Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 14.05.2008

LSG NRW: anspruch auf rechtliches gehör, degenerative veränderung, zustellung, vietnam, tinnitus, gefahr, internet, behinderung, schriftstück, kreis

Landessozialgericht NRW, L 6 (7) SB 192/06
Datum:
14.05.2008
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
6. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 6 (7) SB 192/06
Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 24 SB 40/05
Sachgebiet:
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom
24. Oktober 2006 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch im zweiten
Rechtszug nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
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Umstritten ist, ob der Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für die
Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "RF" (Befreiung von der
Rundfunkgebührenpflicht) erfüllt.
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Dem 1954 geborenen Kläger wurde mit Bescheid vom 23.01.1996 ein Grad der
Behinderung (GdB) von 80 zuerkannt wegen:
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1. Seelische Erkrankung (80)
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2. rechtsseitige Schwerhörigkeit mit Tinnitus ohne Gleichgewichtsstörungen (20)
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3. Rechts-linkskonvexe Seitverbiegung der Wirbelsäule, degenerative Veränderung mit
Bewegungseinschränkung an der Wirbelsäule, Beinverkürzung links (20).
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Im Juni 2004 beantragte der Kläger unter Beifügung eines im Rentenstreitverfahren vor
dem Sozialgericht (SG) Köln, S 8 J 101/94, erstellten nervenärztlichen Gutachtens des
Dr. C vom 24.08.1995 die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "RF". Nach
Auswertung beigezogener Befundberichte des praktischen Arztes X und des Arztes für
Neurologie und Psychiatrie L, dem u.a. einen Bericht des Reha-Zentrums für
Hörgeschädigte über eine Rehabilitationsteilnahme in der Zeit vom 12.07. bis
09.08.2003 beigefügt war, lehnte es das Versorgungsamt L mit Bescheid vom
02.02.2005 ab, einen höheren GdB und "RF" festzustellen.
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Mit dem hiergegen eingelegten Widerspruch begehrte der Kläger weiterhin den
Nachteilsausgleich "RF". Er leide seit Jahren an einer an Taubheit grenzenden
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Hörstörung rechts. Wegen eines ständig wahrnehmbaren Tinnitus rechts sowie eines
Tinnitus links bei geringster Lärmentwicklung sei er außerordentlich
geräuschempfindlich und könne selbst bei geringen Umweltgeräuschen einem
Gespräch oder einem Vortrag nicht mehr folgen. Aufgrund seiner gravierenden
neurologischen Behinderung leide er unter regelmäßigen Erschöpfungszuständen. Er
werde sehr schnell müde und schlafe dann zumindest kurz ein, was ihn ebenfalls an
einer Teilnahme von öffentlichen Veranstaltungen hindere.
In dem daraufhin von der Versorgungsverwaltung veranlassten Gutachten des Arztes für
Nervervenheilkunde Dr. B vom 09.06.2005 erachtete der Gutachter die gesundheitlichen
Voraussetzungen für "RF", wie auch einen höheren GdB, nicht für gegeben. Mit
Bescheid vom 12.07.2005 wies die Bezirksregierung Münster den Widerspruch zurück.
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Mit der hiergegen am 18.07.2005 beim Sozialgericht Köln (SG) erhobenen Klage hat der
Kläger weiterhin begehrt, ihm "RF" zu zuerkennen.
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Das SG hat einen Befundbericht der HNO-Ärztin T vom 28.01.2006 eingeholt. Weiter ist
Beweis erhoben worden durch Einholung eines HNO-ärztlichen Zusatzgutachtens des
Dr. C1 vom 25.07.2006 (nach Aktenlage) und eines neurologisch-psychiatrischen
Gutachtens des Dr. H vom 15.08.2006. Die Sachverständigen haben die
gesundheitlichen Voraussetzungen für "RF" verneint.
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Der Kläger hat die Gutachten "als von Lügnern erstellt" bzw. als "Fälschungen"
bezeichnet. Die Gutachten hat er zerschnitten an das SG zurücksendet. Auf die
Terminsmitteilung hat er dem Gericht am 23.10.2006 per E-Mail mitgeteilt, dass er aus
gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage sei, zum Gerichtstermin am 24.10.2006 zu
erscheinen. Er bitte, ihm das Urteil per E-Mail zu übersenden.
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Mit Urteil vom 24.10.2006 hat das SG die Klage abgewiesen. Dabei hat es sich im
Wesentlichen auf die Einschätzung der Sachverständigen gestützt. Das Urteil ist dem
Kläger ausweislich der Postzustellungsurkunde (PZU), die als Bezeichnung das
Aktenzeichen enthielt, nach erfolglosem Zustellungsversuch am 28.11.2006 am
30.11.2006 durch Einwurf in den Briefkasten zugestellt worden.
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Mit E-Mail vom 28.11.2006 und 12.12.2006 hat der Kläger dem SG mitgeteilt, dass er
sich seit dem 01.11.2006 in I / Vietnam aufhalte. Um in Berufung zu gehen, bitte er
erneut, ihm das Urteil an seine E-Mail Anschrift zu senden. Am 13.12.2006 hat das SG
Köln dem Kläger das Urteil per E-Mail übersandt. Mit weiterer E-Mail vom 17.01.2007
hat der Kläger nach Hinweis des Gerichts, dass die E-Mail vom 28.11.2006 keine
Berufung, sondern nur die Andeutung, in Berufung gehen zu wollen, darstelle,
klargestellt, dass er Berufung einlege.
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Als Anlage zu einer weiteren E-Mail vom 08.04.2007 hat der Kläger nach seiner
Rückkehr aus Vietnam die Berufungsbegründung übersandt. Er meint, das SG habe
sein Vorbringen nicht berücksichtigt. Bei öffentlichen Veranstaltungen habe er, wie auch
sonst, erhebliche Kommunikationsprobleme. Auch sei er bei öffentlichen
Veranstaltungen motorisch unruhig und es bestehe die Gefahr, dass er aggressiv werde.
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Mit Verfügung vom 17.04.2008 hat der Vorsitzende des Senats dem Kläger die Sach-
und Rechtslage dargestellt. Daraufhin hat der Kläger dem Landessozialgericht über das
Sozialgericht Köln erneut den Schriftsatz vom 08.04.2004, jetzt unterschrieben,
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zugeleitet. Mit E-Mail vom 09.05.2008 hat er den Senat für befangen erklärt und anregt,
die Streitsache einem anderen Senat und anderen Richtern zu übergeben.
Über den Termin zur mündlichen Verhandlung am 14.05.2008 ist der Kläger
ausweislich der Postzustellungsurkunde vom 24.04.2008 benachrichtigt worden. Zum
Termin ist für den Kläger niemand erschienen.
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Der Kläger beantragt schriftlich sinngemäß,
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das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 24.10.2006 zu ändern und den Beklagten unter
Abänderung des Bescheides vom 02.02.2005 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 12.07.2005 zu verurteilen, die gesundheitlichen
Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "RF" festzustellen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Zur weiteren Sachverhaltsdarstellung und bezüglich des Vorbringens der Beteiligten im
Einzelnen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte des Beklagten
Bezug genommen. Diese Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
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Entscheidungsgründe:
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Der Senat konnte die Streitsache in der Besetzung, wie sie der
Geschäftsverteilungsplan vorsieht, verhandeln und entscheiden, obwohl der Kläger am
09.05.2008 einen Befangenheitsantrag gestellt hat. Über das Ablehnungsgesuch konnte
der Senat auch zugleich mit der Entscheidung über die Berufung befinden (BSG,
Beschluss vom 16.02.2001, B 11 AL 19/01 B = SozSich 2003, 397; BVerwG, Beschluss
vom 14.06.2005, 6 C 11/05), weil der Kläger sein Ablehnungsrecht missbraucht hat und
der Antrag damit unzulässig war. Insbesondere bedurfte es vor der mündlichen
Verhandlung keiner förmlichen Entscheidung über den Befangenheitsantrag; denn ein
offenbar rechtsmissbräuchlich gestelltes Befangenheitsgesuch macht eine förmliche
Entscheidung über dieses nicht erforderlich (BSG, Urteil vom 26.04.1989 - 11 BAr 33/88
-; BVerfGE 72, 51 ff (59); Meyer/Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage München
2005, § 60 Rdnr. 10 d m.w.N.). Bei einem rechtsmissbräuchlichen Befangenheitsantrag
ist eine dienstliche Äußerung der abgelehnten Richter gemäß § 60 Abs. 1 S. 1 SGG
entbehrlich.
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Der Befangenheitsantrag des Klägers ist in diesem Sinne rechtsmissbräuchlich. Das ist
insbesondere dann der Fall, wenn das Ablehnungsgesuch nicht ausreichend
individualisiert ist und/oder keinerlei substantiierte Tatsachen vorgetragen werden
(BVerwG NJW 97, 3327). Ein Ablehnungsgesuch muss nach § 60 Abs. 1 S. 1 SGG
i.V.m. § 42 Abs. 2, 44 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) Befangenheitsgründe nennen
und glaubhaft machen, die sich individuell auf den oder die an der zu treffenden
Entscheidung beteiligten Richter beziehen (vgl. BVerfGE 11, 1,5; 37, 67, 75; BSG SozR
Nr.5 zu § 42 ZPO; BSG SozR 1500 § 60 Nr.3; Meyer/Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., §
60 Rdnr. 10 c). Diesen Anforderungen wird der Befangenheitsantrag nicht gerecht. Der
zum Aktenzeichen L 6 (7) 192/06 eingereichte "Befangenheitsantrag" enthält zur
Konkretisierung der abgelehnten Personen lediglich die Anrede "Sehr geehrte Damen
und Herren" und in der Begründung lediglich die Anregung, "die Streitsache einem
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anderen Senat und anderen Richtern" zu übergeben. Augenscheinlich meint der Kläger
alle Richterinnen und Richter des 6. Senates. Das Ablehnungsgesuch enthält insoweit
jedoch weder konkrete, auf jeden der "gemeinten" Richter bezogenen
Ablehnungsgründe, noch werden konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle
Befangenheit in der aufgrund der bevorstehenden mündlichen Verhandlung am
14.05.2008 voraussichtlich ergehenden Kollegialentscheidung angeführt. Der Kläger
hat nicht einmal angeführt, das Verhalten der Senatsmitglieder sei im Sinne einer
Voreingenommenheit parteiisch.
Der Senat konnte die Streitsache auch in Abwesenheit des Klägers entscheiden, ohne
seinen Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 62 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) zu verletzen.
Auf diese Möglichkeit ist der Kläger in der ordnungsgemäß zugestellten
Terminsmitteilung ausdrücklich hingewiesen worden (§§ 153 Abs. 1, 110 Abs. 1 S. 2
SGG).
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Richtiger Beklagter im Berufungsverfahren ist seit dem 01.01.2008 nunmehr der für den
Kläger örtlich zuständige Rhein-Erft-Kreis (vgl. zur Kommunalisierung der
Versorgungsverwaltung Urteile des erkennenden Senats vom 12.02.2008 - L 6 SB
101/06 = Rev-Az: B 9 SB 1/08 R -, vom 26.02.2008 = - L 6 SB 35/05 = Rev-Az: B 9 SB
3/08 R -, vom 11.03.2008 - L 6 V 28/07, rechtskräftig -, vom 11.03.2008 - 6 (10) VS 29/07
= Rev-Az: B 9 Vs 1/08 R und vom 11.03.2008 - L 6 V 13/06 = Rev-Az: B 9 VG 1/08 R -;
alle Entscheidungen sind im Internet abgestellt).
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Die Berufung ist zulässig. Sie ist letztlich auch fristgerecht erhoben worden. Allerdings
hat der Kläger mit den verschiedenen E-Mails vom 28.11.2006, 12.12.2006 und vom
08.04.2007 das Rechtsmittel noch nicht wirksam eingelegt. Die E-Mails stellen keine
wirksame, der vorgesehenen Schriftform entsprechende Berufung dar. Bei der E-Mail
handelt es sich um ein elektronisches Dokument. Trotz der Verfügbarkeit moderner
Kommunikationsmittel und dem sich allgemein durch Bürgerfreundlichkeit und fehlende
Formstrenge auszeichnenden sozialrechtlichen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren
müssen für die Wirksamkeit der Klage/Berufung zur Sicherung der Authentizitäts- und
Sicherungsfunktion besondere Anforderungen erfüllt sein. Diese Authentizitätssicherung
wird durch einfache E-Mails nicht gewährleistet (LSG Rheinland-Pfalz, vom 10.09.2007
- L 4 R 447/06 - Viefhues NJW 2005, 1009 ff.; LSG NRW vom 26.04.2007 - L 9 SO 25/06
-; LSG NRW, Urteil vom 15.02.2008 - L 10 SB 53/06 -; Beschluss vom 12.12.2007, - L 19
B 126/07 AS - und vom 24.04.2008 - L 19 AS 3/08 -). Landesrechtliche Regelungen, die
die verfahrenserhebliche Kommunikation (digitaler Signatur) ermöglichen, bestehen in
Nordrhein-Westfalen derzeit nicht (LSG NRW, Urteil vom 26.04.2007 - L 9 SO 25/06).
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Zum Zeitpunkt des Eingangs der vom Kläger erstmals unterzeichneten Berufungsschrift
am 07.05.2008 war die Berufungsfrist noch nicht abgelaufen, da sie mangels wirksamer
Zustellung des angefochtenen Urteils noch gar nicht in Gang gesetzt war. Die
angeordnete Zustellung per Postzustellungsurkunde (PZU) war fehlerhaft, weil auf der
hierüber erstellten PZU das zuzustellende Schriftstück nicht ausreichend konkret
bezeichnet war. Eine Zustellung mittels PZU ist nur dann wirksam, wenn die Sendung
und die PZU jeweils mit der gleichen Bezeichnung versehen sind, die die Identifizierung
der zugestellten Sendung ermöglichen muss. Allein - wie hier - die Angabe des
Aktenzeichens, die durchgängig für den ganzen Aktenvorgang verwendet wird, wird
dem nicht gerecht. Es bedarf daher neben der Angabe des Aktenzeichens des
Vorgangs stets eines weiteren Zusatzes, der das zuzustellende Schriftstück bezeichnet.
Daran fehlte es vorliegend (vgl. hierzu: BFH, Urteile vom 18.03.2004, V R 11/02 und
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vom 12.01.1990, VI R 137/86; VGH München, Beschluss 12 B 95.3687 vom 11. Juli
1996; VG Dresden, Urteil vom 13.03.2003, 14 K 2024/99; VG Frankfurt (Oder), Urteil
vom 10.10.2007, 5 K 1442/05). Da der Kläger das Urteil unstreitig erhalten und die
Berufung auch begründet hat, bedurfte es einer erneuten förmlichen Zustellung nicht.
Dies würde nur zu einer weiteren Verfahrensverzögerung führen.
Die mithin zulässige Berufung ist aber unbegründet.
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Wie vom SG unter zutreffender Würdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme zu
Recht entschieden, kann der Kläger nicht beanspruchen, dass der Beklagte die
gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs
"RF" gemäß § 69 Abs. 4 SGB IX feststellt und das Merkzeichen "RF" gemäß § 3 Abs. 1
Nr. 5 Schwerbehindertenausweisverordnung in den Schwerbehindertenausweis
einträgt. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat auf die ihn
überzeugenden Gründe des angefochtenen Urteils Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG).
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Das Vorbringen des Klägers im Berufungsverfahren rechtfertigt keine andere
Beurteilung. Unter Würdigung der nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens objektiv
nachgewiesenen Befunde sieht der Senat auch unter Berücksichtigung der vom Kläger
erneut geltend gemachten Einwendungen gegen die Gutachten des Dr. C1 und des Dr.
H keinen Anlass, das erstinstanzliche Beweisergebnis in Frage zu stellen. Im Übrigen
verdeutlicht auch der Umstand, dass der Kläger nach Vietnam reisen, sich dort über
Monate aufhalten und im Internet-Café E-Mails absetzen konnte, dass die
gesundheitlichen Voraussetzungen für RF nicht erfüllt sind. Soweit der Kläger erstmals
im Berufungsverfahren behauptet, bei öffentlichen Veranstaltungen werde er motorisch
unruhig und es bestehe die Gefahr, dass er aggressiv werde, findet sich hierfür nach
dem neurologisch-psychiatrischen Gutachtens des Dr. H kein Anhalt. Auch steht diese
Behauptung mit dem früheren Vorbringen des Klägers, wonach er unter regelmäßigen
Erschöpfungszuständen leide, sehr schnell müde werde und dann zumindest kurz
einschlafe, nicht in Einklang.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Der Senat hat die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs.2 Nr.1
oder 2 SGG) nicht als gegeben angesehen.
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