Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 21.11.2003

LSG NRW: vorbehalt des gesetzes, rechtsgrundlage, anfechtungsklage, botschaft, verwaltungsakt, leistungsklage, verfügung, auszahlung, verdacht, fremdbeherrschung

Landessozialgericht NRW, L 13 RJ 19/03
Datum:
21.11.2003
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
13. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 13 RJ 19/03
Vorinstanz:
Sozialgericht Düsseldorf, S 11 RJ 252/02
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des
Sozialgerichts Düsseldorf vom 05. Februar 2003 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch im
zweiten Rechtszug. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
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Streitig ist die Wiederauszahlung der Regelaltersrente des Klägers.
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Der 1928 geborene Kläger lebt in Chile in der Gemeinde Q auf dem früher Colonia D
(CD), jetzt Villa B (VB) genannten Gelände. Die Beklagte hatte ihm mit Bescheid vom
18.5.1990 Regelaltersrente bewilligt. Die Zahlung dieser Rente stellte sie durch
Bescheid vom 29.9.1997 erstmals ein, da aufgrund der in der CD herrschenden
Verhältnisse davon auszugehen sei, dass der Kläger die Zahlungen tatsächlich nicht
erhalte. Im anschließenden Klageverfahren verpflichtete das Sozialgericht Düsseldorf
die Beklagte durch Urteil vom 6.10.1998, die eingestellte Rentenzahlung wieder
aufzunehmen. Berufung und Revision der Beklagten gegen dieses Urteil blieben
erfolglos. Ab September 2000 wurde die Rentenzahlung wieder aufgenommen. Zu
diesem Zeitpunkt betrug die Höhe der Rente 808,55 DM monatlich.
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Mit Schreiben vom 21.5.2002 hörte die Beklagte den Kläger zur beabsichtigten erneuten
Einstellung der Rentenzahlung an: Sie sei hierzu aufgrund eines dilatorischen
Leistungs- verweigerungsrechtes berechtigt. Aufgrund der Verhältnisse in der CD sei
nach wie vor davon auszugehen, dass der Kläger einer auf physischer und psychischer
Zwangseinwirkung beruhenden Fremdeinwirkung unterliege, so dass nicht
sichergestellt sei, dass ihm die Rente wirklich zufliesse. Er könne jedoch den
Gegenbeweis dafür antreten, dass er entgegen den allgemeinkundigen Tatsachen,
anders als die anderen Bewohner der CD ausnahmsweise keiner Fremdbeherrschung
durch die CD unterliege. Der Kläger teilte hierzu mit, dass er seine Rentenzahlung
tatsächlich erhalte und darüber selbständig verfügen könne.
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Durch Bescheid vom 11.07.2002 entschied die Beklagte, dass sie die zukünftigen
monatlichen Rentenzahlungen ab dem 1.07.2002 vorläufig einbehalten werden. Dies
geschehe solange, bis sichergestellt sei, dass die Zahlung an den Kläger zur freien
Verfügung ohne Fremdbestimmung erfolgen könne. Aufgrund der bekannten Tatsachen
sei nach wie vor davon auszugehen, dass die Bewohner der CD der
Fremdbeherrschung unterlägen. Es ergäben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass hier
eine Ausnahmesituation vorliege.
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Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren (Widerspruchsbescheid vom 1.10.2002) hat
der Kläger Klage zum Sozialgericht Düsseldorf erhoben: Die Rente sei ihm
auszuzahlen, denn für die Nichtauszahlung der Rente gebe es keine gesetzliche
Grundlage. Die Entscheidung über die Nichtauszahlung der Rente lasse zudem keine
auf den Einzelfall bezogene Ermessensentscheidung im Hinblick auf seinen konkreten
Fall erkennen. Es werde lediglich eine pauschale Begründung abgegeben. Zudem hätte
ihm im Rahmen der Sachaufklärung zumindest die Möglichkeit gegeben werden
müssen, zum Beispiel eine Erklärung vor der Deutschen Botschaft oder einer ähnlichen
Stelle in Chile abzugeben.
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Der Kläger hat beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 11.7.2002 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides zu verurteilen, seine Altersrente wieder auszuzahlen.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hat ausgeführt, dass sie aufgrund eines dilatorischen
Leistungsverweigerungsrechtes berechtigt sei, die Rente solange nicht auszuzahlen,
wie der Antragsteller dem Einfluss der CD unterläge.
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Das Sozialgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 5.2.2003 die Beklagte antragsgemäß
verurteilt. Eine Rechtsgrundlage für die Nichtauszahlung der Rente fehle. Insbesondere
ergebe sich diese Rechtsgrundlage nicht aus einer Pflichten- kollision. Insoweit
schließe sich die Kammer der Rechtsprechung des 13. Senates des BSG (Urteil vom
13.12.2001 - B 13 RJ 67/99 R -) an. Zudem könne sich die Beklagte auf die mögliche
Beeinträchtigung der Erfüllungswirkung nur berufen, wenn sie bei entsprechenden
Anhaltspunkten zumindest Aufklärungsbemühungen unternommen hätte. Das habe sie
nicht getan. Sie habe lediglich ein allgemein gehaltenes Anhörungsschreiben an den
Kläger übersandt und trotz entsprechender Anfrage nicht mitgeteilt, wie er konkret die
allgemein bestehenden Zweifel ausräumen könne.
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Gegen den am 11.2.2003 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Beklagte am 21.2.2003
Berufung eingelegt: Sie halte auch nach Auswertung der Entscheidung des
Bundessozialgerichts vom 3.4. 2003 - AZ: B 13 RJ 39/02 R - daran fest, dass die
vorläufige Einbehaltung der Rentenleistungen zugunsten des Klägers aus materiell-
rechtlichen Gründen aufgrund einer Pflichten- kollision zu Recht erfolge. Insoweit
nehme sie zunächst Bezug auf ihr erstinstanzielles Vorbringen. Zwar lasse der 13.
Senat des BSG in dem o. g. Urteil Zweifel daran erkennen, ob eine auf einer
Pflichtenkollision beruhende Obhutspflicht als Rechtsgrundlage für die Nichtauszahlung
der Rente herangezogen werden könne. Er lasse es in seiner Entscheidung
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ausdrücklich offen, ob ein Leistungs- verweigerungsrecht aufgrund einer
Pflichtenkollision in Betracht kommen könne. Einer abschließenden Klärung habe es
insoweit nach Ansicht des 13. Senates des BSG nicht bedurft, weil in dem zu
entscheidenden Fall aufgrund der Tatsachenfeststellung keine hinreichenden
Anhaltspunkte für das Bestehen einer derartigen Pflichtenkollision vorgelegen hätten.
Vor diesem Hintergrund stütze sie sich weiterhin auf die Rechtsprechung des 4. Senats
des BSG vom 25.1. 2001 - B 4 RA 48/99 R -, wonach bei Vorliegen einer
Pflichtenkollision dem Rentenver- sicherungsträger ein einstweiliges
Leistungsverweigerungsrecht zustehe und er dies wahrzunehmen habe. Sie mache im
Falle des Klägers geltend, dass eine die Obhutspflicht auslösende Pflichtenkollision
vorliege, wie sie auch der Entscheidung des 4. Senats des BSG zugrunde gelegen
habe. Der Kläger, Bewohner der CD, unterliege fortgesetzt einer auf physischer und
psychischer Zwangswirkung beruhenden Fremdbeherrschung, so dass nicht
sichergestellt sei, dass ihm die Rente tatsächlich zufließe. Zum Beweis hierfür verweise
sie auf den am 13. 11. 2001 im Bundestag eingebrachten Entschließungsantrag
mehrerer Abgeordneter und Fraktionen, in dem u. a. auf die fortdauernden
Menschenrechtsverletzungen hingewiesen werde. Der Antrag zeige, dass sich an den
Verhältnissen in der CD - verglichen mit dem am 25.1.2001 vom 4. Senat des BSG
entschiedenen Fall - nichts geändert habe.
Weiterhin stütze sie sich für diese Behauptung auf ein Schreiben des Auswärtigen
Amtes vom 22. 3. 2002, wonach sich an der Situation in der CD nichts grundlegend
geändert habe.
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Bis zum heutigen Tage sei daher unverändert davon auszugehen, dass die Bewohner
der CD die ihnen zustehenden Rentenleistungen nicht erhalten bzw. nicht frei hierüber
verfügen können. Das von ihr als Zeugen für die Behauptung, dass der Kläger als
Bewohner der CD nicht frei über die ihm zustehenden Rentenbeträge verfügen kann,
benannte Ehepaar T sei Anfang des Jahres 2003 aus der CD (Villa B) geflüchtet und
habe sich laut Mitteilung der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Santiago de
Chile zunächst im Rahmen eines Opfer- und Zeugenschutzprogrammes der
chilenischen Staatsanwaltschaft an einem vertraulich gehaltenen Unterbringungsort ca.
400 km südlich von Santiago auf gehalten. Zwischenzeitlich habe sich das Ehepaar T in
Deutschland niedergelassen. Gegenüber der Botschaft hätten die Eheleute T zum
Ausdruck gebracht, dass sie über die geleisteten Rentenzahlungen nie hätten verfügen
können, sondern die Schecks nur gegenzeichnen und anschließend der Leitung der CD
hätten übergeben müssen.
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Sie rege ferner an, den Kläger in die Botschaft einzuladen und persönlich anzuhören,
ohne dass hierbei die Möglichkeit der Kontrolle oder Einflussnahme für die CD oder
deren Bevollmächtigte bestehe. An dem Gespräch solle ein geeigneter Arzt (z. B.
Psychologe) teilnehmen, der ggf. Stellung dazu nehmen könne, ob Anhaltspunkte dafür
ersichtlich sind, dass der Kläger einer physischen oder psychischen Zwangswirkung
unterliege. Es sei sicherzustellen, dass der Kläger ohne Begleitung, d. h. auch ohne
irgendeinen Bevollmächtigten, erscheine und allein angehört werde.
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Die Beklagte beantragt,
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den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Düsseldorf vom 05. Februar 2003 zu ändern
und die Klage abzuweisen, hilfsweise Beweis zu erheben durch Vernehmung der
Eheleute T zu der Behauptung, dass die Bewohner der Villa B (ehemalige Colonia D)
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und damit auch der Kläger nicht selbständig über ihre Renteneinkünfte verfügen
können.
Der Kläger beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er hält die Berufung gerade auch im Hinblick auf die jüngste Rechtsprechung des
13.Senats des BSG für unbegründet. Sein Bevollmächtigter legt ein persönliches
Schreiben des Klägers vom 18.10.2003 vor. Danach ist der Kläger bereit, seine
Angaben vor einem Vertreter der deutschen Botschaft zu wiederholen. Wegen der
weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Streitakten
und der Verwaltungsakten der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen ist, Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat auf die
Anfechtungsklage zu Recht die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte
zur Weiterzahlung der Rente verurteilt.
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Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage zulässig (§ 54 Abs. 4
SGG). Die Anfechtungsklage ist gegeben, weil die Beklagte die Einstellung der
Rentenzahlung durch Verwaltungsakt (§ 31 SGB X) verfügt hat (vgl. dazu BSG, Urteile
vom 3.4.2003- B 13 RJ 39/02 R- und vom 13.12.2001 - B 13 RJ 67/99 R). Die Beklagte
hat nicht nur inhaltlich eine Regelung im Sinne des § 31 SGB X über die Einbehaltung
der laufenden Rente getroffen , sondern auch die äußere Form eines mit einer
Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Verwaltungsaktes gewählt und den Widerspruch
sachlich beschieden.
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Der Senat bejaht hier auch das Rechtsschutzinteresse für die mit der Anfechtungsklage
verbundene Leistungsklage. Im Regelfall würde zwar die Aufhebung der in das Recht
des Betroffenen eingreifenden Verfügung ausreichen, weil der Betroffene dann aufgrund
des früheren Bewilligungsbescheids einen Anspruch auf Auszahlung der Rente hat.
Unter Berücksichtigung der Vorgeschichte dieses Verfahrens und weil sich die Beklagte
wohl weiterhin unter Bezugnahme auf das Urteil des 4. Senats des BSG vom 25. 1.
2001 für berechtigt hält, die Auszahlung der Rente des Klägers ggfs. auch ohne
Erteilung eines Verwaltungsakts zu verweigern, ist die mit der Anfechtungsklage
verbundene Leistungsklage als zulässig anzusehen (vgl. auch dazu BSG Urteil vom
3.4.2003 -B 13 RJ 39/02 R-).
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Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid vom 11.7.2002 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides ist rechtswidrig, weil eine Rechtsgrundlage für die
Einbehaltung der laufenden Rente fehlt, jedenfalls aber ein Ermessensfehler vorliegt.
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Wegen des Grundsatzes des Gesetzesvorbehalts (Art 20 Abs. 3 GG, § 31 SGB I), der
bei jedem wesentlichen Eingriff in bestehende Rechtspositionen zu beachten ist, ist die
Beklagte ohne eine rechtliche Grundlage nicht berechtigt, dem Kläger die bindend
zugesprochenen Rentenansprüche vorzuenthalten (ausführlich dazu BSG, Urt. vom
13.12.2001- B 13 RJ 67/99 R). Zutreffend hat das Sozialgericht festgestellt, dass es für
die Einbehaltung der laufenden Rente an einer Eingriffsgrundlage fehlt.
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Das BSG hat im Urteil vom 13.12.2001 - B 13 RJ 67/98 R- auf mögliche
Fallgestaltungen hingewiesen, bei denen nach § 372 des Bürgerlichen Gesetzbuches
(BGB) eine Hinterlegung von Geld zulässig sein könnte. Wie in dem vom BSG (a.a.O.)
entschiedenen Falle ist eine derartige Fallgestaltung auch hier nicht gegeben. Weder
liegen Anhaltspunkte für eine Geschäfts- unfähigkeit des Klägers vor, noch hat die
Beklagte vorgetragen, es bestehe die Möglichkeit, dass der Kläger seine, die
Zahlungsweise der Rente betreffende Willenserklärungen (vgl § 47 SGB I) nach §§ 119
ff BGB anfechten und geltend machen könne, dass er die Rentenbeträge nicht erhalten
habe. Im Gegenteil trägt er durch seinen Prozessbevollmächtigten gerade vor, er erhalte
die Rentenzahlungen und könne über sie verfügen.
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Die Beklagte kann hier die Rechtsgrundlage für ihren Verwaltungsakt auch nicht aus
einer Pflichtenkollision herleiten. Der erkennende Senat macht sich insoweit die
Bedenken des BSG im Urteil vom 3.4.2003- B 13 RJ 39/02 R- zueigen. Das BSG führt
dort aus: "Indem die Beklagte die verfügte Nichtauszahlung der Rente auf das Bestehen
einer Pflichtenkollision stützt, erscheint bereits zweifelhaft, ob in einem förmlichen
Verwaltungsverfahren eine wie immer geartete Pflichtenkollision als Rechtsgrundlage
für einen Eingriff in eine bestehende Rechtsposition den strengen Anforderungen
genügen kann, die sich aus dem Vorbehalt des Gesetzes ergeben. Aus § 2 und § 17
Abs. 2 SGB I dürfte sich eine die Pflichtenkollision auslösende Obhutspflicht, die der
Zahlungspflicht entgegenstehen könnte, schon deshalb nicht herleiten lassen, weil das
vorhandene rechtliche Instrumentarium zur Konfliktlösung ausreicht. So stehen dem
Rentenversicherungsträger zur Überwachung der Zahlungsvoraussetzungen für die
bewilligte Leistung insbesondere die §§ 60 ff SGB I zur Verfügung (Urteil des Senats
vom 5. April 2000 - B 5 RJ 38/99 R - BSGE 86, 107 = SozR 3-1200 § 2 Nr 1). Ist ein
Rentenversicherungsträger aus tatsächlichen Gründen gehindert, die Rente
auszuzahlen, ist in erster Linie § 10 der Verordnung über die Wahrnehmung von
Aufgaben der Rentenversicherungsträger und anderer Sozialversicherungsträger durch
den Rentendienst der deutschen Bundespost POSTDIENST
(Postrentendienstverordnung - PostRDV) vom 28. Juli 1994 (BGBl I 1867) einschlägig,
der das Verfahren bei nicht ausführbaren Zahlungen regelt (vgl. dazu auch §§ 119 f
SGB VI sowie Senatsurteil vom 13. Dezember 2001, a.a.O.). Soweit sich über das
vorhandene gesetzliche Instrumentarium hinaus gleichwohl ein Bedarf für weitere, die
Zahlungspflichten betreffende Einschränkungen ergeben sollte, wäre es Sache des
Gesetzgebers, entsprechende Regelungen zu erlassen."
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Auch wenn, wie die Beklagte zutreffend anmerkt, das BSG die abschließende Klärung
der Problematik der fraglichen Existenz einer aus einer Pflichtenkollision abgeleiteten
Rechtsgrundlage im Urteil vom 3.4.2003 letztlich für nicht erforderlich gehalten hat, weil
im zu entscheidenden Falle eine Pflichtenkollision jedenfalls nicht vorgelegen habe,
hält der erkennende Senat die Ausführungen des BSG nicht nur für zutreffend und
überzeugend, sondern auch für eindeutig.
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Selbst wenn man die Möglichkeit eines Leistungs- verweigerungsrechtes aufgrund einer
Pflichtentenkollision unterstellen würde, wäre der angefochtene Bescheid rechtswidrig,
weil die Beklagte sich ohne konkrete auf den Kläger bezogene Ermittlung für ihr
Leistungsverweigerungsrecht auf die nach ihrer Ansicht bekannten Lebensumstände
berufen hat und bei ihrer Entscheidung kein Ermessen ausgeübt hat.
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Will man die Einbehaltung der Rente als im Gesetz nicht ausdrücklich geregeltes
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Instrumentarium dann zulassen, wenn die zur Verfügung stehenden gesetzlich
normierten Möglichkeiten ( s. o.) nicht geeignet sind oder nicht ausreichen und anders
nicht verhindert werden kann, dass fremde Personen (hier z.B. die Führung der
ehemaligen CD) sich gegen den Willen eines unterdrückten und seiner Freiheit
beraubten Berechtigten in den Besitz der Rente setzen, muss man verlangen, dass die
Voraussetzungen für diese (fraglichen) Sonderbefugnisse im Einzelfall geprüft und
festgestellt worden sind. Der 4. Senat des BSG führt dazu im Urteil vom 25.1.2001 - B 4
RA 48/99 R - auf das die Beklagte sich beruft, aus: Wenn der Versicherungsträger
aufgrund bestimmter Tatsachen den dringenden Verdacht habe, dass ein Fremdzugriff
auf die Rente vorliege, müsse er unverzüglich aufklären, ob der Verdacht unbegründet
ist oder die widerrechtliche Fremdbeeinflussung gegeben ist. An dieser Aufklärung der
Fremdeinwirkung habe der Berechtigte - soweit überhaupt möglich- gemäß §§ 60 bis
65a SGB I mitzuwirken. Die vom 4. Senat des BSG angenommene Obhutspflicht
entstehe, sobald aufgrund der Vorermittlungen für den Träger der dringende Verdacht
oder die Gewissheit eines Fremdeingriffs feststehe. Die Beklagte hat hier aber jegliche
Vorermittlung unterlassen. Sie konnte durch die bloße - pauschale - Behauptung einer
Pflichtenkollision ohne entsprechende individuelle Prüfung der aktuellen Verhältnisse
des Klägers in der Villa C auch nicht den Kläger mit der objektiven Beweispflicht
belasten (Wenn man dem 4.Senat des BSG insoweit überhaupt folgen möchte), zumal
der Kläger im Anhörungsverfahren Stellung genommen hatte, ohne dass ihm ein
konkreter Weg zur Erfüllung der von der Beklagten aufgestellten Anforderungen
bezeichnet oder auch nur angedeutet worden wäre.
Der Beweisantrag der Beklagten zielt nun darauf, die maßgeblichen Umstände
nachträglich zu ermitteln. Es spricht hier bereits viel dafür, dass es sich dabei um einen
Ausforschungsbeweis oder einen Antrag auf Ermittlungen "ins Blaue" handelt. Ob in
zweiter Instanz ein hinreichender Anfangsverdacht für Ermittlungen im Einzelfall
dargelegt worden ist, kann der Senat aber dahin gestellt sein lassen, denn der
angefochtene Verwaltungsakt ist bereits (auch) deshalb rechtswidrig, weil die Beklagte
ihr Ermessen nicht ausgeübt hat.
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Die Entscheidung der Beklagten, trotz eines durch bestandskräftigen Bescheid
anerkannten Rentenanspruchs des Klägers die Rente vorläufig nicht auszuzahlen,
bedarf zur Überzeugung des Senats der Ausübung des Ermessens. Bereits die
Versagung nach §§ 60 ff. SGB I, die alternativ in Betracht gekommen wäre, ist eine
Ermessensentscheidung. Wenn die Beklagte von dem Instrument der Versagung keinen
Gebrauch machen will oder meint, es sei nicht ausreichend oder nicht geeignet und sie
auf die von ihr aus der Obhutspflicht hergeleitete Berechtigung, die Auszahlung zu
verweigern zurückgreifen will, muss es sich auch hierbei zumindest um eine
Entscheidung handeln, die einer Ermessensabwägung bedarf. So hat auch der 4. Senat
in der Entscheidung vom 25.1.2001 - B 4 RA 48/99 R -, auf welche die Beklagte sich
maßgeblich stützen möchte, ausgeführt, dass im Falle einer Pflichtenkollision der Träger
nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden habe, ob er der Zahlungspflicht oder
der Obhutspflicht zur Sicherung des Eigentum den Vorrang gebe. Im angefochtenen
Verwaltungsakt fehlt aber ebenso wie im Widerspruchsbescheid die Wiedergabe von
Erwägungen zur Mittelwahl und zur Abwägung von Vor- und Nachteilen der denkbaren
Maßnahmen (vgl. §§ 35,39 SGB X). Der Fehler liegt hier in der Nichtausübung des
Ermessens. Selbst wenn man in der Wahl der Einbehaltung der Rente anstelle der
Versagung eine Auswahlentscheidung sehen wollte, würde es an der erforderlichen
Begründung im Verwaltungsakt fehlen und läge, weil die Beklagte den individuellen
Sachverhalt nicht aufgeklärt hatte, ein Ermessensfehlgebrauch vor, denn eine
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ordnungsgemäße Ermessensentscheidung ist nur unter Berücksichtigung aller
relevanten Umstände möglich.
Die mit der Anfechtungsklage zulässig verbundene Leistungsklage ist bereits deshalb
begründet, weil der Kläger nach Aufhebung der angefochtenen Bescheide Anspruch auf
Auszahlung der Rente entsprechend dem ursprünglichen Bewilligungsbescheid vom
18.5.1990 hat.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Anlass, die Revision zuzulassen, hat nicht bestanden.
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