Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 25.03.2003

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Landessozialgericht NRW, L 1 AL 43/02
Datum:
25.03.2003
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
1. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 1 AL 43/02
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 30 AL 231/01
Sachgebiet:
Arbeitslosenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund
vom 11.03.2002 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
1
Der am ...1943 geborene Kläger begehrt ab 17.07.2001 Arbeitslosengeld (Alg) anstelle
der ihm bewilligten Arbeitslosenhilfe. Umstritten ist, ob er sich entgegenhalten lassen
muss, der Anspruch auf Alg sei nach § 147 Abs. 2 SGB III erloschen.
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Ihm war ab 02.10.1995 Alg für 676 Wochentage bewilligt worden. Diese Leistung bezog
er zunächst bis zum 30.03.1996.
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Vom 01.04. bis 30.10.1996 war der Kläger als Geschäftsführer bei der D ...
Schaltschrankbau GmbH angestellt. Für die Zeit dieser Beschäftigung nahm die AOK
Halle Beiträge zur gesetzlichen Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung
entgegen. Am 30.10.1996 wurde die D ... Schaltschrankbau GmbH von der D ...
Geräteindustrie GmbH übernommen, an deren Stammkapital der Kläger mit einem
Geschäftsanteil von 35 Prozent beteiligt war. Er war zudem einer von zwei allein
vertretungsberechtigten Geschäftsführern der neuen Gesellschaft und unterlag nach
seinen eigenen Angaben - zuletzt im Verhandlungstermin bei dem Sozialgericht am
11.03.2002 - in seinem Aufgabenbereich (Marketing, Vertrieb, Informationstechnik und
Entwicklung) keinerlei Weisungen. Die AOK Halle verneinte deshalb die Beitragspflicht
des Klägers ab 31.10.1996.
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Nach der Insolvenz der D ... Geräteindustrie GmbH bezog der Kläger aufgrund des am
02.10.1995 erworbenen Anspruchs vom 16.03. bis 18.04.1999 Alg. Vom 19.04. bis
30.06.1999 war er bei der H.-J. B ... GmbH in Hille als Bereichsleiter
versicherungspflichtig beschäftigt. Hier war er ab Mitte Mai 1999 von der Erbringung der
Arbeitsleistung freigestellt.
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Bereits mit Schreiben vom 31.05.1999 hatte der Kläger dem Direktor des Arbeitsamtes S
... seine Absicht mitgeteilt, sich selbständig zu machen. Er bat um Benennung eines
Ansprechpartners beim Arbeitsamt. Daraufhin fand Anfang Juni 1999 ein erstes
Beratungsgespräch mit dem Arbeitsberater K ... statt. Dem Kläger wurde bei dieser
Gelegenheit das Merkblatt "Hinweise und Hilfen für Existenzgründer" (Ausgabe 1998)
ausgehändigt.
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Am 14.06.1999 meldete sich der Kläger mit Wirkung ab 01.07.1999 arbeitslos und
beantragte Alg, das ihm am 29.07.1999 für die Zeit vom 01. bis 31.07.1999 bewilligt
wurde. Dem Kläger verblieb danach ein Restanspruch von 542 Wochentagen.
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Ebenfalls am 14.06.1999 beantragte der Kläger Überbrückungsgeld zur Aufnahme einer
selbständigen Tätigkeit als Unternehmensberater ab 01.08.1999. Mit der Rückgabe des
ausgefüllten Antragsformulars am 21.06.1999 legte er eine "Kurzbeschreibung der
Unternehmensgründung" vom 17.06.1999, einen Lebenslauf, ein umfassendes
Unternehmenskonzept, einen mit dem Datum 10.06.1999 sowie der Firmenbezeichnung
"ProMediadienste IT-Consulting und Dienstleistung", der Anschrift, der Telefon- und
Faxnummer, der E-mail Adresse und der Bankverbindung versehenen Briefbogen des
künftigen Unternehmens und die Stellungnahme einer fachkundigen Stelle - nämlich
des Steuerberaters B ... - zur Tragfähigkeit der Existenzgründung nach § 57 Abs. 2 Nr. 2
SGB III vor. Schließlich reichte der Kläger am 24.06.1999 eine Bescheinigung des
Finanzamtes S ... über die Anmeldung seiner selbständigen Tätigkeit ab 01.08.1999
nach. Darauf hin bewilligte die Beklagte dem Kläger Überbrückungsgeld als Zuschuss
für die Zeit vom 01.08.1999 bis 31.01.2000 in Höhe von 5.782,95 DM monatlich.
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Im Laufe des Monats Juli 2001 gab der Kläger seine selbständige Tätigkeit aus
wirtschaftlichen Gründen auf. Er meldete sich am 17.07.2001 arbeitslos und beantragte
Alg. Mit Bescheid vom 21.08.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
24.09.2001 lehnte die Beklagte die Gewährung von Alg mit der Begründung ab, der am
02.10.1995 erworbene Anspruch könne nach § 147 Abs. 2 SGB III nicht mehr geltend
gemacht werden, weil seit seiner Entstehung vier Jahre verstrichen seien. Der Kläger
habe seitdem auch nicht die Anwartschaftszeit für einen neuen Anspruch auf Alg erfüllt.
Die Beklagte gewährte dem Kläger stattdessen ab 17.07.2001 Arbeitslosenhilfe in Höhe
von 722,26 DM wöchentlich.
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Mit seiner am 12.10.2001 erhobenen Klage hat der Kläger den geltend gemachten
Anspruch auf Alg weiterverfolgt. Den Hinweis auf Seite 7 des Merkblatts für
Existenzgründer ("Sollte die selbständige Tätigkeit aufgegeben werden und tritt erneut
Arbeitslosigkeit ein, kann der Anspruch auf Alg wieder geltend gemacht werden, wenn
nach seiner Entstehung noch keine vier Jahre verstrichen sind"), habe er so verstanden,
dass die dort genannte Frist jeweils mit der letzten Bewilligung der Leistung beginne.
Auf die Idee, dass sein Anspruch auf Alg schon mit dem Beginn der ersten Zahlung am
02.10.1995 in diesem Sinne "entstanden" sein könnte, sei er nicht gekommen. Der
Arbeitsberater K ... habe ihn hierauf auch nicht hingewiesen. Andernfalls wäre er - so hat
der Kläger behauptet - das Risiko der Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit nicht
eingegangen.
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Durch Urteil vom 11.03.2002 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Auf die
Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.
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Die Entscheidung des Sozialgerichts ist dem Kläger am 21.03.2002 durch Niederlegung
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zugestellt worden. Der Postbedienstete hat beurkundet, die entsprechende
Benachrichtigung in den Hausbriefkasten eingelegt zu haben.
Mit Telefax vom 18.06.2002 hat der Kläger gerügt, er habe noch keine Ausfertigung des
Urteils des Sozialgerichts erhalten. Er wolle die Entscheidung anfechten. Mit Schreiben
vom 21.06.2002 hat das Sozialgericht den Kläger auf die bereits bewirkte Zustellung
hingewiesen.
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Am 25.06.2002 hat der Kläger Berufung gegen das Urteil vom 11.03.2002 eingelegt und
wegen der Versäumung der Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
beantragt. Er behauptet, in seinem Briefkasten keinen Benachrichtigungszettel über die
Niederlegung vorgefunden zu haben. In der Sache macht der Kläger geltend, er müsse
im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so gestellt werden, als sei sein
Anspruch auf Alg zum Zeitpunkt der Arbeitslosmeldung am 17.07.2001 noch nicht
erloschen gewesen. Die Beklagte habe es pflichtwidrig unterlassen, ihn über den Ablauf
der Verfallsfrist des § 147 Abs. 2 SGB III aufzuklären. Allein durch die Aushändigung
des seiner Meinung nach mißverständlich formulierten Merkblattes für Existenzgründer
sei die Beklagte ihrer Beratungspflicht nicht nachgekommen. Angesichts des
Umstandes, dass der Ablauf der Frist im Sommer 1999 schon unmittelbar bevor
gestanden habe, und unter Berücksichtigung der Risiken einer Existenzgründung, habe
sich ein weitergehender Beratungsbedarf aufgedrängt.
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Der Kläger beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 11.03.2002 zu ändern und die Beklagte
unter Aufhebung ihres Bescheides vom 21.08.2001 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 24.09.2001 zu verurteilen, ihm ab 17.07.2001 anstelle
der gezahlten Arbeitslosenhilfe Arbeitslosengeld zu bewilligen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie sieht die Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs als nicht
erfüllt an.
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Zu der Frage, ob dem Kläger wegen der Versäumung der Berufungsfrist
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist, hat der Senat Beweis erhoben
durch die Vernehmung der Ehefrau des Klägers. Deren Aussage ergibt sich aus der
Sitzungsniederschrift vom 29.08.2002, auf die Bezug genommen wird.
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Der Arbeitsberater K ..., der den Beweisaufnahmetermin am 29.08.2002 nicht
wahrnehmen konnte, hat dem Berichterstatter am 27.08.2002 fernmündlich mitgeteilt,
dass ihm bei der Beratung des Klägers im Juni 1999 das Datum der Entstehung des
Anspruchs des Klägers auf Alg wahrscheinlich nicht gegenwärtig gewesen sei.
Gesprochen worden sei über diese Frage sicherlich nicht. Da die Existenzgründung
schon umfassend vorbereitet gewesen sei, habe er die Aushändigung des Merkblatts für
Existenzgründer für ausreichend gehalten. Er habe keinen Anlass gesehen, den Kläger
von seiner Entscheidung, sich selbständig zu machen, abzuhalten. Der Beginn der
selbständigen Tätigkeit sei nur deshalb auf den 01.08. - und nicht schon den 01.07.1999
- gelegt worden, damit der Kläger durch den einmonatigen Vorbezug von Alg die
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Förderungsvoraussetzungen des § 57 Abs. 2 Nr. 1 SGB III in der bis 31.12.2001 gültigen
Fassung habe erfüllen können. Die in der Sitzungsniederschrift vom 29.08.2002
protokollierten Angaben des Arbeitsberaters K ... haben die Beteiligten nicht in Zweifel
gezogen.
Zur weiteren Sachverhaltsdarstellung bezüglich des Vorbringens der Beteiligten im
Einzelnen wird auf die Prozessakte und die Leistungsakte der Beklagten Bezug
genommen. Der Inhalt dieser Akten ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Berufung des Klägers ist zulässig. Sie ist zwar erst am 25.06.2002 eingegangen
und somit entgegen der Bestimmung des § 151 SGG nicht innerhalb eines Monates
nach der Zustellung des mit einer zutreffenden Rechtsmittelbelehrung versehenen
Urteils des Sozialgerichts vom 11.03.2002 am 21.03.2002 eingelegt worden. Dem
Kläger war aber auf seinen Antrag vom 25.06.2002 Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand zu gewähren, denn er war nach den Feststellungen des Senats ohne
Verschulden gehindert, die Berufungsfrist einzuhalten (§ 67 Abs. 1 SGG). Er hat
glaubhaft gemacht, den Benachrichtigungszettel des Postbediensteten über die am
21.03.2002 bewirkte Niederlegung des Urteils in seinem Briefkasten nicht vorgefunden
zu haben. Seine Ehefrau hat dies in ihrer Zeugenaussage nachvollziehbar bestätigt. Für
die Darstellung des Klägers spricht auch sein Telefax vom 18.06.2002, mit dem er beim
Sozialgericht die Zustellung des Urteils unter Hinweis darauf angemahnt hat, dass er
dagegen Berufung einlegen wolle. Die Angaben des Klägers und seiner Ehefrau stehen
schließlich nicht in einem unauflösbaren Widerspruch zur Beurkundung des
Postbediensteten, die Benachrichtigung über die Niederlegung in den Hausbriefkasten
eingelegt zu haben. Es lässt sich nämlich nicht ausschliessen, dass der
Benachrichtigungszettel zwischen der übrigen Post, Zeitungen und Werbung übersehen
worden und dann verloren gegangen ist, ohne dass dem Kläger oder seiner Ehefrau ein
Verschulden anzulasten wäre.
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Das Rechtsmittel ist aber nicht begründet. Der geltend gemachte Anspruch auf Alg steht
dem Kläger nicht zu.
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Durch seine Arbeitslosmeldung und Antragstellung vom 17.07.2001 hat er keinen
(neuen) Anspruch auf Alg im Sinne von § 117 Abs. 1 SGB III erworben. Er hat die
Anwartschaftszeit (§ 117 Abs. 1 Nr. 3 SGB III) nicht erfüllt, denn er hat in der Rahmenfrist
nicht mindestens 12 Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden (§ 123
Satz 1 Nr. 1 SGB III). In die dreijährige Rahmenfrist werden Zeiten einer mindestens 15
Stunden wöchentlich umfassenden selbständigen Tätigkeit nicht eingerechnet (§ 124
Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB III). Sie ist aber auch dann auf höchstens fünf Jahre begrenzt (§
124 Abs. 3 Satz 2 SGB III) und erstreckt sich deshalb hier allenfalls vom 17.07.1996 bis
16.07.2001. In dieser Zeit übte der Kläger bis zum 30.10.1996 und vom 19.04. bis
30.06.1999, insgesamt also nur etwa ein halbes Jahr, eine versicherungspflichtige
Tätigkeit aus. Ab 31.10.1996 hat die AOK Halle zu Recht ein
Versicherungspflichtverhältnis verneint. Es fehlte ab diesem Zeitpunkt die persönliche
Abhängigkeit des Klägers von einem Arbeitgeber. So hat er auch auf die Fragen des
Sozialgerichts im Termin am 11.03.2002 erklärt, als Gesellschafter und Geschäftsführer
der D ... Geräteindustrie GmbH in seinem eigenen Aufgabenbereich selbständig
gearbeitet und keinen Weisungen unterlegen zu haben. Eine abhängige und damit
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versicherungspflichtige Beschäftigung (§ 25 SGB III) setzt aber die
Weisungsunterworfenheit hinsichtlich Ort, Zeit, Art und Ausführung der Arbeit voraus,
die auch bei Diensten höherer Art nicht vollständig entfallen darf. Kann ein
Geschäftsführer - wie der Kläger - seine Tätigkeit im Wesentlichen frei gestalten, ist er
dem für die persönliche Abhängigkeit ausschlaggebenden Direktionsrecht der
Gesellschaft in Bezug auf die Ausführung seiner Arbeit nicht unterworfen (vgl. BSG
SozR 4100 § 104 Nr. 8 m.w.N.). Dies hat der Kläger trotz Thematisierung durch das
Sozialgericht auch im Berufungsverfahren nicht in Frage gestellt, weshalb der Senat
insoweit keine Veranlassung zu weiteren Feststellungen gesehen hat.
Rechte aus dem am 02.10.1995 erworbenen Anspruch auf Alg konnte der Kläger am
17.07.2001 nicht mehr herleiten. Zwar war ihm hieraus am 31.07.1999 ein Restanspruch
von 542 Wochentagen verblieben. Diesen Anspruch konnte er aber mit der
Arbeitslosmeldung und Antragstellung am 17.07.2001 nach § 147 Abs. 2 SGB III nicht
mehr geltend machen, weil zu diesem Zeitpunkt seit seiner Entstehung vier Jahre
verstrichen waren. Die Frist beginnt mit dem Erwerb des Stammrechts - hier am
02.10.1995 - (vgl. Niesel, SGB III, 2. Aufl., § 147 Rdn. 4). Sie stellt eine Ausschlussfrist
dar, die ohne Hemmungs- und Unterbrechungsmöglichkeit abläuft (BSG SozR 4100 §
125 Nr. 3). Dabei handelt es sich um eine eigentumsrechtlich unbedenkliche Regelung
im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG (BSG SozR 4100 § 7 Nr. 4).
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Entgegen der Auffassung des Klägers ist von der Rechtswirkung des Erlöschens des
am 02.10.1995 erworbenen Anspruchs auf Alg auch nicht deshalb abzusehen, weil der
Kläger im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so gestellt werden
müsste, als habe er den Anspruch wirksam noch vor Ablauf der Verfallsfrist des § 147
Abs. 2 SGB III geltend gemacht. Ob sich durch die Anwendung dieser Rechtsfigur der
Untergang des Anspruchs überhaupt aus der Welt schaffen lässt (vom BSG bejaht in
SozR 4100 § 125 Nr. 3, aber in Frage gestellt und letztlich offengelassen in SozR 3-
4100 § 125 Nr. 1), muss hier nicht entschieden werden. Der Beklagten kann jedenfalls
nicht - wie für den Herstellungsanspruch vorausgesetzt - die Verletzung einer aus dem
Sozialrechtsverhältnis erwachsenen Nebenpflicht vorgeworfen werden.
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Eine allgemeine Pflicht der Beklagten, Leistungsbezieher regelmässig über den Ablauf
der Verfallsfrist des § 147 Abs. 2 SGB III aufzuklären, besteht nicht (BSG SozR 4100 §
125 Nr. 3 und SozR 3-4100 § 125 Nr. 1). Gleichwohl hat der Arbeitsberater K ... dem
Kläger im Juni 1999 das Merkblatt für Existenzgründer ausgehändigt, das zutreffend den
Wortlaut des § 147 Abs. 2 SGB III wiedergibt. Die Beklagte hat allerdings stets
individuell zu beraten, wenn der Anspruchsinhaber einen entsprechenden Wunsch
erkennen lässt. Der Kläger hat einen über das Merkblatt hinausgehenden
Beratungsbedarf nicht angemeldet. Er gibt nämlich an, den Hinweis im Merkblatt so
verstanden zu haben, dass die dort genannte Frist jeweils mit der letzten Bewilligung
der Leistung beginne. Auf die Idee, dass der Anspruch auf Alg schon mit dem Beginn
der ersten Zah lung am 02.10.1995 entstanden sein könnte, sei er gar nicht gekommen.
Ohne eine entsprechende Nachfrage musste sich dem Arbeitsberater ein weitergehen
der Beratungsbedarf auch nicht aufdrängen. Zwar stand der Verfall des am 02.10.1995
erworbenen Anspruchs auf Alg im Juli 1999 kurz bevor. Der Kläger hatte seinem
Arbeitsberater aber schon vor dem Eintritt der Arbeitslosigkeit zum 01.07.1999 ein
tragfähiges Konzept für eine Existenzgründung vorgelegt. Das Ziel des vom Klägers
vermißten Hinweises auf die Tragweite des § 147 Abs. 2 SGB III hätte daher allein darin
bestehen können, trotz des schon entwickelten Konzepts für eine selbständige Tätigkeit
des Klägers als Unternehmensberater den Weg zur Inanspruchnahme von Alg zu
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eröffnen. Der Zweck der Beratung darf aber nicht im Widerspruch zu den gesetzlichen
Aufgaben des Sozialleistungsträgers stehen (BSG SozR 3-4100 § 125 Nr. 1). Nach § 1
Abs. 1 Satz 2 SGB III sind die Leistungen der Arbeitsförderung darauf auszurichten, das
Entstehen von Arbeitslosigkeit zu vermeiden oder die Dauer der Arbeitslosigkeit zu
verkürzen. § 4 SGB III statuiert den Vorrang der Vermittlung: Entgeltersatzleistungen bei
Arbeitslosigkeit - also insbesondere Alg und Arbeitslosenhilfe - sind nur nachrangig zu
erbringen. Ein Vorwurf könnte dem Arbeitsberater K ... allenfalls dann gemacht werden,
wenn das vom Kläger vorgelegte Konzept für eine Unternehmensgründung "auf
tönernen Füßen" gestanden hätte. Das Gegenteil war aber der Fall. Der Kläger verfügt
über umfassende Erfahrungen auf den Gebieten Marketing, Vertrieb,
Informationstechnik und Entwicklung. Schon im Juni 1999 - also vor Ablauf seines
Beschäftigungsverhältnisses bei der H.-J. B ... GmbH am 30.06.1999 - legte er ein
professionell aufgemachtes Unternehmenskonzept für die "ProMediadienste IT-
Consulting und Dienstleistung" mit Marktanalyse, Umsatzzielen und Kostenplanung vor.
Außerdem präsentierte er den Briefbogen seines künftigen Unternehmens, die
Stellungnahme einer fachkundigen Stelle zur Tragfähigkeit der Existenzgründung nach
§ 57 Abs. 2 Nr. 2 SGB III und eine Bescheinigung des Finanzamtes S ... über die
Anmeldung der Unternehmensberatung ab 01.08.1999. Tatsächlich plante der Kläger
die Aufnahme seiner selbständigen Tätigkeit zum 01.07.1999, so dass er überhaupt
nicht arbeitslos geworden wäre. So hat er mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom
03.12.2002 die Aussage des Arbeitsberaters K ... bestätigt, der Beginn der
selbständigen Tätigkeit sei nur deshalb auf den 01.08.1999 verschoben worden, um
durch den einmonatigen Vorbezug von Alg die Förderungsvoraussetzungen des § 57
Abs. 2 Nr. 1 SGB III in der bis 31.12.2001 gültigen Fassung zu erfüllen.
Nach alledem musste sich dem Arbeitsberater ein weitergehender Beratungsbedarf zur
Tragweite der Verfallsklausel des § 147 Abs. 2 SGB III nicht auf drängen. Dies gilt
umsomehr, als dem Kläger - anders als dem von der Entscheidung des BSG SozR 3-
4100 § 125 Nr. 1 betroffenen Arbeitslosen - der Anspruch auf Anschlussarbeitslosenhilfe
erhalten blieb, weil sich die hierfür maßgebliche Vorfrist nach § 192 Satz 2 Nr. 2 SGB III
um die Zeiten der selbständigen Tätigkeit verlängert hat.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG)
sind nicht erfüllt.
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