Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 19.10.2006

LSG NRW: aufschiebende wirkung, öffentliches interesse, anfechtungsklage, auflage, beweislast, hauptsache, ausschluss, vollzug, eingriff, wiederholung

Landessozialgericht NRW, L 1 B 29/06 AS
Datum:
19.10.2006
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
1. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 1 B 29/06 AS
Vorinstanz:
Sozialgericht Münster, S 5 AS 52/06 ER
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des
Sozialgerichts Münster vom 11.07.2006 geändert. Die Antragsgegnerin
trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers. Die
Antragsgegnerin hat dem Antragsteller auch die Kosten des
Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe:
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Die zulässige Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat
(Nichtabhilfebeschluss vom 24.07.2006), hat in der Sache Erfolg.
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Nach § 193 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das Gericht, wenn das
Verfahren anders als durch Urteil endet, durch Beschluss zu entscheiden, ob und in
welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Es handelt sich
bei der Kostenentscheidung um eine nach sachgemäßen Ermessen zu treffende
Billigkeitsentscheidung, bei der sämtliche Umstände des Einzelfalls in die
Ermessenserwägungen des Gerichts einzustellen sind. In der Regel entspricht es der
Billigkeit, demjenigen die außergerichtlichen Kosten aufzuerlegen, der unterliegt.
Darüber hinaus kann berücksichtigt werden, welcher der Beteiligten den Rechtsstreit
veranlasst hat (vgl. hierzu Meyer-Ladewig/Leitherer in Meyer-Ladewig,SGG, 8. Auflage
2005, § 193, Rdn. 12a ff.)
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Der vom Antragsteller gestellte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des
Widerspruchs vom 28.02.2006 gegen den Bescheid vom 17.02.2006, mit dem die
Antragsgegnerin das dem Kläger gezahlte Arbeitslosengeld II für die Zeit vom
01.03.2006 bis 31.05.2006 um 30 Prozent (104 Euro) abgesenkt hat, hätte auch im
Rahmen einer gerichtlichen Entscheidung Erfolg gehabt.
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Nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in
den Fällen, in denen - wie hier (vgl. § 39 Nr. 1 des Zweiten Buchs des
Sozialgesetzbuches [SGB II]) - Widerspruch und Anfechtungsklage keine
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aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise
anordnen. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs bzw. der Anfechtungsklage ist
anzuordnen, wenn eine Interessenabwägung ergibt, dass dem privaten
Aussetzungsinteresse gegenüber dem öffentlichen Vollzugsinteresse der Vorrang
einzuräumen ist. Im Vordergrund steht hierbei eine Prüfung der Erfolgsaussichten der
Hauptsache. Auch wenn das Gesetz keine materiellen Kriterien für die Entscheidung
nennt, ist davon auszugehen, dass die aufschiebende Wirkung von Widerspruch
und/oder Anfechtungsklage in den Fällen anzuordnen ist, in denen sich nach vorläufiger
Prüfung der Rechtslage bei summarischer Prüfung der Tatsachenlage der Wegfall oder
die Absenkung voraussichtlich als nicht rechtmäßig erweisen (vgl. hierzu Berlit in LPK-
SGB II, § 31, Rdn. 124, m.w.N.).
Anlässlich der persönlichen Vorsprache am 16.02.2006 hat es der Antragsteller
abgelehnt, eine erneute Eingliederungsvereinbarung zu unterschreiben. Ein solcher
Tatbestand stellt sich als grundsätzlich geeignet dar, um die Sanktionsfolge des § 31
Abs.1 Nr. 1a) SGB II auszulösen. Allerdings lässt sich nicht nachvollziehen, ob während
der persönlichen Vorsprache eine den Erfordernissen des § 31 Abs. 6 Satz 4 SGB II
entsprechende Rechtsfolgenbelehrung erteilt worden ist. Die Rechtsfolgenbelehrung
hat Warn- und Erziehungsfunktionen, darf sich nicht in einer bloßen Formalie oder
formelhaften Wiederholung des Gesetzestextes erschöpfen und muss darüber hinaus
konkret, eindeutig, verständlich, verbindlich und zutreffend die unmittelbaren und
konkreten Auswirkungen eines bestimmten Handelns vor Augen führen (vgl.
Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 10.12.1981 - Az.: 7 RAr 24/81, SozR 4100 §
119 AFG Nr. 18). Ihrem Inhalt nach muss sie über die Absenkung bzw. den Wegfall als
solchen belehren, sowie auf Beginn, Dauer und den Ausschluss von ergänzenden
Sozialhilfeleistungen nach dem Zwölften Buch des Sozialgesetzbuches (SGB XII)
hinweisen. Nicht hinreichend sind in der Vergangenheit erteilte Belehrungen oder
allgemeine Merkblatthinweise (vgl. hierzu BSG, a.a.O). Die objektive Beweislast dafür,
dass eine den Erfordernissen des § 31 Abs. 6 Satz 4 SGB II entsprechende
Rechtsfolgenbelehrung erteilt worden ist, trägt der Träger der Grundsicherung. Denn bei
der Rechtsfolgenbelehrung handelt es sich um ein Element, das Voraussetzung für die
Rechtmäßigkeit des Absenkungsbescheides ist (vgl. Streichsbier in Grube/Wahrendorf,
SGB XII, 1. Auflage 2005, § 31 SGB II, Rdn. 5). Eingreifende Verwaltungsakte können
jedoch dann keinen Bestand haben, wenn die Voraussetzungen für den Eingriff nicht
festgestellt werden können (Leitherer in Meyer-Ladewig, 8. Auflage 2005, § 103, Rdn.
19e).
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Die Antragsgegnerin hat eingeräumt, dass sich aus der Leistungsakte, den
Beratungsvermerken und den verschiedenen Programmen nicht entnehmen lässt, ob
eine den Anforderungen des § 31 Abs. 6 Satz 4 SGB II entsprechende
Rechtsfolgenbelehrung erteilt worden ist (Vermerk vom 03.05.2006). Dem entsprechend
hat sie dem Widerspruch abgeholfen und den angefochtenen Bescheid aufgehoben.
Lässt sich jedoch nicht nachvollziehen, ob eine Rechtsfolgenbelehrung erteilt worden
ist, so wirkt sich dies nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten der
Antragsgegnerin aus.
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In Konstellationen der vorliegenden Art bedarf es keiner weiteren Abwägung des
öffentlichen Vollzugsinteresses mit dem privaten Aussetzungsinteresse, da ein
öffentliches Interesse an dem Vollzug rechtswidriger Bescheide nicht erkennbar ist. Ob
im Übrigen in anderen Sachverhaltskonstellationen im Rahmen des
Abwägungsvorgangs ein besonderer "Anordnungsgrund" zu prüfen ist (vgl. Berlit, a.a.O.
8
§ 31, Rdn. 124) bedarf an dieser Stelle keiner abschließenden Entscheidung.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
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Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 177 SGG).
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