Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 28.09.2009

LSG NRW (antragsteller, psychiatrische untersuchung, aufschiebende wirkung, ärztliche untersuchung, sgg, untersuchung, beschwerde, erwerbsfähigkeit, wirkung, höhe)

Landessozialgericht NRW, L 19 B 255/09 AS ER
Datum:
28.09.2009
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
19. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 19 B 255/09 AS ER
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 14 AS 186/09 ER
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des
Sozialgerichts Dortmund vom 22.07.2009 geändert. Die
Antragsgegnerin wird vorläufig verpflichtet, dem Antragsteller Leistungen
in Höhe von monatlich 551,00 EUR für die Zeit vom 08.06.2009 bis zum
31.10.2009 zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde
zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des
Antragstellers in beiden Rechtszügen. Dem Antragsteller wird für das
Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von
Rechtsanwalt S bewilligt.
Gründe:
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Die Antragsgegnerin bewilligte dem Antragsteller zuletzt bis zum 31.05.2009
Grundsicherungsleistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Zur
Feststellung der Erwerbsfähigkeit des Antragstellers veranlasste die Antragsgegnerin
eine amtsärztliche Untersuchung. Nach einem Vermerk der Antragsgegnerin kam die
Gutachterin Dr. U zu dem Ergebnis, dass eine fachneurologische/psychiatrische
Zusatzuntersuchung des Antragstellers notwendig sei. Eine solche Untersuchung
verweigerte der Antragsteller. Nachdem die Antragsgegnerin ihn ergebnislos
aufgefordert hatte, das amtsärztliche Gutachten der Dr. U einzureichen, versagte sie die
Bewilligung von Leistungen ab dem 01.06.2009 (Bescheid vom 19.06.2009).
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Am 08.06.2009 hat der Antragsteller beim Sozialgericht (SG) Dortmund um vorläufige
Verpflichtung der Antragsgegnerin auf Zahlung der Grundsicherungsleistungen
nachgesucht.
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Mit Beschluss vom 22.07.2009 hat das SG den Antrag abgelehnt, weil der Antragsteller
seinen Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen sei und die Unaufklärbarkeit seiner
Erwerbsfähigkeit zu seinen Lasten gehe.
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Die dagegen gerichtete Beschwerde ist zulässig und im Wesentlichen begründet.
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Die Antragsgegnerin ist vorläufig zu verpflichten, dem Antragsteller
Grundsicherungsleistungen ab Antragstellung bei Gericht (08.06.2009) zu gewähren.
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Nach § 86 b Abs. 2 S. 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines
vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine
solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
Anordnungsanspruch - ein in der Hauptsache durchsetzbarer Rechtsanspruch - sowie
Anordnungsgrund - Eilbedürftigkeit der gerichtlichen Entscheidung - sind glaubhaft zu
machen (§ 86 b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO -). Dies
ist vorliegend der Fall.
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Dem erforderlichen Anordnungsanspruch steht zunächst nicht die Wirkung des
Versagungsbescheides vom 19.06.2009 entgegen. Ob der Widerspruch - ein solcher ist
jedenfalls in dem Fax des Antragstellers vom 27.06.2009 im vorliegenden Verfahren zu
sehen - gegen den Bescheid vom 19.06.2009 aufschiebende Wirkung entfaltet oder ob
diese nach § 39 SGB II ausgeschlossen ist, kann dahinstehen. Dieser Bescheid erweist
sich nämlich als rechtswidrig, so dass er dem vorläufigen Leistungsbegehren nicht
entgegensteht.
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Der Versagungsbescheid ist allerdings entgegen der Auffassung des Antragstellers
nicht deshalb rechtswidrig, weil er berechtigt ist, eine neurologisch/psychiatrische
Untersuchung zu verweigern. Vielmehr ordnet § 62 SGB I an, dass derjenige, der
Sozialleistungen beantragt oder erhält, sich auf Verlangen des zuständigen
Leistungsträgers ärztlichen und psychologischen Untersuchungsmaßnahmen
unterziehen soll, soweit diese für die Entscheidung über die Leistungen erforderlich
sind. Die Erforderlichkeit einer solchen Untersuchung ist zum einen durch die von der
Antragsgegnerin eingeschaltete Amtsärztin Dr. U bestätigt worden. Zum anderen
zweifelt auch der Senat, der bereits mit einem weiteren Verfahren des Antragstellers
befasst war, angesichts der Art und Weise des Ausdrucks und Verhaltens des
Antragstellers nicht an der Notwendigkeit einer solchen Untersuchung. Die
Antragsgegnerin kann auch nicht auf die Erstellung eines Aktengutachtens als
einfacheres Mittel verwiesen werden, weil nicht ersichtlich ist, dass bezüglich des
Gesundheitszustandes des Antragstellers hinreichende Befunde aktenkundig sind.
Unter diesen Umständen ist der Antragsteller verpflichtet, dem Verlangen der
Antragsgegnerin auf ärztliche Untersuchung und Freigabe der medizinischen
Untersuchungsergebnisse nachzukommen; andernfalls ist diese berechtigt, nach § 66
SGB I die Leistungen zu versagen (vgl. BSG, Urt. v. 20.10.2005 - B 7a / 7 AL 102/04 R =
juris Rn 16).
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Der Versagungsbescheid erscheint gleichwohl rechtswidrig, weil die Entscheidung über
die Versagung, die nur nach Fristsetzung mit Wirkung für die Zukunft möglich ist, im
Ermessen der Behörde steht (BSG wie zuvor; BSG Urt. v. 22.02.1995 - 4 RA 44/94 =
SozR 3 - 1200 § 66 Nr. 3 S. 13 f; Becker, jurisPR-SozR 5/2006 Anm. 1). Abgesehen
davon, dass die Antragsgegnerin den Antragsteller zur Freigabe des Gutachtens von
Frau Dr. U aufgefordert hat, welches nach ihrem eigenen Aktenvermerk gar nicht erstellt
werden konnte, hat die Antragsgegnerin von dem ihr eingeräumten Ermessen keinerlei
Gebrauch gemacht. Da auch eine Ermessensreduzierung auf Null zu Lasten des
Antragstellers nicht vorliegt - mindestens Zeitpunkt und Höhe der Versagung können
nicht als vorgegeben angesehen werden -, ist die Versagung rechtswidrig und daher
nicht geeignet, dem Leistungsbegehren des Antragstellers entgegen gehalten zu
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werden.
Allerdings setzt der Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II
Erwerbsfähigkeit voraus (§ 7 S. 1 Nr. 2 SGB II), die derzeit gerade nicht festgestellt und
für die der Antragsteller auch letztlich beweispflichtig ist. Jedoch besteht für den Fall,
dass die Erwerbsfähigkeit des Antragstellers seit Juni 2009 nicht (mehr) vorliegt, kein
Zweifel, dass er im Hinblick auf seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse
Anspruch auf Sozialhilfe nach dem SGB XII hat. Da diese der Höhe nach mit den hier
streitigen Leistungen im Wesentlichen deckungsgleich ist und aus der Bestimmung des
§ 44 a Abs. 1 S. 3 SGB II die regelmäßige Vorleistungspflicht des SGB II-
Leistungsträgers bei Streitigkeiten über die Erwerbsfähigkeit folgt, erscheint zur
Sicherung des Lebensunterhalts die vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin
angezeigt, zumal dieser gegebenenfalls ein Erstattungsanspruch gegen den SGB XII-
Leistungsträger erwächst.
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Im Hinblick auf die völlige Mittellosigkeit des Antragstellers sieht der Senat auch den
erforderlichen Anordnungsgrund als glaubhaft gemacht an.
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Nicht begründet ist die Beschwerde dagegen, soweit der Antragsteller Leistungen für
die Zeit vor Nachsuchen um gerichtlichen Rechtsschutz (01. - 07.06.2009) begehrt. Eine
rückwirkende vorläufige Regelungsanordnung erscheint regelmäßig, sofern - wie auch
hier nicht - keine Besonderheiten geltend gemacht werden, als nicht angezeigt (ständige
Rechtsprechung des Senats sowie einhellige Meinung, vgl. Düring in Jansen,
Kommentar zum SGG, 3. Aufl., § 86 b Rn 29 m.w.N.).
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Der Beschwerde des Antragstellers ist daher im Wesentlichen mit der auf einer
entsprechenden Anwendung des § 193 SGG beruhenden Kostenentscheidung zu
entsprechen.
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Da die Beschwerde demzufolge hinreichende Erfolgsaussicht im Sinne der §§ 73a Abs.
1 SGG, 114 ZPO bietet, und der Antragsteller nicht in der Lage ist, die Kosten der
Prozessführung auch nur teilweise aufzubringen, ist ihm ratenfreie Prozesskostenhilfe
zu bewilligen.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
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