht schlechter gestellt als vor Inkrafttreten des RVG.
Nach § 116 der zuvor geltenden BRAGO wurde die Tätigkeit des Rechtsanwaltes in
Verfahren, in denen Beitragsrahmengebühren entstehen, nur mit einem
Gebührenrahmen abgerechnet. Das bedeutete für das vorliegende erstinstanzliche
Verfahren, dass bei der Berechnung der außergerichtlichen Kosten von einer
Mittelgebühr von 355,00 Euro ausgegangen worden wäre (§ 116 Abs.1 Ziff. 1 BRAGO:
Rahmen 50,00 - 660,00 Euro). Die Kostenbeamtin des SG hat ihrer Berechnung nach
dem RVG - ebenfalls unter Berücksichtigung einer Mittelgebühr - eine Verfahrensgebühr
von 170,00 Euro ( Nr. 3103 VV RVG: Rahmen 20,00 - 320,00 Euro) und eine
Einigungsgebühr von 190,00 Euro (Nr. 1006 VV RVG: Rahmen 30,00 – 350,00 Euro),
insgesamt also 360,00 Euro, zugrunde gelegt.
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Hinsichtlich der Verfahrensgebühr ist anzumerken: Diese bestimmt sich in Verfahren vor
den Sozialgerichten, in denen Betragsrahmengebühren entstehen, nach der Nr. 3102
und - wenn eine Tätigkeit im Verwaltungsverfahren oder im Weiteren, der Nachprüfung
des Verwaltungsakts dienenden Verwaltungsverfahren vorausgegangen ist - nach der
Nr. 3103 VV RVG. Ob und inwieweit das hier der Fall ist, lässt sich der Streitakte nicht
entnehmen. Die Verwaltungsakten liegen nicht vor. Unabhängig hiervon stellt sich die
Frage, ob die Nr. 3102 VV RVG im Verfahren, in dem Prozesskostenhilfe bewilligt
worden ist, überhaupt Anwendung findet. Letztlich kann all dies dahin gestellt bleiben,
weil der Prozessbevollmächtigte des Klägers ausdrücklich eine Verfahrensgebühr nach
Nr. 3103 VV RVG geltend gemacht hat.
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Dieser Beschluss kann mit der Beschwerde nicht angefochten werden (§ 177 SGG).
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